# taz.de -- Essay zum Tod von Lorenz A.: Die Polizei ist eine Echokammer | |
> Wie konnte es zu den tödlichen Schüssen kommen, die Lorenz A. aus | |
> Oldenburg in Rücken und Hinterkopf trafen? Das Polizeiproblem geht alle | |
> an. | |
Bild: Fünfmal soll ein Polizist laut Staatsanwaltschaft Oldenburg in die Richt… | |
Seit den tödlichen Schüssen, die Lorenz A. von hinten, unter anderem in den | |
Rücken und Hinterkopf trafen, zeigen sich viele Menschen bestürzt über die | |
polizeilichen Verhältnisse in Deutschland. Sie fragen sich, über den Tatort | |
in Oldenburg hinaus, wie es nur so weit kommen konnte. | |
Ein Teil der Antwort darauf findet sich in der Analyse von Faktoren wie dem | |
unerschütterlichen polizeilichen Korpsgeist, fehlenden | |
Aufsichtsmechanismen, der stetigen Aufrüstung der Sicherheitsbehörden in | |
Deutschland und ihrer Ausstattung mit immer mehr Kompetenzen. Polizeigewalt | |
hat verschiedene Gründe: Rechtsextremismus in den Rängen von | |
Beamt*innen, [1][rassistische Denkweisen], toxische Männlichkeit, | |
Verflechtungen mit dem Justizsystem oder weitere Aspekte, die es | |
Polizist*innen einfach machen, unverhältnismäßig zu handeln – und im | |
äußersten Fall Menschen zu töten. Obwohl sie das rechtlich betrachtet nicht | |
dürfen: Polizist*innen dürfen nie die Intention haben, auf jemanden zu | |
schießen, um ihn tödlich zu verletzen. | |
Für einen weiteren und wesentlichen Teil der Antwort auf die Frage, warum | |
Polizist*innen ihre Macht missbrauchen, muss man herauszoomen und sich | |
den gesellschaftlichen und diskursiven Rahmen anschauen, in dem die Polizei | |
handelt. | |
Wenn es um Diskurs geht, fallen einem schnell die üblichen Verdächtigen | |
ein: die AfD oder die CSU, oder Jens Spahn von der CDU, bekannt für seine | |
Liebe zu „Law and Order“. Vielleicht auch Kai Wegner (CDU), Regierender | |
Bürgermeister von Berlin, der sich gern bedingungslos an die Seite seiner | |
Polizei stellt, genauso wie die scheidende SPD-Bundesinnenministerin Nancy | |
Faeser. Natürlich spielt das politische Personal eine Rolle, sogar die | |
Hauptrolle, wenn es Gesetze ausarbeitet und den Ton setzt, wie die Polizei | |
in Deutschland zu agieren hat. Ausschließlich die Berufspolitik zu | |
betrachten, wäre allerdings zu simpel. | |
## Die mächtigste Institution im Staat | |
Die Polizei ist eine Echokammer. Man ruft etwas hinein und bekommt etwas | |
zurück. In diesem Fall: wie das Leben in unserer Gemeinschaft funktionieren | |
soll. Die Polizei agiert zwar nach eigenen Regeln, nach einer gut | |
erforschten [2][Cop Culture], die vor allem die eigenen, polizeilichen | |
Belange zentriert, aber sie reagiert auch auf externe Faktoren, auf | |
gesellschaftspolitische Stimmungen zum Beispiel, auf einen Kulturwandel, | |
egal in welche Richtung. | |
Wenn „die ganze Härte des Gesetzes“ und nicht dessen angemessene Anwendung | |
von einer Mehrheit oder zumindest einer großen Gruppe in der Gesellschaft | |
verlangt wird, dann stürmen Polizist*innen performativ Wohnungen, | |
während Fernsehkameras laufen. Wenn „Illegale“ zum Sündenbock gemacht | |
werden, wie manche das tun, dann packen Polizist*innen Schutzsuchende | |
grob an ihren Körpern und schieben sie ab. Wenn das Recht des Stärkeren | |
gelten soll, dann fühlen sich Polizist*innen im Recht, wenn sie ihre | |
Potenz einsetzen: Waffen, Gewaltmonopol und Hegemonie machen sie zur | |
mächtigsten Institution im Staat. | |
Andersherum würde das auch gelten. Wenn also viele in der Gesellschaft auf | |
sozialen Zusammenhalt, Solidarität und Sicherheit für alle setzen würden, | |
wäre es viel schwerer für Polizist*innen, unverhältnismäßig gewalttätig | |
zu sein. | |
In der Realität wird die Polizei aber eher angestachelt. Das zeigt sich in | |
unzähligen Online-Kommentaren, die nach dem Tod von Lorenz A. im Netz | |
geteilt werden: Da schreibt eine Person: „Unser Land hat sich durch | |
Zuwanderung stark verändert, zudem haben wir immer mehr gewaltbereite | |
Menschen“, unter einem Instagram-Post, der über den Tod von Lorenz A. | |
berichtet. | |
