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# taz.de -- Polizeigewalt in Dessau: Sein Name war Rose
> Ein Familienvater stirbt 1997 schwerverletzt, kurz nachdem er in einem
> Dessauer Polizeirevier war. Jetzt zeigen seine Angehörigen vier
> Polizisten an.
Bild: Hans-Jürgen Rose, Anfang der 1990er Jahre
Dass es schlecht aussah, das hatte Michael N. sofort erkannt. „Ich hab
gleich gesagt, Mensch, hoffentlich hat der keine inneren Verletzungen oder
was.“ In der Nacht auf den 7. Dezember 1997 wird der Polizist N. zu einem
Wohnblock in der Dessauer Innenstadt gerufen. Schwer verletzt liegt vor dem
Haus ein Mann, nur einen Steinwurf entfernt von dem Revier, in dem N.
Dienst tat. „Der war mir fast am Abnippeln, ich musste den ja am Leben
halten.“
N. ist heute Pensionär. Er steht im engen Flur eines Mietshauses in Dessau,
in blauem Camp-David-Sweatshirt und Jeans, drahtig, ein Ex-Kampfsportler,
Motorradfahrer. Fast eine Stunde spricht er mit der taz und berichtet von
dieser Nacht. „Es war schweinekalt, der hat geklappert wie ein Maikäfer.“
Als Michael N. 2013 das letzte Mal zu den Ereignissen jener Nacht vernommen
wird, kann er sich wichtige Punkte „nicht mehr in seine Erinnerung
zurückholen“, so notiert es der Staatsanwalt. Aber heute, an diesem Freitag
im März, ist die Erinnerung wieder da. Er habe Verstärkung gerufen, sagt
er. „Ich hab gleich gesagt, alles ran hier, was ranzuholen ist.“
Es dauert eine halbe Stunde, bis der Rettungswagen kommt. 28 Stunden
später, um 9.25 Uhr am 8. Dezember, stirbt der Mann im Städtischen Klinikum
Dessau an inneren Verletzungen, die kurz vor seinem Tod eine
Querschnittslähmung verursachen, übersät mit tiefen Hautunterblutungen,
zerquetschtem Hoden, Lungenabriss, von Schlägen auf den Kiefer waren Zähne
ins Gesicht durchgestoßen, ein Lendenwirbel so zertrümmert, dass der
Wirbelkanal offen liegt. Der Name des Toten war Hans-Jürgen Rose, ein
Maschinenbauingenieur aus Wolfen nahe Dessau. Als er stirbt, ist er 36
Jahre alt, Vater dreier Kinder.
## Einer von drei Toten auf diesem Polizeirevier
Vier Stunden bevor Michael N. ihn vor dem Wohnblock Wolfgangstraße 15
findet, war Rose von Polizisten in das nahe gelegene Dessauer Polizeirevier
in der Wolfgangstraße 25 gebracht worden, wegen Trunkenheit am Steuer.
Rose ist einer von drei Menschen, die zwischen 1997 und 2005 sterben,
nachdem oder während sie auf diesen Polizeirevier waren: 2002 wird der
alkoholkranke Mario Bichtemann mit einem Schädelbasisbruch in der
Ausnüchterungszelle 5 des Reviers gefunden. [1][2005 verbrennt der Sierra
Leoner Oury Jalloh in derselben Zelle.] Der wegen fahrlässiger Tötung
Jallohs angeklagte und 2008 freigesprochene Polizeibeamte Hans-Ulrich M.
ist auch in der Nacht im Revier im Dienst, in der Rose so schwer verletzt
wird.
Roses Familie will die Sache nicht ruhen lassen. Am Donnerstag hat sie vier
Polizeibeamte aus Dessau, Kollegen von Michael N., wegen Mordes an Rose
angezeigt – beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe.
Zwei Mal hat die Justiz die Ermittlungen in der Sache eingestellt, erst
2002, dann 2014. Es sei „nicht auszuschließen“, dass Unbekannte Rose
totprügelten oder dass er ohne Fremdeinwirkung einfach aus dem Fenster
fiel, heißt es dazu im letzten Einstellungsvermerk der Staatsanwaltschaft.
Doch jetzt wurden neue Fakten bekannt, die daran Zweifel aufkommen lassen:
Offenbar manipulierte Einsatzprotokolle, Ermittlungsakten, die auf ein
völlig anderes Geschehen hindeuten – und Zeugenaussagen.
