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# taz.de -- Mordfall Oury Jalloh: „Ich schwöre, ich wars nicht“
> Vor 17 Jahren verbrannte Oury Jalloh. Wenn er sich nicht selbst getötet
> hat, wer dann? Die taz fragte am Einsatz beteiligte Polizisten.
Bild: Die Zelle 5 des Polizeireviers Dessau-Rosslau, aufgenommen 2011
Einst war Udo S. Polizist, heute ist er pensioniert und lebt mit seiner
Frau in einer Siedlung am Waldrand im Süden Sachsen-Anhalts. Der Rasen ist
gepflegt, am Carport hängt ein Weihnachtsstern. Ob man mit ihm über den Tod
Oury Jallohs sprechen könne? „Kommen Sie rein“, ruft er zum Gartentor.
S. ist einer der beiden Beamten, die den Sierra Leoner [1][Oury Jalloh] am
7. Januar 2005, vor genau 17 Jahren, in der Dessauer Innenstadt aufgriffen,
auf die Polizeiwache brachten und auf einer Matratze fixierten. Und die vor
Gericht widersprüchliche Angaben darüber machten, wie die Stunden
verliefen, bis Jalloh auf dieser Matratze verbrannte.
Seine 73 Jahre sieht man S. nicht an. Er ist schlank, trägt
Rollkragenpullover und eine knallrote Hose. Jeden Morgen mache er hier im
Wald seine Runde, um sich fit zu halten, erzählt er. Es ist das erste Mal,
dass er mit der Presse über Jallohs Tod spricht. „Einmal stand RTL hier an
der Tür, die hab ich rausgeschmissen.“ Aber jetzt will er reden.
Von sich aus benennt S. viele der Merkwürdigkeiten bei Jallohs Tod: Dass
der Brand so heiß gewesen sei, dass man an Brandbeschleuniger denken
könnte. Dass das Feuerzeug, mit dem Jalloh sich selbst angezündet haben
soll, erst Tage später gefunden wurde. Dass es im Laufe der Zeit gleich
drei Todesfälle auf dem Dessauer Polizeirevier gegeben habe. Doch er
beharrt darauf, dass Jalloh sich selbst verbrannt habe. „Wer hätte das
sonst tun sollen?“
## Nichts ist erledigt
Seit 17 Jahren wird es nicht still um den Feuertod Jallohs. Es gab
Gerichtsverfahren, Urteile, Gutachten, Untersuchungsberichte, private
Recherchen, Medienberichte, Filme. Für die Justiz in Sachsen-Anhalt ist der
Fall offiziell erledigt. Das letzte Ermittlungsverfahren wurde eingestellt,
weil sich keine beweisbaren Anhaltspunkte ergeben hätten, die eine
Entzündung der Matratze durch Oury Jalloh „ausschließen können und die eine
Entzündung durch Polizeibeamte oder durch bestimmte Dritte belegen“,
schreibt die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg auf taz-Anfrage.
Für die Familie Jallohs, die Nebenkläger, ist nichts erledigt. Am heutigen
Freitag zeigte sie die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg beim
Generalbundesanwalt an – wegen Strafvereitelung im Amt. Wenn es sein muss,
will die Familie noch bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
in Straßburg klagen.
Genau wie sie glaubte auch der zwölf Jahre lang mit dem Fall befasste
Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann am Ende seiner Dienstzeit, dass
Jalloh getötet wurde. Doch als Bittmann in den Ruhestand ging, wurde das
Ermittlungsverfahren eingestellt. So lautet die offene Frage: Wenn Jalloh
sich nicht selbst angezündet hat – wer war es dann?
Es gibt dazu konkrete Theorien. 2017 spricht Staatsanwalt Bittmann zum
ersten Mal offiziell von einem möglichen Mord an Jalloh. Auch die
Nebenklage – die Familie des Toten und die private [2][Initiative Gedenken
an Oury Jalloh] – glaubt daran.
## „Ich bin mit mir im Reinen“
Als Verdächtige wurden zwischenzeitlich von der Staatsanwaltschaft Dessau
zwei Polizeibeamt:innen benannt, die Nebenklage hält hingegen zwei
andere Beamte für die Täter. Alle waren am Todestag im Dessauer Revier im
Dienst. Ein Beamter ist verstorben, drei leben noch. Öffentlich geäußert
hatte sich bislang keiner von ihnen. Warum fiel der Verdacht auf sie? Und
wie hat Jallohs Tod ihr Leben verändert? Die taz hat sie ausfindig gemacht
und zu den Anschuldigungen befragt.
