# taz.de -- Mit dem Zug nach Osteuropa: Oder mal nach Osten | |
> Gleich hinter Berlin lässt sich auf Zugstrecken gen Osten gemeinsame | |
> Geschichte erleben. Und Osteuropa kommt näher. | |
Bild: Breslau/Wroclaw: Radfahrer vor der Dominsel | |
Warum nennen sie ihn nicht beim Namen? Der Nachtzug, der seit anderthalb | |
Jahren zwischen Berlin und Wien verkehrt, heißt „Nightjet“, wie alle | |
Nachtzüge der Österreichischen Bundesbahnen. Dabei ist die Verbindung viel | |
mehr: Sie ist ein wahrhaftiger „Oderzug“. Gleich acht Bahnhofe liegen am | |
Oderufer: Frankfurt (Oder), Glogau/Głogów, Breslau/ Wrocław Główny, | |
Oppeln/Opole Główne, Cosel/Kędzierzyn-Koźle, Ratibor/Racibórz, Annaberg/ | |
Chałupki und Ostrau/Ostrava. Rechnet man noch das nicht weit von der Oder | |
gelegene Grünberg/Zielona Góra dazu, verzeichnet der Oderexpress der | |
Österreicher neun Stationen an dem tschechisch-polnisch-deutschen Strom. | |
Nur der Intercity der polnischen Staatsbahn PKP „Swarożyc“ von | |
Stettin/Szczecin nach Kattowitz/ Katowice bringt es auf mehr Oderbahnhöfe | |
(zwölf einschließlich Grünberg). Allerdings ist auch der nicht nach der | |
Oder benannt, sondern nach einer slawischen Gottheit. | |
Als der Nachtzug am 9. Dezember 2018 erstmals startete, ließ es sich | |
Frankfurts Oberbürgermeister Ren Wilke nicht nehmen, persönlich am Bahnhof | |
zu erscheinen. Schließlich war es nach 2001 der erste reguläre Zug, der | |
wieder zwischen Frankfurt und Breslau verkehrte. Beide Oderstädte waren vor | |
dem Krieg aufs engste miteinander verbunden, auch wenn diese Verbindung | |
nicht immer konfliktfrei war. Als Berlin 1810 eine zweite preußische | |
Landesuniversität gründete (die heutige Humboldt-Universität), wurde die | |
altehrwürdige Viadrina in Frankfurt (Oder), 1506 als erste brandenburgische | |
Landesuniversität gegründet, kurzerhand aufgelöst. Das Mobiliar wurde auf | |
Kähnen oderaufwärts nach Breslau verschifft. Dort wurde aus dem | |
Jesuitenkolleg durch die Fakultäten, die aus Frankfurt (Oder) kamen, 1811 | |
die erste Volluniversität im preußischen Schlesien. | |
Doch das ist vergessen und vergeben. Heute begreift sich Frankfurt (Oder) | |
zusammen mit dem auf dem gegenüberliegenden Oderufer gelegenen Słubice als | |
deutsch-polnische Doppelstadt. Sogar eine gemeinsame Innenstadtentwicklung | |
haben beide Städte vereinbart. In ihrem Zentrum steht die Oderbrücke, das | |
Symbol des gemeinsamen Stadtmarketings. | |
Der nächste Halt, an dem es sich lohnt, aus dem Oderexpress zu steigen, ist | |
Grünberg, eine der beiden Verwaltungshauptstädte der Woiwodschaft Lebuser | |
Land. Das Denkmal des Bacchus in der Altstadt zeigt, dass sich die Stadt | |
wieder auf eine alte Tradition bezieht, den Weinanbau. 40 Winzer bauen auf | |
einer Fläche von 100 Hektar wieder Wein an. Das ist zwar nichts gegenüber | |
den 1.700 Hektar Weinbergen, die es vor zweihundert Jahren gab. Aber | |
immerhin kann man den Wein aus Grünberg, der in den Neunzigern nur bei | |
feierlichen Anlässen ausgeschenkt wurde, nun in den Weinläden probieren und | |
kaufen. Der besonders leckere Riesling wird übrigens auch im Restaurant | |