Die Verknüpfung des Falls in Oldenburg, der rein gar nichts mit Migration | |
zu tun hat, mit der deutschen Migrationsdebatte, scheint absurd, aber | |
symptomatisch zu sein. Sie soll exzessive Gewalt gegen „die Anderen“ | |
rechtfertigen. Dass Lorenz A. in Oldenburg aufgewachsen ist, wird | |
übergangen. Generell finden sich auf Tiktok, Instagram und anderen | |
Plattformen sehr viele Kommentare, die entweder das Verhalten des | |
Polizisten schönreden oder erklären wollen. Viele feiern aber auch ganz | |
offen die Gewalt. Etwa der schlichte Kommentar „Danke an unsere Polizei“ | |
taucht sehr oft auf. | |
## Suche nach Sinn, auch dort, wo keiner ist. | |
Menschen suchen stets nach Sinn, auch dort, wo keiner ist. Und sinnvoll ist | |
für viele Menschen, dass die Polizei, die ja für unsere Sicherheit | |
zuständig ist, nicht einfach so tötet, sondern dass vorher etwas passiert | |
sein muss, das den Tod eines Menschen rechtfertigt. Die Carte blanche für | |
die Polizei auf der einen Seite, das Verlangen nach immer exzessiverer und | |
zugleich gerechtfertigter Gewalt auf der anderen bilden die diskursive | |
Basis für das Polizeiproblem. | |
Kompromissbereitschaft gegenüber den Gewalttätigen ist zudem auch in jene | |
Räume eingezogen, in denen Entscheidungen getroffen werden: | |
Chefredaktionen, Bildungsinstitutionen, Kulturbetriebe. Die Polizei wird | |
hier oft reflexhaft verteidigt: polemisch, wer verlangt, dass man einen | |
Menschen nicht hinterrücks erschießt; vernünftig, wer sich in jedem Fall | |
für die Freunde und Helferinnen einsetzt. Vor allem viele Medien versuchen, | |
eine Balance zu halten, alle zu Wort kommen zu lassen. | |
So landeten sofort nach den tödlichen Schüssen auf Lorenz A. | |
Vertreter*innen von Polizeigewerkschaften vor den Kameras, Mikrofonen | |
und Diktiergeräten. Sie konnten in einem frühen Stadium dieser Geschichte | |
die Ereignisse deuten – im Sinne der beteiligten Polizist*innen. Dabei muss | |
Journalismus vor allem die Realität abbilden, nicht im Sinne von „jeder ist | |
mal dran und darf was sagen“, sondern gemäß der Leitlinie: Was ist konkret | |
passiert? Wie ist das einzuordnen? | |
Wo die Toleranz der Gewalt oder das aktive Verlangen nach ihr hinführen | |
kann, ist gut in den USA zu betrachten. Dort zertrümmern Polizist*innen | |
Autofenster oder Türen und zerren Menschen heraus. Sie schreien „You’re | |
under arrest!“ und richten ihre Waffen auf Körper. Anders als bei der | |
ausgeschalteten Bodycam des Polizisten in Oldenburg laufen die Bodycams in | |
den USA oft nonstop: Die Bilder laufen überall, Trumpist*innen jubeln, die | |
Polizei liefert weiter. Es sind auch diese Bilder, die viele Unbeteiligte | |
abstumpfen lassen, die viele ideologisch Gefestigte im rechten Spektrum | |
bestärken, noch mehr Gewalt zu fordern. Sieht so die Zukunft in Deutschland | |
aus? | |
## Fünf Schüsse | |
In den sozialen Medien pochen viele darauf, Lorenz A. habe vor dem | |
schießenden Polizisten ein Messer gezückt. Der Stand zu Redaktionsschluss: | |
Lorenz A. hatte ein Messer in der Tasche, [3][hat es aber wohl nicht gegen | |
den Polizisten eingesetzt]. Während er an den Beamten vorbeilief, habe er | |
mit Reizgas gesprüht, sagte die Staatsanwaltschaft Oldenburg. Fünfmal soll | |
ein Polizist in die Richtung von Lorenz A. geschossen haben. Mindestens | |
dreimal traf er ihn. Ein vierter Schuss streifte den Oberschenkel. | |
Wer aber „Messer“ ruft, dem geht es nicht unbedingt um die Tatsachen. Das | |
gezückte Messer dient manchen als Versuch, die tödlichen Schüsse aus der | |
Polizeiwaffe aufzuwiegen. Im biblischen Sinne: Auge um Auge, Zahn um Zahn. | |
Man ruft diese Formel in die Echokammer hinein, von der Polizei kommt | |
Entsprechendes zurück. | |
25 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Studie-zur-deutschen-Polizei/!6034485 | |
[2] /Jeff-Kwasi-Klein-ueber-Cop-Culture/!5773241 | |
[3] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/oldenburg_ostfriesland/Toedlic… | |
## AUTOREN | |
Mohamed Amjahid | |
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Oury Jalloh | |
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