Bei den Verdächtigen der Nebenklage handelt es sich um die Beamten Udo S.
und Hans-Ulrich M. Sie haben in Vernehmungen widersprüchliche Aussagen zum
Verlauf des fraglichen Vormittags gemacht und sich in ihren Alibis
gegenseitig widersprochen. M. und S. hatten Jalloh am Morgen seines
Todestages in der Dessauer Innenstadt in Gewahrsam genommen und auf die
Wache gebracht. M., heute 59, ist mittlerweile in einem anderen
Polizeirevier im Dienst. Udo S. ist seit 2008 im Ruhestand.
An einem Donnerstag Ende Dezember steht S. vor seiner Haustür und erzählt.
„Die Feuerwehr, das war mein Leben“, sagt er. Bis zur Wende arbeitete er
als Betriebsfeuerwehrmann beim VEB Gärungschemie Dessau. Nach der Wende
wurde der abgewickelt. Polizist sei er nicht gern geworden. Doch dort sei
man schnell verbeamtet worden, sagt S. Er erzählt von den vielen
gescheiterten Existenzen nach der Wende. „Frau weg, Job weg, aussortiert,
weil sie angeblich zu schlecht waren“ oder weil sie „eine zweite Lohntüte
hatten“ – er meint Stasi-IMs. Solche Männer habe er dann oft in der Wache
gehabt, zum Ausnüchtern. Doch dann seien die Drogen nach Dessau gekommen.
„Wir kannten nur Besoffene“, sagt er. „Aber Drogen – so was kannten wir
nicht. Die Leute entwickeln Kräfte, spüren keine Schmerzen mehr, da muss
man aufpassen.“ In Jallohs Blut wurden nach seinem Tod geringe Mengen
Kokain nachgewiesen.
Im Familienkreis sei der Fall „kein Thema“, sagt S. Doch auch 17 Jahre
später scheint er noch häufig daran zu denken. Bei Temperaturen um den
Gefrierpunkt steht er in seiner Einfahrt und hört nicht auf zu reden. „Ich
habe nichts gemacht. Ich schwöre“, sagt er. Und mehrfach: „Ich bin mit mir
im Reinen.“ Überhaupt, wer hätte Jalloh etwas antun sollen? „Hatte der da
Feinde? Im Revier? Hat das mal jemand recherchiert? Wer soll das getan
haben?“, fragt er.
## Widersprüchliche Aussagen
Udo S. erzählt von Jallohs Todestag: Wie er mit seinem Kollegen Hans-Ulrich
M. losgeschickt wurde. Wie sie Jalloh mitnahmen, weil der zwei
Straßenreinigerinnen belästigt haben soll. Bei Vernehmungen hatten die
Polizisten S. und M. ausgesagt, dass Jalloh um sich geschlagen habe. Udo S.
hielt ihn während der Fahrt im Schwitzkasten. „Ich habe nicht mit ihm
geredet, das ging ja gar nicht“, sagt er heute. Zu aufgebracht sei Jalloh
gewesen.
Um 9.15 Uhr an jenem Morgen nimmt ein Arzt Jalloh eine Blutprobe ab. Sie
ergibt 2,98 Promille. Um 9.30 Uhr sind Udo S. und Hans-Jürgen M. nach ihren
Schilderungen vor Gericht im Gewahrsamsbereich mit Jalloh fertig gewesen.
Bis 10 Uhr hätten sie Anzeigen geschrieben. Danach seien sie bis zum Mittag
wieder Streife gefahren. M. und S. konnten bei Vernehmungen keine genauen
Angaben dazu machen, wo sie in dieser Zeit gewesen sind. Ihr Fahrtenbuch
ist aus den Akten verschwunden.
S. und M. wollen nach 9.30 Uhr nicht mehr in Jallohs Zelle gewesen sein,
hätten demnach auch den erst nach 12 Uhr ausgebrochenen Brand nicht legen
können. Doch ihr Kollege Torsten B. sagte vor Gericht aus, die beiden gegen
11.30 Uhr in der Zelle 5 angetroffen zu haben – kurz vor dem Brand, als sie
mit dem Streifenwagen in der Stadt gewesen sein wollen also.