## Unmöglicher Geschehensablauf
Viele der neuen Erkenntnisse gehen auf die jahrelange Investigation einer
Gruppe namens [2][Recherche Zentrum] zurück, die aus der Initiative
Gedenken an Oury Jalloh hervorgegangen ist. Die mit privaten Spenden
finanzierte Gruppe von Investigativjournalist*innen, Filmemacher*innen
und Aktivist*innen hat sich der „Aufklärung von möglichen
Polizeimorden“ verschrieben. Im Fall Rose hat sie viele der Vorgänge
rekonstruiert – und die Anzeige mit der Familie gemeinsam gestellt.
„Wir hoffen, etwas Gerechtigkeit zu bekommen“, sagte Iris Rose am
Donnerstag auf einer Pressekonferenz, bei der das Recherche Zentrum die
Indizien präsentierte, die nun zur Anzeige gegen die Polizisten führten.
Iris Rose ist mit ihrer Tochter gekommen. Fast 27 Jahre lebt die Familie
damit, nicht zu wissen, wie ihr Ex-Mann und Vater starb. „All die Jahre
wurden wir belogen“, sagte Iris Rose. „Aber die Täter haben ihr Leben noch
und zeigen keine Reue.“
Unstrittig ist, dass der damals arbeitslose Maschinenbauingenieur Rose in
jener Nacht mit einem befreundeten Paar in einer Dessauer Kneipe sitzt.
Gegen 1 Uhr fährt er von dort betrunken mit dem Auto zur Zerbster Straße
39. Hier wohnt das Pärchen, bei dem der von seiner Frau getrennt lebende
Rose damals untergekommen war. Beim Einparken rammt er ein Auto. Dessen
Besitzer kommt auf die Straße, nimmt Rose den Schlüssel weg. Eine Passantin
ruft die Polizei. Die Beamten Thomas B. und Manfred H. erscheinen, lassen
Rose pusten. Sie stellen 1,98 Promille fest, nehmen ihn zur Blutabnahme mit
auf das Polizeirevier. Bis 2:55 Uhr nimmt der hinzugerufene Polizeiarzt
Andreas Blodau Rose Blut ab. So geht es aus den Ermittlungsakten hervor.
Doch was dem so genannten Lagefilm des Reviers – eine Art Logbuch, in dem
die Geschehnisse einer Schicht eingetragen werden – zufolge dann geschehen
sein soll, ist praktisch unmöglich.
Demnach soll Rose um 3.01 Uhr entlassen worden sein und dabei angedeutet
haben, wieder fahren zu wollen. Der Polizist Thomas B. schickt zwei
Streifenbeamte zur Zerbster Straße, wo noch Roses Auto steht. Die Beamten
Udo H. und Mario N. wollen Rose bereits um 3.02 Uhr in seinem Auto fahrend
sehen, obwohl es zu Fuß mindestens sieben Minuten dorthin dauert. Statt den
Betrunkenen aufzuhalten, wollen sie zugeschaut haben, wie er in
Schlangenlinien wegfährt. Sie seien ihm gefolgt, zwei Kilometer
stadtauswärts. Um 3.08 Uhr wollen sie ihn am Wallwitzhafen an der
Muldebrücke angehalten, ihm den Schlüssel weggenommen und ihn erneut aufs
Revier gebracht haben.
Die erst später aufgetauchte Anzeige wegen dieser angeblichen zweiten
Trunkenheitsfahrt soll um 3.10 Uhr geschrieben worden sein – nur zwei
Minuten, nachdem Rose weit außerhalb der Stadt angehalten worden sein soll
und nur neun Minuten nach der ersten Entlassung. Schon um 3.35 Uhr soll
Rose dann das zweite Mal aus dem Polizeirevier entlassen worden sein.
## Von Unbekannten überfallen?
Danach, so die These der Justiz, könnte Rose von Unbekannten überfallen
worden sein. Oder er könnte sich Zugang zum Haus Wolfgangstraße 15
verschafft haben und dort aus dem Fenster gefallen oder gestoßen worden
sein.
Um 5 Uhr meldet dann ein Anwohner, dass ein Mann vor seinem Haus liegt. Der
Schichtleiter schickt Michael N.
Nun könnten die Uhrzeiten im Lagefilm des Polizeireviers einfach falsch
eingetragen worden sein. Und die Beamten Udo H. und Mario N. könnten Rose
an seiner zweiten Trunkenheitsfahrt in dieser Nacht nicht gehindert haben,
obwohl sie das hätten tun müssen, warum auch immer.