Starka in Oppeln ausgeschenkt, man kann ihn dort auf der Terrasse | |
unmittelbar am Ufer der Oder schlürfen. | |
Die nächste Station ist die Hauptstadt der Oder. Als Breslau 2016 Europas | |
Kulturhauptstadt wurde, war der Kulturzug die einzige Verbindung in die | |
Odermetropole mit ihren 650.000 Einwohnern. Als 1997 die Scheitelwelle des | |
Oderhochwassers auf die Stadt zurollte, verteidigten die Bürgerinnen und | |
Bürger ihren gerade erst sanierten Marktplatz mit Sandsäcken. An der | |
Universität am Oderufer brachten Freiwillige die Bücher aus dem Keller in | |
die oberen Stockwerke. Selbst Hooligans, die wohl noch nie ein Buch in der | |
Hand hatten, waren unter den Helfern, sagte jemand, der damals dabei war. | |
Nach Oppeln hält der Oderexpress in Cosel. Dort befand sich einst der nach | |
Duisburg zweitgrößte Binnenhafen des Deutschen Kaiserreichs. Denn über | |
Cosel wurde die Kohle aus dem oberschlesischen Revier über einen Kanal auf | |
die Oder verschifft. Heute ist der Kanal ein Grund dafür, dass sich auch | |
Kattowitz dem Odergebiet zugehörig fühlt. | |
Von Ratibor, das die KreuzbergerInnen wohl vor allem wegen der nach der | |
Stadt benannten Straße kennen, nähert sich der Zug dem | |
polnisch-tschechischen Grenzgebiet. Im nahen Schloss Lubowitz, heute eine | |
Ruine, wurde Joseph von Eichendorff geboren. Immer wieder hat der | |
Romantiker am Oderufer die Gesänge der Flößer mit ihrem „wasserpolnischen�… | |
Dialekt gehört, einige ihrer Lieder hat er ins Deutsche übersetzt. Dass | |
Eichendorff auch Polnisch sprach, machte ihn zum Gegenstand | |
literaturwissenschaftlicher Forschungen, deren Ergebnisse in den Zeszyty | |
Eichendorffa, den Eichendorff-Heften veröffentlicht werden. | |
Der letzte Oderbahnhof auf dem Weg nach Wien befindet sich in Ostrau. Vor | |
allem die Österreicher, die mit dem Zug der ÖBB reisen, dürften sich dort | |
halb heimisch fühlen. Einst war Schlesisch-Ostrau Teil der Donaumonarchie | |
und galt als das österreichische Ruhrgebiet. Von Ostrau ist es übrigens | |
nicht weit zur Oderquelle in den mährischen Oderbergen. | |
Will dann noch jemand weiterfahren nach Wien? Oder wartet man nicht besser | |
auf den Gegenzug? Und vielleicht steigt man ja in Rzepin um in den IC | |
„Swarożyc“ und fährt noch ein wenig mit dem polnischen Oderexpress nach | |
Stettin. Von da ist es auch nicht mehr weit ans Meer. | |
## Berlin, Wien, Lemberg, Sibiu | |
Lange Warteschlangen, wenig Platz und eine miserable Umweltbilanz – | |
Urlaubsreisen mit dem Flugzeug haben viele Nachteile. Aber es gibt ja | |
Alternativen per Bahn. Im Zug gibt es mehr Bewegungsfreiheit und keine | |
Flugscham. Und von Berlin aus kann man – sofern keine pandemiebedingten | |
Einschränkungen dazwischenkommen – viele Ziele in Mittel-, Ost- und | |
Südosteuropa ansteuern. Das ist meist recht preisgünstig und oft gar nicht | |
umständlich. | |
Natürlich kann man den Schwierigkeitsgrad auch erhöhen. Wer Beratung | |
wünscht, kann sie in Berlin in der Bahnagentur Schöneberg in der | |
Crellestraße bekommen. Gründer Peter Koller kennt sich bestens aus und hat | |
sogar einen Reiseführer über die Ukraine geschrieben. Sehr einfach und | |