Sie hätten Jalloh da abgetastet, sagte der Kollege Torsten B. Er habe
Hans-Ulrich M. zum Mittagessen abholen wollen. Doch M. habe geantwortet,
dass er noch zu tun habe. Torsten B. sagt, er habe daraufhin allein
gegessen – und die beiden nicht in der Kantine gesehen. Doch eben da wollen
sie danach gewesen sein.
M. und S. machen einander ausschließende Angaben über diese Zeit: Als das
Feuer ausbrach, habe er sich zusammen mit Udo S. in der Kantine
aufgehalten, sagt Hans-Ulrich M. bei Vernehmungen. Udo S. aber sagt: „Nein,
ich kann mich erinnern, dass ich alleine war. Ich habe mir was zu essen
geholt, aber ich habe nur ein paarmal reingebissen, dann bin ich raus. Ich
stand alleine da, hatte die Bockwurst noch auf der Pappe. Dann habe ich
Rauch gesehen“, so Udo S. laut dem Vernehmungsprotokoll. S. sagte demnach,
er habe „die Wurst vor Augen, aber nicht M. Ich weiß nicht, wo M. war, als
ich die Bockwurst in der Kantine gegessen habe.“
Nach dem Brand sei schnell wieder „Normalbetrieb“ gewesen auf dem Revier,
sagt Udo S. beim Gespräch in seinem Garten. Er habe gern mit dem Seelsorger
über den Vorfall gesprochen, obwohl er nicht an Gott glaube. Und er hätte
gern „mit der anderen Seite“ geredet, mit der Familie des Toten. Aber das
sei wegen der ganzen Vorwürfe nicht möglich gewesen. Zu Hans-Ulrich M. habe
er seit Jahren keinen Kontakt mehr. „Der war leicht aufbrausend“, sagt S.
über ihn. „Aber der war es auch nicht.“
## Die Zweifel
Dreimal wurde Oury Jallohs Tod vor Gericht verhandelt. Gegen acht Beamte
wurde außerdem wegen Falschaussagen vor Gericht ermittelt, darunter Udo S.
und Hans-Ulrich M. Diese Verfahren wurden eingestellt.
Grundlage der Gerichtsprozesse war stets die Annahme, dass Jalloh die
Matratze, auf der er gefesselt war, selbst angezündet hat. Dafür soll er
ein Feuerzeug benutzt haben, das Hans-Ulrich M. bei seiner Durchsuchung
übersehen habe. M. wurde deshalb im ersten Verfahren in Dessau wegen
fahrlässiger Tötung angeklagt und [3][freigesprochen]. Für ihn gilt deshalb
der sogenannte „Strafklageverbrauch“ – er darf für die Sache nie wieder
belangt werden, auch wenn es neue Erkenntnisse über den Tathergang gäbe.
Bis heute hält die Justiz an der Annahme fest, dass Jalloh sich selbst
getötet hat. Die private Initiative Gedenken an Oury Jalloh hat dies schon
sehr früh für einen Irrtum gehalten – und über die Jahre viele Belege daf�…
vorgelegt.
Nach 12 Jahren kamen auch dem Dessauer Staatsanwalt Folker Bittmann
Zweifel. Im April 2017 schreibt er in einem Vermerk, er gehe davon aus,
dass Jalloh bereits vor Ausbruch des Feuers „mindestens handlungsunfähig
oder sogar schon tot“ war. Vermutlich sei er mit Brandbeschleuniger
besprüht und angezündet worden.
## Anfangsverdacht: Mord durch Polizeibeamte
Grundlage für Bittmanns Sinneswandel war ein Treffen von Gutachtern, das
Bittmann zuvor im rechtsmedizinischen Institut der Uni Würzburg anberaumt
hatte. Anwesend waren Brandexperten, Toxikologen, Rechtsmediziner und
Chemiker. Alle waren über Jahre mit dem Fall befasst. Am Ende sagte der
Toxikologie-Professor Gerold Kauert: „Das Würzburger
Sachverständigengremium kam zu dem Ergebnis, dass die Theorie der
Selbstentzündung nicht zu halten war.“
Bittmann leitet ein Ermittlungsverfahren zur Klärung der Todesursache ein.