Doch es gibt ein vom Recherche Zentrum in Auftrag gegebenes Gutachten des
Londoner Forensikers John Richard Welch. Der arbeitete 38 Jahre in der
Abteilung für Dokumentenforensik des kriminaltechnischen Labors der
Metropolitan Police und ist heute als Sachverständiger tätig. Im Oktober
2023 hat Welch die Rose-Akte untersucht. Das Ergebnis: Alle
Lagefilm-Einträge zu Rose, von 1.11 Uhr morgen bis 15 Uhr an jenem Tag,
seien manipuliert. Die „Unkenntlichmachung einiger Einträge (…) ist
offensichtlich“, so Welch. Es gebe „Hinweis auf andere Änderungen, die
heimlich vorgenommen wurden“ (…). Mit Schreibmaschine sei auf
„eingetrocknete weiße Korrekturflüssigkeit“ geschrieben worden.
Aber weshalb?
## „Zahlreiche stumpfe Gewalteinwirkungen“
Um 3.20 Uhr – rund 25 Minuten nachdem Rose angeblich zum ersten Mal
entlassen wurde – sieht der Polizeiarzt Andreas Blodau Rose noch einmal im
Treppenhaus des Reviers, begleitet von Polizisten. Eine womöglich
erfundene, zweite Trunkenheitsfahrt könnte dazu dienen, die Begegnung
Blodaus mit Rose zu dieser Zeit zu erklären.
Als Rose am 8. Dezember in der Städtischen Klinik stirbt, reicht die
Anästhesistin und Intensivmedizinerin Barbara Fiedler eine Anzeige zur
Todesermittlung bei der Dessauer Kripo ein. Per Formular beantragt sie eine
Autopsie. Das ist das Standardvorgehen, wenn ein Tod keine natürliche
Ursache hat.
Die Polizeidirektion beauftragt die Hallenser Rechtsmedizinerin Uta
Romanowski, zu klären, ob die Verletzungen auf „Verkehrsunfall?, Sturz aus
der Höhe?, Misshandlung?, Kombination?“ zurückzuführen sind. Zudem soll
Romanowski prüfen, ob die Verletzungen am Rücken mit einem Schlagstock
entstanden sein können. Die Ermittler übergeben ihr drei verschiedene
Schlagstock-Modelle – jene, die die Beamten auf dem Dessauer Revier im
Einsatz hatten.
Romanowski kommt zu dem Schluss, dass die „zahlreichen stumpfen
Gewalteinwirkungen“, die zu Roses Tod führten, „als Folge von
Misshandlungen anzusehen sind“. Die parallelen Blutungen auf dem Rücken
entstünden „typischerweise durch Stockschläge“. Einer der drei ihr
übergebenen Polizei-Schlagstöcke weise die Breite der Blutungsstreifen von
2,5 Zentimetern auf und wäre „am ehesten (…) geeignet, diese Verletzungen
zu verursachen“.
Am Schulterblatt, am Rücken, an der Innenseiten der Beine und am Hoden
seien Verletzungen erkennbar, bei denen „am ehesten an Fußtritte zu denken
ist“.
Eine „besonders schwere Gewalteinwirkung“ hingegen sei so intensiv, dass
sie durch Schläge oder Tritte nicht zu erklären sei. Hier komme am ehesten
ein Sturz aus der Höhe infrage. Aber: Das „Gesamtverletzungsmuster“, das
Fehlen von Kopfverletzungen und bestimmten Abschürfungen, spreche dagegen,
dass Rose so aus dem Fenster fiel, wie er aufgefunden wurde. Die
Verletzungen wären am ehesten so zu erklären, dass er aus der Höhe auf
einen „prominenten Gegenstand“ aufprallte. Doch die Gegebenheiten an der
Hauswand von Roses Fundort, seien „mit Sicherheit als Verletzungsursache
auszuschließen“. Wäre Rose dort heruntergefallen, dann sähe die Leiche
anders aus, so schließen Romanowski und der Leiter der Gerichtsmedizin
Halle.
## „Nie eine Erklärung bekommen“
Ermittlerfotos von einer Treppe, die offenbar zum Speisesaal im Dessauer
Polizeirevier führt, zeigen das Ende des Treppengeländers mit einem großen
Knauf.