schnell geht es von Berlin nach Warschau. „In Polen ist in den letzten | |
Jahren viel passiert“, sagt Koller. Es gab Investitionen in Wagenpark und | |
Infrastruktur. | |
Im Normalfall – also ohne Corona – fährt viermal am Tag der | |
„Warschau-Express“ von Berlin ab. Aktuell steht zumindest ab 17. Juni | |
täglich ein Zug in der Reiseauskunft. In rund sechs Stunden kommt man | |
direkt in die polnische Hauptstadt. Die ist an sich schon eine Reise wert, | |
eignet sich aber auch als Etappenziel auf dem Weg in die Ukraine, für deren | |
Besuch EU-Bürger kein Visum, sondern nur einen Reisepass benötigen. Von | |
Warschau fährt – im Normalfall – täglich am späten Nachmittag ein Nachtz… | |
Richtung Kiew. | |
„Auf der Strecke sind noch ältere Waggons unterwegs“, sagt Koller. Die | |
werden mitten in der Nacht in einer riesigen Werkhalle einzeln angehoben, | |
um die Fahrwerke auf die breitere osteuropäische Spur umzurüsten. | |
Wahrscheinlich ist man da aber ohnehin schon wach, weil kurz vorher | |
Grenzbeamte die Pässe kontrollieren. Je nachdem wie viel Pause man sich in | |
Warschau gönnt, kann der Dnipro also per Zug in einem Tag und einer Nacht | |
erreicht werden. | |
Kiew ist eine moderne Metropole, die ihre sowjetische Prägung mehr und mehr | |
verliert. Es gibt noch viele Gründerzeithäuser zu sehen – und eine | |
lebendige Kunst- und Musikszene. Viele jüngere Menschen verstehen Englisch, | |
dennoch ist es ganz hilfreich, wenn man zumindest die kyrillischen | |
Buchstaben lesen kann. Vom Krieg im Osten des Landes bekommt man im Alltag | |
kaum etwas mit, es gibt auch keine Reisewarnung für die Ukraine außerhalb | |
der Konfliktzone. | |
Innerhalb des Landes gibt es von Kyjiw, wie es auf Ukrainisch heißt, zu | |
allen anderen Großstädten tagsüber Verbindungen mit dem Intercity. Die | |
modernen Züge aus südkoreanischer Produktion fahren auf den Hauptstrecken | |
160 Kilometer pro Stunde. Langsamer fahren die Nachtzüge, die aber unter | |
anderem wegen des noch niedrigeren Fahrpreises beliebt sind. Wer die Nacht | |
zumindest in einem 4er-Abteil verbringen will, sollte als Kategorie „Kupe“ | |
wählen. Hinter „Platskartna“ verbirgt sich ein offener Schlafsaal auf | |
Rädern, in dem man von den Mitreisenden alles mitbekommt. | |
Wer sich beim Ticketkauf den Dialog am Schalter ersparen will, kann sich | |
die App der Staatsbahn herunterladen. Ein anderer Weg in die Ukraine | |
beginnt abends in Berlin. Die Nachtzüge der österreichischen Bahn (ÖBB) | |
Richtung Wien und Budapest führen nämlich auch Kurswagen nach Przemysl mit. | |
Die Stadt liegt im Südosten Polens kurz vor der Grenze zur Ukraine. Dort | |
kommt der Zug um 8 Uhr morgens an. Weiter geht es gegen 13 Uhr mit dem | |
ukrainischen Intercity Richtung Kyjiw, das der Schnellzug am späten Abend | |
erreicht. Die Züge werden in der Fahrplanauskunft der ukrainischen Bahn | |
inzwischen wieder angezeigt, allerdings kann man derzeit keine Tickets | |
kaufen, weil die Grenze noch geschlossen ist. | |
Wenn sie wieder geöffnet wird, lohnt es sich auch, nach gut 100 Kilometern | |
in Lwiw (Lemberg) auszusteigen. Die alte Hauptstadt Galiziens hat viel | |
