# taz.de -- Militärdienst in Eritrea: Das Land ist ein großes Gefängnis | |
> Eritreas Regierung betrachtet seine Bürger als permanente Kriegsreserve. | |
> Die Ausreise ist der Weg, dem Dienst zu entgehen. | |
Bild: Ein Eriteer auf einer Fregatte der deutschen Marine im Mittelmeer. | |
BERLIN taz | Wer sich fragt, warum so viele Menschen aus Eritrea fliehen, | |
sollte nach Vancouver reisen, die westkanadische Metropole am Pazifik. Vor | |
dem obersten Gericht der kanadischen Provinz British Columbia hat eine | |
Gruppe eritreischer Flüchtlinge Klage gegen eine kanadische Bergbaufirma | |
eingereicht, die in Eritrea eine große Kupfer- und Goldmine betreibt. | |
Nevsun Resources, das die gigantische Tagebaumine Bisha gemeinsam mit | |
Eritreas staatlicher Bergbaufirma in einem Joint Venture betreibt, soll den | |
250 Millionen Dollar teuren Minenkomplex, der sich über mehrere Kilometer | |
erstreckt, ab 2008 von lokalen Zwangsarbeitern errichtet haben lassen, so | |
die Kläger: Etwa 500 eritreische Wehrpflichtige hätten in der gleißenden | |
Hitze tief in der eritreischen Wüste arbeiten müssen, um das Bergwerk | |
funktionsfähig zu machen. Erst wurde nahe der Oberfläche Gold gefördert; | |
seit Kurzem wird bis in 475 Meter Tiefe gegraben, um geschätzte 25 | |
Millionen Tonnen Kupfererz mit wertvollen Gold-, Silber- und Zinkspuren zu | |
fördern. | |
Bisha ist einer von Eritreas wichtigsten Devisenbringern; Bergbaufirmen aus | |
Kanada sind für ihre Risikofreudigkeit in Afrika bekannt. Aber wenn Nevsun | |
Resources demnächst vor Gericht ausführen muss, wie es seine Belegschaft in | |
Eritrea rekrutiert und wen der eritreische Staat in die Minen schickt, dann | |
könnte das finstere Zwangsarbeitssystem, das den kleinen Staat am Roten | |
Meer am Laufen hält, erstmals öffentlich unter die Lupe genommen werden. | |
Allein im Jahr 2014 suchten nach UN-Angaben 44.600 Eritreer in Europa Asyl | |
– gegenüber 14.580 im Jahr 2013 und 6.400 im Jahr 2012. Laut UNO leben | |
360.000 der etwas über 6 Millionen Eritreer als Flüchtlinge im Ausland, vor | |
allem in den Nachbarländern Äthiopien und Sudan. Viele machen sich | |
weiterhin auf die beschwerliche Reise nach Libyen. Dort versuchen sie, sich | |
auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer Richtung Europa zu begeben. | |
## Zehn Jahre Kriegsdienst | |
Der Hauptgrund für die Flucht, so ist Schilderungen von Flüchtlingen zu | |
entnehmen: Eritreas Regierung betrachtet seine Bürger als permanente | |
Kriegsreserve. Es besteht allgemeine Wehrpflicht für alle Frauen und Männer | |
im Alter zwischen 18 und 50 Jahren, die zunächst offiziell aus 18 Monaten | |
Militärausbildung, aktivem Dienst sowie „Entwicklungsarbeit“ – zum Beisp… | |
Zwangsarbeit in Minen – besteht, in der Praxis oft viel länger dauert, | |
sogar zehn Jahre oder mehr, und die Jugendlichen von ihren Familien trennt | |
und sie daran hindert, selbst Familien zu gründen. | |
Nach Ende des Wehrdienstes bleibt jeder Bürger Soldat der Reserve und kann | |
bis zum Erreichen des Höchstalters jederzeit eingezogen. Die Streitkräfte | |
Eritreas umfassen daher rund 200.000 Mann (und Frau), eine absurd hohe Zahl | |
für ein Land mit 6 Millionen Einwohnern. Die einzige Art, sich dem zu | |
entziehen und sein eigenes Leben gestalten zu können, ist die Emigration – | |
aber Ausreise ist illegal. Eritrea ist ein großes Gefängnis. | |
Ein vernichtender Untersuchungsbericht der UN-Menschenrechtskommission, der | |
mit Eritrea ähnlich scharf ins Gericht geht wie ansonsten nur mit Syrien | |
oder Nordkorea, schilderte im Juni diesen Jahres all diese Zustände sowie | |
das allumfassende Spitzel- und Überwachungssystem, das die Bevölkerung „in | |
ständiger Angst“ halte, Verschwindenlassen, unmenschliche Foltermethoden | |
und Haftbedingungen in Wüstenlagern. | |
Der UN-Bericht wurde von Eritreas Regierung scharf zurückgewiesen, nachdem | |
sie jede Zusammenarbeit mit der Menschenrechtskommission zuvor verweigert | |
hatte. Unterstützer des Regimes behaupten, die UN-Ermittler hätten sich | |
einseitig auf Angaben von Flüchtlingen verlassen – eine Einreiseerlaubnis | |
nach Eritrea erhielten sie allerdings nicht. | |
## Noch nie Wahlen | |
Eritreas Staatschef Isaias Afewerki sieht sich als Führer eines Landes im | |