Mit der Presse will Romanowski heute nicht sprechen. Doch in einem
aufgezeichneten Gespräch mit dem Recherche Zentrum, das die taz anhören
konnte, sagt sie: „Die Befunde waren eigentlich so eindeutig, dass man da
kein langes Überlegen mehr gebraucht hatte.“ Der Gedanke daran habe „uns
nie so richtig losgelassen“ und sie „etliche Jahre beschäftigt.“ Die
Mediziner hätten „eigentlich nie eine Erklärung bekommen, wer das
verursacht hat“, so Romanowski. Sie habe sich gewünscht, „dass eines Tages
jemand von der Staatsanwaltschaft oder von der Ermittlungsbehörde kommt und
sagt: Also, Sie hatten recht, wir wissen jetzt, wie es gewesen ist, der und
der hat in dieser Situation diese Verletzung verursacht, auf den Herrn Rose
eingeschlagen, so hätte ich mir gewünscht, dass der Fall geklärt wird.“
Was also geschah, bevor Rose starb?
Rose galt als aufbrausend. Er soll die Angewohnheit gehabt haben, Menschen
zu provozieren.
Laut Anzeige der Familie beim Generalbundesanwalt habe Rose das Revier
nicht verlassen. Stattdessen sei womöglich ein Streit mit ihm eskaliert.
Polizisten hätten Rose schwer misshandelt. Anschließend hätten sie ihn vor
das Haus in der Wolfgangstraße gebracht, um den Verdacht auf Unbekannte zu
lenken.
## Speisesaal als „Aufenthaltsort des Rose“?
In der Rose-Akte finden sich seitenweise Fotos aus dem Gebäude des
Polizeireviers. Die Todesermittler machten die Aufnahmen am 15. Dezember
1997. Ihre Bildmappe ist überschrieben mit „Räumlichkeiten Polizeirevier
Dessau Aufenthaltsort des Rose“. Doch sie zeigen weder eine Gewahrsamszelle
noch einen Vernehmungsraum. Stattdessen sind Steinsäulen im Speisesaal
fotografiert, durchnummeriert, mit angelegten Maßstäben. Aus der Akte geht
hervor, dass von diesen Säulen auch DNA-Abstriche genommen wurden. Es
handelt sich um den Speisesaal für die Beamten, der über eine Treppe vom
Rest des Reviers getrennt ist.
Warum wird dieser Raum als „Aufenthaltsort des Rose“ untersucht? Wurde Rose
dorthin gebracht, an eine der Säulen gekettet und misshandelt?
Der pensionierte Polizist Michael N. sagt, dass es „Anfang der 1990er
Jahre“ Usus gewesen sei, im Speisesaal Menschen anzuketten, weil es damals
„zu viele Gefangene“ gegeben habe. „Irgendwie müssen wir die ja fixieren…
Später sei das aber nicht mehr so gehandhabt worden.
Eine weitere Ungereimtheit sind die Anzeigen gegen Rose. Als Ermittler
Roses Tod untersuchen, liegen diese nicht vor. Erst später werden sie der
Akte beigefügt.
Die erste – wegen des Verkehrsunfalls und Fahren unter Alkoholeinfluss –
soll von dem Polizeibeamten Thomas B. um 2.51 Uhr am Computer erstellt
worden sein. Aber: Die Computer-Logdaten des Reviers für jenen Tag sind
offenbar nicht auffindbar. Stattdessen legt ein Polizeihauptkommissar Abel,
der EDV-Beauftragte des Reviers, den Todesermittlern eine offensichtlich
handgeschriebene Excel-Tabelle mit den Logdaten der Diensthabenden vor. Sie
soll belegen, dass Thomas B. tatsächlich zu jener Zeit am Rechner saß. Doch
während bei allen anderen Einträgen der Tabelle das korrekte fragliche
Datum 7. Dezember steht, steht in der Zeile von Thomas B. der 6. Dezember.
Die Ermittler fragen den EDV-Beauftragten Abel, wie das möglich sei. Dessen
Antwort: ein „Computerfehler“. Den Ermittlern reicht die Auskunft, wie sie
handschriftlich vermerken.
## Herr P. will nichts mehr sagen
Die Ermittlungen leitete damals zuerst der Kriminalkommissar Uwe P. Er
ermittelte zunächst gegen die eigenen Kollegen. Die Witwe Iris Rose sagt,
dass Uwe P. ihr später in einem persönlichen Gespräch gesagt habe, die
Polizei wisse, „wer diese Täter sind, aber sie könnten dagegen nichts
machen“, so Iris Rose.