Geschichte, einen komplett erhaltenen historischen Stadtkern und eine immer | |
bessere Infrastruktur. Derzeit wird etwa die bisher ziemlich klapprige | |
Straßenbahn vom Bahnhof in die Altstadt saniert. „Das Unterkunftsangebot | |
ist gut und die Gastronomie großartig“, sagt Koller. Und bis zur | |
Gebirgskette der Karpaten ist es auch nicht weit. | |
Weiter südlich ist Budapest der Knotenpunkt für Reisen auf den Balkan. Aus | |
Berlin erreicht man die ungarische Hauptstadt am bequemsten umsteigefrei | |
mit einem Nachtzug der Österreichischen Bahn (ÖBB), die vor ein paar Jahren | |
auch die Nachtzüge der Deutschen Bahn übernommen hat und das Angebot | |
seither ausbaut. Bis zur Coronakrise fuhren die Züge täglich um 18.45 Uhr | |
von Berlin über Wroclaw in Polen und Ostrava in Tschechien. Ein Zugteil | |
steuerte Budapest an, ein anderer Wien. Während die Nachtzüge nach Wien ab | |
dem 28. Juni wieder angeboten werden, gibt es für die Direktfahrt nach | |
Budapest noch keine Auskunft. Üblicherweise kamen die Züge dort etwa um | |
8.30 Uhr an. | |
Von Budapest gibt es normalerweise viele Verbindungen nach Rumänien. | |
„Allerdings ist der internationale Zugverkehr noch unterbrochen“, so | |
Koller. Am bequemsten geht es per Nachtexpress Richtung Bukarest. Die | |
Waggons sind relativ modern und erreichen die rumänische Hauptstadt gegen | |
Mittag. Ohne Pandemie und geschlossene Grenzen sind es mit dem Zug also | |
zwei Nächte und ein Tag von Berlin nach Bukarest mit einem einzigen | |
Zugwechsel. Die Stadt erinnert mit ihren breiten Boulevards an Paris oder | |
Madrid und besitzt ein großes Kneipenviertel im Zentrum sowie einige | |
architektonische Zeugnisse der Gigantomanie des früheren Diktators | |
Ceausescu. Es bietet sich allerdings auch an, vorher in Sibiu, dem früheren | |
Hermannstadt, aus dem Zug aus Budapest auszusteigen. | |
Die alte Handelsstadt in Siebenbürgen war vor einigen Jahren | |
Kulturhauptstadt Europas und zieht seither mehr und mehr ausländische | |
Touristen an. Sibiu eignet sich auch als Ausgangspunkt für Wandertouren in | |
die südlichen Karpaten. „Der Fagaras-Höhenweg führt über 70 Kilometer an | |
bis zu 2.500 Meter hohen Gipfeln vorbei, teilweise mit | |
Klettersteigcharakter“, sagt Koller.Ähnlich interessant wie Sibiu ist | |
Brasov etwa 150 Kilometer weiter östlich im Karpatenbogen. Nicht weit | |
entfernt in Bran befindet sich eine der Burgen, in denen das historische | |
Vorbild für Graf Dracula (Vlad, der Pfähler) gelebt haben soll. | |
Fährt man innerhalb Rumäniens mehrfach mit dem Zug, lohnt sich die App der | |
Staatsbahn, die es auch auf Englisch gibt. Auch Umbuchungen sind damit | |
möglich. Wer nach vielen Ebenen und Gebirgen das Meer sehen will, kann von | |
Bukarest aus mehrmals täglich in rund zweieinhalb Stunden Constanța am | |
Schwarzen Meer erreichen. Gleich neben der historischen Altstadt der rund | |
2.800 Jahre alten griechischen Gründung beginnen kilometerlange | |
Sandstrände. Wer mehr Herausforderungen mag, kann sich auf die Reise | |
Richtung Bulgarien begeben. Die Route entspricht der des legendären | |
„Orient-Express“. Ausgangspunkt ist Budapest. Unter normalen Umständen | |