permanenten Überlebenskampf. Eritrea, eine ehemalige italienische Kolonie | |
mit idyllischen Bergstädten, in denen man noch heute Espresso unter | |
Kirchenglocken in der Sonne genießen kann, lebt ständig im Schatten des | |
fünfzehnmal größeren Nachbarn Äthiopien, das nach dem Ende der | |
italienischen Herrschaft nach dem Zweiten Weltkrieg Eritrea besetzt hielt | |
und jahrzehntelang einen brutalen Krieg gegen lokale Befreiungsbewegungen | |
führte. Erst 1991 erkämpfte sich Eritreas Guerilla, die noch heute | |
herrschende EPLF (Eritreische Volksbefreiungsfront) den Sieg, was zugleich | |
zum Umsturz in Äthiopien selbst führte. | |
Eritrea wurde in die Unabhängigkeit entlassen, aber schon 1998 folgte ein | |
mörderischer Grenzkonflikt mit Äthiopien, bei dem es in Wahrheit darum | |
ging, wer der bessere Krieger in der Region sei. Eritrea verlor, die | |
Regierung Afewerki zog sich in die Schmollecke zurück, wirft Äthiopien bis | |
heute Nichtrespektierung der Friedensvereinbarungen vor und sieht in jeder | |
inneren Opposition seitdem eine fünfte Kolonne des Feindes. | |
Es hat noch nie Wahlen gegeben – 1997 sollten erstmals welche stattfinden, | |
aber sie wurden auf unbestimmte Zeit verschoben. Es gibt keine freien | |
Medien – alle nichtstaatlichen Medien wurden 2001 geschlossen, Staatsmedien | |
unterliegen strenger Zensur, und Eritrea ist nach Angaben von Reporter ohne | |
Grenzen das Land, aus dem weltweit am meisten Journalisten fliehen und in | |
dem mehr Journalisten in Haft sitzen als irgendwo sonst in Afrika. | |
Unter Eritrea-Kennern in Deutschland bestehen durchaus gespaltene Meinungen | |
dazu. Langjährige Sympathisanten der regierenden EPLF, die in den 1980er | |
Jahren in einer Reihe mit marxistischen Guerillagruppen anderswo kämpfte, | |
verweisen darauf, Eritrea habe zahlreiche Millenniums-Entwicklungsziele | |
erreicht und die Kritik an der Regierung sei ungerecht: „Niemand, den ich | |
kenne und der das Land verlassen hat, wurde politisch oder religiös | |
verfolgt“, behauptet der seit Jahrzehnten mit Eritrea solidarische | |
Buchautor Martin Zimmermann in einem Schreiben an die taz in Reaktion auf | |
die Berichterstattung über den UN-Menschenrechtsbericht. | |
## „Psychologisches Gefängnis“ | |
„Um das Land verteidigen zu können, setzte die Regierung auf eine totale | |
Mobilisierung der Bevölkerung; dem entziehen sich jeden Monat zwischen | |
3.000 und 5.000 Menschen, indem sie aus Eritrea fliehen“, fasst | |
demgegenüber ein von der Regionalexpertin Annette Weber, die vergangenes | |
Jahr Eritrea bereiste, verfasstes neues Papier der deutschen Stiftung | |
Wissenschaft und Politik die Lage zusammen. | |
Immerhin soll Eritreas Regierung nach Angaben der | |
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zugesagt haben, | |
Wehrdienstverweigerung nicht mehr als Hochverrat zu verfolgen – auf den die | |
Todesstrafe stehen kann. Und illegale Emigranten dürften auch wieder nach | |
Hause zurück, wenn sie sich bei der eritreischen Botschaft ihres Gastlands | |
schriftlich entschuldigen und die auf alle Eritreer im Ausland erhobene | |
„Diasporasteuer“ von 2 Prozent ihres Einkommens bezahlen. | |
Man werde die Begrenzung des Wehrdienstes auf 18 Monate zukünftig sogar | |
einhalten, versprachen die eritreeischen Behörden. Und die Europäische | |
Union erwägt nun, ihre 2011 gestoppte Entwicklungshilfe für Eritrea wieder | |
aufzunehmen: mit 200 Millionen Euro, die in die Stromversorgung fließen | |
sollen. | |
Ob all dies genügt, um eritreische Flüchtlinge aufzuhalten oder gar zur | |
Rückkehr zu bewegen, bezweifeln Menschenrechtler. Viele von ihnen lebten | |
auch nach ihrer Flucht in einem „psychologischen Gefängnis“, schrieb der | |
eritreische Flüchtling Ismail Einashe vergangenes Jahr in einem Beitrag für | |
die Zeitschrift Index on Censorship: „Sogar wenn sie es in den Westen | |
schaffen, haben sie Angst, sich öffentlich zu äußern, und sie haben Angst | |
um ihre Familien zu Hause. Für diesen Artikel weigerten sich eine Anzahl | |
von Eritreern, interviewt zu werden, aus Angst vor den Folgen.“ | |
28 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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