Uwe P. lebt heute als Pensionär in einem kleinen Dorf auf dem Land, nahe
Dessau. Statt die Tür zu öffnen, stellt er sich hinter das Fenster im
Hochparterre, stellt das Fenster auf Kipp und sagt nur sehr lang: „Ja?“
Eine Erklärung unterbricht er sofort und sagt, er werde zu der Sache „gar
nichts mehr sagen“ und damit sei „doch alles gesagt“. Dann schließt er d…
Fenster. Man wüsste gern von ihm, was er Iris Rose sagte, warum er die
Säulen im Speisesaal fotografieren ließ, was er zu den Manipulationen im
Einsatzjournal sagt, zum Gutachten der Rechtsmedizin. Doch auf einen Brief
mit Nachfragen und auf Nachrichten auf dem Anrufbeantworter reagiert er
nicht.
Der wohl erste Hinweis auf mögliche Polizeigewalt stammt von dem Polizisten
Michael N. Noch am Morgen des 7. Dezember gibt er zu Protokoll, in der
vorigen Nacht etwas Merkwürdiges gehört zu haben. „Ich hatte da schon
Informationen, die hatten den vorher schon“, sagt er heute dazu. Durch die
Wand zum Pausenraum des Polizeireviers hätten sich Kollegen unterhalten.
„Der wollte mir doch ein paar in die Fresse hauen, da hab ich ihm eine
reingezogen“, so zitiert ein Staatsanwalt aus Michael N.s erster
Vernehmung. Der taz bestätigt Michael N., an jenem Morgen aus dem Nebenraum
sinngemäß einen solchen Satz gehört zu haben. „Den haben wir ordentlich
verrollt“, sagt er, der Satz sei gefallen. Die Stimme habe er aber nicht
erkannt.
Noch etwas ist auffällig: Als Michael N. in jener Nacht mit dem schwer
verletzten Rose auf den Krankenwagen wartet, tauchen die beiden Beamten
auf, die Rose wenige Stunden früher aufs Revier gebracht hatten: Thomas B.
und Manfred H. Michael N. sagt später, sie wirkten „sichtlich nervös“. Er
fragt die beiden, ob sie Rose kennen – sie verneinen. „Wir haben ihn nicht
erkannt“, sagt Manfred H. auch später bei der Staatsanwaltschaft. Sie
hätten lediglich eine Wolldecke bringen wollen, nachdem sie Michael N.s
Funkspruch gehört hatten.
N. gibt auch das Erscheinen von B. und H. zu Protokoll. Etwa 14 Tage lang
sei er danach mit Vernehmungen und Aussagen beschäftigt gewesen, erzählt
Michael N. heute. Am Tag von Roses Tod sei er am Nachmittag, während er
nach seiner Nachtschicht schlief, zur Vernehmung abgeholt worden. „Da sind
die hier angedonnert und haben gesagt: ‚Micha, komm mal mit.‘“ Später se…
ihm die Bilder der Leiche vorgelegt worden. „Die haben mich gefragt: 'Hast
du den da verwichst?’“ Michael N., der Hinweise auf mögliches Fehlverhalten
von Kollegen gibt, wird verdächtigt. Zwei der mit Rose befassten Polizisten
werden nicht einmal befragt.
## 2002 wird die Akte geschlossen
Das Ermittlungsverfahren in Sachen Rose wird 2002 eingestellt.
Als das Landgericht Dessau fünf Jahre später den Tod Oury Jallohs
verhandelt, bekommt der Jalloh-Anwalt Ulrich von Klinggräff ein anonymes
Schreiben, das „offensichtlich aus Polizeikreisen stammte“, wie von
Klinggräff heute der taz sagt. Es ist die Rede davon, dass im Fall Jalloh
Beweismittel manipuliert wurden. Und: Zum ersten Mal wird in dem Brief ein
möglicher Zusammenhang zwischen dem Tod von Oury Jalloh und dem Tod von
Hans-Jürgen Rose hergestellt. Es seien auch da „Gewahrsamsakten
manipuliert“ worden. „Bestimmte Beweismittel“ sollen „zurückgehalten w…
sein und waren nie der Beweisakte beigefügt gewesen“.