fährt täglich am späten Abend ein Nachtzug nach Belgrad, der auch | |
Schlafwagen mitführt. | |
Wer sich traut, die Tickets ohne Hilfe online auf der Seite der ungarischen | |
Bahn zu kaufen, sollte sich vergewissern, dass auch wirklich der | |
Schlafwagen reserviert wird. Die Webseite gibt es zwar auch auf Deutsch, | |
allerdings recht holprig übersetzt. Dank zahlreicher Zwischenstopps braucht | |
der Zug für die etwa 400 Kilometer rund acht Stunden. Man hat also Zeit zu | |
schlafen. Derzeit wird die Verbindung allerdings weder in der deutschen | |
noch in der ungarischen Fahrplanauskunft angezeigt. | |
Von Budapest gibt es aber Alternativen per Bus – die sind dann auch | |
schneller. Am Morgen erwartet die Reisenden in der serbischen Hauptstadt | |
einer der hässlichsten Bahnhöfe Europas: Beograd Centar. An dem | |
Betonungetüm wird seit den 70er Jahren gebaut – er ist sozusagen Serbiens | |
BER. Fertig ist der Bahnhof immer noch nicht, aber seit 2018 in Betrieb. | |
Und damit es nicht zu leicht wird, fährt der Zug nach Sofia von einem | |
anderen Bahnhof ab. Der Bahnhof Topcider ist nur wenige Kilometer von | |
Beograd Centar entfernt und deutlich kleiner – bietet aber den früheren | |
Wartesaal des jugoslawischen Königshauses und Titos. Von dort sind es mit | |
dem Schnellzug rund elf Stunden nach Sofia. Der Zug wird ab dem 23. Juni | |
wieder täglich um 9.15 Uhr angeboten. | |
Landschaftlich ist besonders die zweite Hälfte der Strecke mit Aussichten | |
auf schroffe Gipfel des Balkangebirges interessant. Die Tour nach Sofia ist | |
also nichts für eilige Menschen: In zwei Nächten und zwei Tagen kommt man | |
gut 1.700 Kilometer voran, überquert sechs Grenzen und lernt in Sofia die | |
dritte Währung nach dem ungarischen Forint und dem serbischen Dinar kennen. | |
Als Belohnung warten eine sehr vielfältige Küche, mindestens 5.000 Jahre | |
Geschichte und ein Hochgebirge am Stadtrand. | |
## Ein Tunnel nach Prag | |
Schroffe Felsen, Wälder und ein Fluss, der sich hindurchschlängelt. Das | |
Elbsandsteingebirge ist eine Urlaubsgegend, Bahnreisende wissen das zu | |
schätzen. Südlich von Dresden, wo sich das Elbtal verengt, schmiegt sich | |
die Bahnstrecke von Dresden nach Prag an den Fluss. Am anderen Ufer zieht | |
Bad Schandau vorbei. Und in Tschechien geht es so weiter: Kurve um Kurve | |
folgen die Gleise der Elbe. Richtung Prag folgt die Bahn schließlich der | |
Moldau. Auch dort geht es kurvenreich weiter, auch wenn die Hügel am Ufer | |
nicht mehr so hoch sind. | |
Doch Eisenbahnromantiker müssen nun stark sein, denn die seit Mitte des 19. | |
Jahrhunderts genutzte Strecke ist ein Auslaufmodell – jedenfalls, was den | |
Fernzugverkehr angeht. Stattdessen soll die Eisenbahn bei Heidenau hinter | |
Dresden bald in Deutschlands längstem Fernzugtunnel verschwinden und erst | |
auf der anderen Seite des östlichen Erzgebirges wieder ans Licht kommen, | |
von dort geht es entlang der Autobahn Richtung Prag. Statt auf Burgen und | |
Weinberge blicken die Reisenden dann auf 100 Kilometern Strecke auf Beton, | |
Tankstellen und Großmärkte. Vorteil: Auf der neuen Strecke können die Züge | |
nicht nur deutlich schneller fahren, sie ist auch kürzer. Statt etwa | |