Er schreibt in einem Aktenvermerk vom „Anfangsverdacht eines Mordes“ durch
Polizeibeamte. Bittmann formuliert eine Theorie zum Motiv: „Bei einer
Zellenkontrolle könnten Polizeibeamte auf die Ohnmacht Oury Jallohs
aufmerksam und sich daraufhin bewusst geworden sein, dass schwere
Verletzungen oder gar das Versterben eines weiteren Häftlings neuerliche
Untersuchungen auslösen würden.“
Jalloh – ein „weiterer“ toter Häftling? In Jallohs Zelle starb bereits 2…
Mario Bichtemann an einem Schädelbasisbruch. Woher dieser rührte, ist
unklar. Und auch Hans-Jürgen Rose, den die Polizei 1997 aufgegriffen hatte,
weil er betrunken Auto fuhr, wurde direkt nachdem er in Polizeigewahrsam
war leblos auf der Straße gefunden. Er starb an schweren inneren
Verletzungen.
Es gibt Parallelen zum Tod Jallohs. 2018 stellte ein Rechtsmediziner und
Radiologe von der Uniklinik Frankfurt fest, dass Jallohs Schädeldach,
Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen waren. Das spricht für
die Annahme des Staatsanwalts Bittmann. Der eröffnet im April 2017 ein
Ermittlungsverfahren wegen schwerer Brandstiftung gegen die
Polizeiobermeisterin Beate H., heute 53 Jahre alt, sowie gegen ihren
damaligen Kollegen Hartmut Sch., der damals mit ihr in Jallohs Zelle war.
Sch. starb im Februar 2017 im Alter von 63 Jahren. Der offenbar einzige
Grund für den Verdacht gegen die beiden: Sie haben Jalloh offiziell als
letzte lebend gesehen.
## Zeugin Beate H.
Beate H. ist an Jallohs Todestag als sogenannte Streifeneinsatzführerin im
Dienst. Zweimal kontrolliert sie Jallohs Zelle. Beim zweiten Mal wird sie
von Hartmut Sch. begleitet. Später geben beide an, Jalloh lebend auf der
Matratze fixiert angetroffen zu haben. Er habe eine halb heruntergezogene
Jeanshose getragen, auch andere Zeugen sprachen von einer blauen Jeans. Die
verbrannte Leiche allerdings trug eine Cordhose. Etwa 20 Minuten nach der
Zellenkontrolle bricht das Feuer aus. Der Alarm geht an. H. hört Jalloh
über die Gegensprechanlage nach Hilfe rufen. Doch die kommt nicht mehr
rechtzeitig.
Beate H. ist eine der wichtigsten Zeug:innen. Sie wird mehrfach von Polizei
und Staatsanwaltschaft vernommen. H. sagt zunächst aus, über die
Gegensprechanlage etwa eine halbe Stunde vor dem Alarm Geräusche wie von
einem klappernden Schlüsselbund aus Jallohs Zelle gehört zu haben. Niemand
hat einen zu dieser Angabe passenden Kontrollgang ins Gewahrsamsbuch
eingetragen. H. belastet ihren Vorgesetzten, den angeklagten
Dienstgruppenleiter Andreas Sch., schwer. Der habe den Feueralarm aus
Jallohs Zelle ignoriert. Nach Recherchen der Hörfunk-Journalistin Margot
Overath wird Beate H. kurz nach Jallohs Tod in eine andere Dienststelle
versetzt. Fünf Wochen später lässt sie sich wegen psychischer Probleme
krankschreiben und begibt sich in Behandlung. Sie muss starke Medikamente
nehmen. Eine Kollegin habe sie jeden Tag weinen sehen. Mehr als zwei Monate
bleibt sie dem Dienst fern. Es gibt ein Gespräch zwischen Beate H., ihrem
Dienstgruppenleiter Andreas Sch. und dessen Anwälten. Danach zieht H. ihre
Aussage zurück. Vor Gericht entlastet sie ihren Vorgesetzten. Sie begründet
das damit, dass sie ihre früheren Aussagen nur so „herausgesprudelt“ habe
und erst später „die innere Kraft gehabt“ habe, die Protokolle ihrer
Aussagen zu prüfen. Sie habe unter Schock gestanden und „zunächst nicht
geahnt, dass ihr Zeugnis so wichtig“ werden könne. So notiert es ein
Prozessbeobachter.
Beate H.s Widersprüche werfen kein gutes Licht auf sie. Sie waren ein Grund
dafür, dass der Vorsitzende Richter den ersten Prozess eine „Schande für
den Rechtsstaat“ nannte. Auch gegen H. wurde wegen Falschaussage ermittelt.
Aber: Ihre mutmaßlichen Lügen deuten nicht darauf hin, dass sie selbst
Jalloh getötet haben könnte. In all den Jahren, in denen die Vorgänge in
der Zelle Nummer 5 immer genauer ausgeleuchtet wurden, kam vieles zutage –
aber kein mögliches Motiv von Beate H. und Hartmut Sch. Zudem hatten die
beiden praktisch keine Gelegenheit, einen Brand zu legen.