Nach einer Pressemitteilung der Initiative Gedenken an Oury Jalloh Anfang
2013 leitet die Dessauer Staatsanwaltschaft ein neues Ermittlungsverfahren
im Jalloh-Fall ein. Es steht der Verdacht im Raum, dass eine mögliche
Tötung Jallohs dazu dienen sollte, neue Ermittlungen bei den früheren
Todesfällen in dem Polizeirevier zu verhindern.
Der Dessauer Oberstaatsanwalt Christian Preissner, späterer Präses der
evangelischen anhaltinischen Landessynode, vernimmt 2013 die vier Beamten,
die in der Nacht mit Rose zu tun hatten. Thomas B. und Manfred H. werden
zum ersten Mal überhaupt in der Sache angehört – 16 Jahre nach dem Tod.
Doch Thomas B. kann sich an nichts erinnern, Udo H. sagt, er habe mit den
Verletzungen nichts zu tun, Manfred H. und Mario N. schildern einen ruhigen
Einsatz, ohne besondere Vorkommnisse. Keiner kann sich erinnern, dass der
von Michael N. gehörte Satz gefallen ist. Und so stellt Preissner am 28.
Februar 2014 die Ermittlungen ein: Es gebe „keinen Anfangsverdacht gegen
eine beteiligte Person“.
Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg, die 2018 auch die Ermittlungen im
Fall Jalloh schloss, erklärt auf Anfrage gegenüber der taz, die Rose-Akten
im Rahmen des Jalloh-Verfahrens „einer Sichtung unterzogen“ zu haben. Dabei
sei geprüft worden, „ob ein irgendgearteter Zusammenhang zwischen den
einzelnen Sachverhalten bestehen könnte“. Das Ergebnis: Ein Zusammenhang
zwischen Roses und Jallohs Tod sei „unter keinem Gesichtspunkt erkennbar“.
## Eine Sache des Gewissens
Die taz hat die vier damals beteiligten Beamten ausfindig gemacht. Mario N.
wohnt in einem unsanierten Plattenbau nahe der Dessauer Innenstadt. Er
kocht mit seiner Frau, als er hört, worum es geht, will er nichts sagen.
Thomas B. lebt und arbeitet in Magdeburg, die Tür seiner Plattenbauwohnung
öffnet er nicht, bei Anrufen legt er sofort auf. Auch Manfred H. öffnet die
Tür seiner Plattenbauwohnung nicht. Briefe lassen alle drei unbeantwortet.
Udo H. ist nach Angaben seiner ehemaligen Lebensgefährtin vor Jahren mit
einer anderen Frau in die Türkei ausgewandert.
Er glaube nicht, dass einer seiner Kollegen im Dienst derartig gewalttätig
geworden sein könnte, sagt der pensionierte Polizist Michael N. „Von der
Polizei macht so was keiner. Das traue ich keinem zu.“ Aber was geschehen
sei, „ich weiß es ja nicht“, sagt er. Mit Rose „gab es ja auch Ärger in…
Nacht, mit dummen Sprüchen. Aber würden Sie da wen beschuldigen, wenn Sie
es nicht genau wissen?“ Wenn da etwas vorgefallen sei, „das müssen die
Kollegen ja mit sich ausmachen, mit ihrem Gewissen“.
Iris Rose hofft darauf, dass sich nun Menschen melden, die in der Tatnacht
auf dem Polizeirevier, vor dem Haus in der Wolfgangstraße oder in der
Klinik etwas mitbekommen haben. „Auf Unterstützung der Polizei können wir
nicht hoffen“, sagt sie. „Aber das Schlimmste wäre, wenn man es nicht
versuchen würde. Damit wir Jürgen sagen können: Wir haben es versucht für
dich.“
Haben Sie Informationen zu diesem oder anderen Vorfällen, über die Sie die
taz informieren möchten? Melden Sie sich bei den Autoren oder über
[3][informant.taz.de].
Transparenzhinweis: Wir haben an einer Textstelle die Jahreszahl
korrigiert, wann die Justiz die Ermittlungen im Fall Rose eingestellt hat.
Außerdem haben wir den Text mit Zitaten von Iris Rose von der
Pressekonferenz am 28. März aktualisiert. Die Redaktion.
28 Mar 2024
## LINKS
[1] /Mordfall-Oury-Jalloh/!5823891
[2] https://www.recherche-zentrum.org/
[3] http://informant.taz.de
## AUTOREN
Christian Jakob
Kersten Augustin
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