zweieinhalb Stunden soll die Fahrt von Dresden nach Prag nur noch eine | |
Stunde dauern. | |
Auch Berlin rückt näher an Prag. Die Strecke nach Sachsen wird ohnehin für | |
Hochgeschwindigkeitszüge modernisiert. Wenn der Tunnel fertig ist, dauert | |
es von Berlin statt viereinhalb Stunden nur noch zweieinhalb. Doch das | |
Riesenprojekt steht noch am Anfang. Derzeit läuft in Sachsen das | |
Raumordnungsverfahren. Dabei wird geprüft, inwieweit das Vorhaben mit | |
anderen Erfordernissen der Landesplanung kollidiert. In den nächsten Wochen | |
erwarte die Deutsche Bahn, die das Projekt gemeinsam mit der Tschechischen | |
Bahn plant, ein Ergebnis, sagte ein Bahnsprecher der taz. | |
Im Januar und Februar waren die Pläne öffentlich ausgelegt worden. Bis Ende | |
März gingen insgesamt 5.600 Stellungnahmen ein. Seitdem prüft die Behörde. | |
Im Rennen sind sieben Varianten für die Tunnelstrecke auf deutscher Seite | |
(Grafik unten). „Fest steht bereits die ungefähre Lage des Einbindepunkts | |
in Heidenau sowie des Ausbindepunkts des Tunnels in Ústí nad Labem“, so die | |
DB. Auch, wo der Tunnel die Grenze unterquert, weil die Planung auf | |
tschechischer Seite schon weiter gediehen ist. Die Varianten, von denen | |
zwei von einer Bürgerinitiative vorgeschlagen wurden, unterscheiden sich in | |
ihrem Verlauf und ihrer Tiefe. Die BI möchte gern so viel wie möglich im | |
Tunnel verschwinden lassen. Je tiefer der aber startet, umso länger wird | |
er. Das könnte am Ende teurer werden. Die Varianten der DB verlaufen fast | |
alle östlich der bestehenden Autobahn und enthalten bis auf eine auch | |
oberirdische Streckenabschnitte. | |
Ob die Varianten auch technisch machbar sind, wird in einem nächsten | |
Schritt geprüft. Noch in diesem Jahr wollen die beiden Partner gemeinsam | |
die Projektsteuerung ausschreiben, hieß es. Dann soll eine Vorzugsvariante | |
herausgearbeitet werden, mit der die DB später ins | |
Planfeststellungsverfahren einsteigt, das ebenfalls im Dialog mit der | |
Region durchgezogen werden soll, um spätere Klagen zu vermeiden. So etwas | |
dauert erfahrungsgemäß Jahre. Mitte des Jahrzehnts könnte die Vorplanung | |
abgeschlossen sein. Dann müssen die Parlamente noch zustimmen. | |
Läuft es gut, kann gegen Ende dieses Jahrzehnts mit dem Bau begonnen | |
werden, gegen Ende des nächsten könnten die Züge fahren. Für die DB ist es | |
eine Premiere: Es ist ihr erster grenzüberschreitender Tunnel. Wie viel das | |
alles kostet, ist noch nicht klar. Seriös schätzen könne man die Höhe | |
ohnehin nicht, bevor auch genaue geologische Untersuchungen des | |
Trassenverlaufs stattgefunden hätten, so ein Bahnsprecher. Mit 25 bis 30 | |
Kilometern wäre der neue Tunnel ungefähr halb so lang wie der | |
Brenner-Basistunnel, der derzeit von Italien und Österreich gebaut wird und | |
um die 8 Milliarden Euro kosten soll. Da es zwischen Dresden und Prag nicht | |
durch ein Hochgebirge geht, könnte es aber auch weniger sein. | |
Der deutsche Anteil kommt aus dem Bundeshaushalt. Bei der Bahn ist man | |
entsprechend schmerzfrei, was die Kosten angeht. Die Strecke steht bereits | |