Erst 18 Monate, nachdem Beate H. der Brandstiftung beschuldigt wurde, wird
sie das erste Mal in der Sache vernommen. Sie verweigert die Aussage. Die
Generalstaatsanwaltschaft Naumburg stellt das Verfahren gegen sie ein.
Doch warum zog Beate H. einst ihre ursprünglichen, so wichtigen Aussagen
vor Gericht zurück? Und warum sagt sie nichts zu dem Vorwurf, selbst den
Brand gelegt zu haben? H. lebt heute in einem kleinen Haus in einer
Neubausiedlung in Sachsen-Anhalt. Sie öffnet die Tür einen Spalt breit, ihr
Kopf bleibt hinter der Tür. Sie sagt sofort „Nein“ und schließt die Tür
direkt wieder.
## Einstellung des Verfahrens
Der Staatsanwalt Bittmann wollte das [4][Mordermittlungsverfahren] an den
Generalbundesanwalt übergeben. Doch der lehnt ab. Der Fall wird Bittmann
entzogen und an die Staatsanwaltschaft Halle übergeben. Bittmann geht in
Pension, seine Hallenser Kollegin Heike Geyer stellt das Verfahren ein.
Bald darauf wird Geyer Leiterin der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg und
damit oberste Strafverfolgerin Sachsen-Anhalts.
Was bewog Bittmann, nach über zwölf Jahren plötzlich von einem Mord
auszugehen? Warum fiel sein Verdacht auf Beate H. und nicht auf Udo S. und
Hans-Ulrich M., die sich vor Gericht in wichtigen Punkten so stark
widersprochen hatten?
Bittmann arbeitet heute für eine große Kölner Wirtschaftskanzlei als
Anwalt. Auf Fragen zum Fall Jalloh will er nicht antworten. Die
Generalstaatsanwaltschaft Naumburg sei zuständig, schreibt er und leitet
den Fragenkatalog der taz dorthin weiter.
Weil alle Ermittlungsverfahren „bestandskräftig eingestellt“ seien,
verbiete es sich, Auskünfte zu vormaligen Beschuldigten und Beteiligten zu
erteilen, schreibt diese. Die Persönlichkeitsrechte der „als unschuldig
geltenden Personen“ stünden dem entgegen. Ganz allgemein könne ein
Tatverdacht „niemals aus dem Umstand hergeleitet werden, dass jemand kein
Alibi gehabt hat oder womöglich über ein Motiv verfügte“. Auf bloße
Vermutungen hin lasse sich ein Tatverdacht nicht begründen, schreibt die
Strafverfolgungsbehörde. „Jedwede strafprozessuale Maßnahmen dienen nicht
der Herbeiführung eines Tatverdachts, sie setzen das Vorhandensein eines
solchen stets voraus.“
Das soll heißen: Es sei juristisch korrekt gewesen, dass sich das
Mordermittlungsverfahren nicht gegen M. und S. gerichtet habe.
## Die falschen Verdächtigen?
Für die Initiative Gedenken an Oury Jalloh hingegen ist klar: Die
Generalstaatsanwaltschaft Naumburg hätte die Akte nicht zuklappen dürfen,
sondern gegen Udo S. ermitteln müssen – Hans-Ulrich M. ist wegen des
„Strafklageverbrauchs“ nicht mehr zu belangen. Deshalb zeigt sie nun die
Generalstaatsanwaltschaft Naumburg beim Generalbundesanwalt an.
Die Initiative glaubt, dass Staatsanwalt Bittmann die richtigen Schlüsse
gezogen, aber die falschen Verdächtigen benannt hat. Bereits im Dezember
2017 hatte die Initiative deshalb Udo S. – erfolglos – beim
Generalbundesanwalt angezeigt: S. und Hans-Ulrich M. seien „gewalttätig
gegen Oury Jalloh vorgegangen“, heißt es in der Anzeige. Sie hätten
gewusst, dass Jalloh dadurch Verletzungen am Kopf und im Nasenbereich
davongetragen habe und dies vertuschen wollen.
Das klingt ähnlich wie die vom Staatsanwalt Bittmann vermutete Sorge
möglicher Täter über „neuerliche Untersuchungen“ zu „schweren Verletzu…
oder gar das Versterben“ weiterer Häftlinge.
Hans-Ulrich M. hatte am 8. Dezember 1997 Dienst, als Hans-Jürgen Rose kurz
nach Verlassen des Dessauer Reviers an inneren Verletzungen stirbt. Udo S.
wiederum war am 29. Oktober 2002 im Dienst, als Mario Bichtemann mit einem
Schädelbasisbruch tot in der Zelle 5 aufgefunden wurde. Allerdings: Es gibt
keine Hinweise darauf, dass S. oder M. etwas mit dem jeweiligen Tod zu tun
haben.
## Die Verdächtigen treffen sich – „ganz zufällig“
Hans-Ulrich M. wohnt heute nicht mehr in Dessau. Als es an seiner Tür
klingelt, ist er nicht überrascht. Er trägt eine Polizei-Jogginghose,
öffnet schnell das Gartentor. Auch er nimmt sich Zeit, um zu erzählen.
„Dass ich das Feuerzeug übersehen habe, werfe ich mir immer noch vor“, sagt
er. Von der Mordtheorie hält er nichts: „Wie soll ein Polizist da fünf
Liter Benzin oder Grillanzünder reingeschafft haben?“
M. arbeitet schon lange nicht mehr auf dem Revier in Dessau. Er habe dort
bleiben wollen, aber seine Vorgesetzten hätten ihn nach dem Tod von Jalloh
versetzt, um ihn „aus der Schusslinie“ zu nehmen, sagt er.
Mit seinem Kollegen Udo S. habe er seit vielen Jahren keinen Kontakt gehabt
– bis zur letzten Woche. Da habe er Udo in einem Dessauer Restaurant
getroffen, „ganz zufällig“, wie er behauptet. Der habe ihm dann auch
gesagt, dass Journalisten bei ihm gewesen seien.
Er redet weiter. Das übersehene Feuerzeug sei „menschliches Versagen“
gewesen. Es gebe „nicht ein einziges Anzeichen, dass einer von meinen
Kollegen, die dabei waren, irgendwie rassistisch war“. Tatsächlich konnten
rassistische Einstellungen im gesamten Prozessverlauf bislang keinem der
angeklagten Beamt:innen nachgewiesen werden.
Dass bei Jalloh Brüche festgestellt wurden, weiß M. „Aber der wurde nicht
geschlagen von uns.“ Jalloh selbst habe seinen Kopf im Revier „auf den
Tisch geknallt“.
## Nicht abgeschlossen
M. sagt dasselbe wie früher: Dass er mit S. den Vormittag im Streifenwagen
unterwegs und nicht mehr in Jallohs Zelle war. Wie erklärt er, dass sein
Kollege Torsten B. dem widersprochen und mehrfach ausgesagt hat, die beiden
kurz vor dem Brand dort angetroffen zu haben?
„Der Torsten hat ja seine Aussage auch wieder zurückgezogen und gesagt,
dass es doch nicht am Mittag war. Wenn Sie so beschäftigt sind, gucken Sie
nicht auf die Uhr. Aber Mittag war das nicht mehr.“ So ähnlich sei es auch
mit seinem Essen mit Udo S. zur Brandzeit in der Kantine gewesen, an das S.
sich nicht erinnern konnte: Er, M., sei da kurz rauchen gewesen, danach sei
S. schon fertig gewesen mit seiner Bockwurst.
Richtig abgeschlossen sei die Sache für ihn nicht. „Das wäre sie nur, wenn
man nachvollziehen könnte, wo das Feuerzeug herkam, war es in seinem
Besitz, hat man es übersehen?“, sagt M. „Dann kann ich auch für mich sage…
Das ist mein Fehler, hab’ ich übersehen. Und so gibt es immer diese
Spekulation. Gab’s da noch einen Dritten oder sonst was? Andere Personen,
die mit der Gewahrsamsnahme zu tun hatten, sind ja gar nicht befragt
worden.“ Welche anderen das gewesen sein könnten, das wisse er auch nicht.
In diesem Jahr wird auch Hans-Ulrich M. in den Ruhestand gehen. Bis vor
Kurzem hatte er noch 2.500 Seiten Akten zum Tod von Oury Jalloh bei sich zu
Hause.
Von jedem Schriftsatz hatte sein Anwalt ihm eine Kopie zugeschickt. Gerade
habe er alles, was damit zu tun gehabt habe, vernichtet, sagt M. Er wolle
das Kapitel beenden.
7 Jan 2022
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## AUTOREN
Kersten Augustin
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