im Bundesverkehrswegeplan als vordringlicher Bedarf. Außerdem ist sie Teil | |
des Paneuropäischen Transportkorridors 4. Dabei geht es um die Verbindung | |
zwischen den Häfen der Nordseeküste und Südosteuropa. Der Korridor soll die | |
Transportwege am Rhein und durch die Alpen östlich umgehen und entlasten. | |
Der Tunnel ist also Teil eines größeren Puzzles.Tatsächlich ist auch jetzt | |
schon viel los, vor allem im Güterverkehr. Der Grenzübergang im sächsischen | |
Schöna ist laut DB der am zweitstärksten frequentierte im deutschen | |
Schienennetz. Für 2030 werden täglich 32 Fernzüge und 101 Güterzüge | |
erwartet. Auch deshalb ist der Tunnelbau in der Region populär. Besonders | |
die Güterzüge machen viel Lärm, der im engen Elbtal zwischen den Felsen hin | |
und her schallt. Das kollidiert mit den touristischen Interessen in der | |
Region. Zwar hält der Eurocity in Bad Schandau, aber von den Güterzügen hat | |
man vor Ort nichts. | |
Auch beim Kundenverband Pro Bahn ist man vom Tunnel begeistert. Er sei eine | |
Chance, touristischen Verkehr vom Flugzeug auf die Schiene zu bringen. „Bei | |
zweieinhalb Stunden Fahrzeit zwischen Berlin und Prag lohnt sich die Fahrt | |
sogar für einen Tagesausflug“, sagt Sprecher Karl-Peter Naumann. Und bei | |
einer Stunde Fahrzeit würden Dresden und Prag praktisch Nachbarstädte | |
werden. Das sei auch für Berufspendler interessant. Die jetzige Strecke | |
durch das Elbtal sei zwar schön, aber langsam und laut. „Das entspricht | |
nicht mehr der Zeit.“ | |
Naumann weist allerdings darauf hin, dass man den Güterverkehr nur | |
erfolgreich auf die neue Strecke bringe, wenn sie auch sehr lange und | |
schwere Züge aufnehmen könne. Dafür muss das Gefälle niedrig sein. Das | |
könnte die Baukosten erhöhen. Auch im Berliner Senat sieht man sich als | |
Gewinner. „Die Initiative zum Ausbau der Strecke | |
Rostock–Berlin–Dresden–Prag-Wien-Budapest ging auf die Länder Berlin, | |
Brandenburg, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern zurück“, heißt es aus der | |
Senatsverwaltung für Verkehr. Die ostdeutschen Länder hätten das | |
Bundesverkehrsministerium gebeten, eine Entlastungsstrecke mit einem | |
Tunneldurchstich nahe der neuen Autobahn nach Prag mit hoher Priorität in | |
den Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen. | |
Für den Berliner Schienenfernverkehr in Richtung Prag, Bratislava, Wien, | |
Graz und Budapest könnten mit der neuen Tunnelstrecke attraktive Fahrzeiten | |
angeboten werden, die ähnlich wie bei der Schnellfahrstrecke Berlin–München | |
zu einem Verlagerungseffekt vom Flugzeug auf den klimafreundlichen | |
Schienenverkehr beitragen können. Dies gelte auch für den Güterverkehr. | |
Mit dem Wiederaufbau der 1952 stillgelegten Dresdner Bahn, die 2026 | |
fertiggestellt sein soll, seien alle Voraussetzungen auf Berliner Gebiet | |
geschaffen. „Die Strecke wird von der Berliner Stadtgrenze bis Dresden mit | |
Tempo 200 befahrbar sein.“ Ein Trost für Fans der alten Strecke: Sie wird | |
weiterhin von Regionalzügen befahren. | |
13 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
Marco Zschieck | |
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