# taz.de -- Gründe für die Flucht aus Afghanistan: Schlange stehen für eine … | |
> Afghanen machen nach den Syrern die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe aus. | |
> Die erste Hürde vor der Ausreise ist für viele schon der Passantrag. | |
Bild: Ende September vor der Passstelle in Kabul. | |
KABUL taz | Die Warteschlange vor dem Passausstellungsamt in Kabul ist | |
lang. Jeden Tag kommen mehrere hundert, manchmal sogar tausend Menschen mit | |
allerlei Dokumenten unter dem Arm. Manche von ihnen stehen schon nachts an, | |
um einen guten Platz zu ergattern. Letztendlich wollen sie jedoch nur | |
eines: raus aus Afghanistan. | |
Dafür benötigt man aber den neuen Reisepass, den viele Afghanen noch nicht | |
haben. Der alte, handgeschriebene Pass ist seit letztem Jahr ungültig. „Wir | |
bearbeiten im Durchschnitt 2.000 Anträge pro Tag“, sagt einer der Beamten. | |
„Das sind alles potenzielle Flüchtlinge. Die meisten von ihnen wollen nach | |
Europa“, fügt er hinzu. | |
Bis zum vergangenen Jahr machten Menschen aus Afghanistan weltweit die | |
größte Gruppe von Flüchtlingen aus. Damals befanden sich rund 2,6 Millionen | |
Afghanen, fast ein Zehntel der Gesamtbevölkerung des Landes, auf der | |
Flucht. Gegenwärtig sind sie nach den Syrern die zweitgrößte Gruppe. Allein | |
von Januar bis August 2015 beantragten über 40.000 Afghanen Asyl in Europa. | |
Die täglichen Szenen am Passausstellungsamt machen deutlich, dass diese | |
Tendenz steigen wird. „Ich will nicht mehr in Krieg und Armut leben“, meint | |
etwa der 19-jährige Faisal, der ungeduldig in der Schlange steht. Faisal | |
studiert in Kabul. „Hier ist alles korrupt. Egal wie gut man ist, man | |
bekommt keinen Job ohne die richtigen Beziehungen“, sagt er. Wenn er seinen | |
Reisepass hat, will er zuerst in die Türkei fliegen. „Von dort aus kämpfe | |
ich mich dann nach Europa durch“, sagt er. | |
Laut der NGO Transparency International gehört Afghanistan weiterhin zu den | |
korruptesten Staaten der Welt. Die Vetternwirtschaft im Land floriert seit | |
Jahren. In nahezu jeder Institution hat die Korruption Fuß gefasst. | |
Darunter leiden vor allem junge Menschen aus unteren Schichten, die zwar | |
oft eine gute Ausbildung vorweisen können, allerdings nicht die jeweiligen | |
Kontakte haben. | |
Außerdem befindet sich die afghanische Wirtschaft in einem katastrophalen | |
Zustand. Gemeinsam mit einem Großteil der internationalen Truppen sind auch | |
viele Investoren abgezogen. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind in die | |
Höhe geschossen, genauso wie die Anzahl der Arbeitslosen, Bettler, Diebe | |
und Prostituierten. | |
## Es herrscht weiterhin Krieg | |
Es ist allerdings nicht nur die stagnierende Wirtschaft, die Armut erzeugt. | |
In Afghanistan herrscht weiterhin Krieg. Vergangene Woche nahmen die | |
Taliban die Stadt Kundus im Nordosten ein. Einige Tage später wurde die | |
Stadt von Regierungstruppen weitgehend zurückerobert. Die Regierung wirft | |
den Islamisten vor, in Kundus getötet, vergewaltigt und gefoltert zu haben. | |
Am Samstag wurden bei einem [1][US-Luftangriff auf ein Krankenhaus] der | |
Stadt 19 Menschen getötet. | |
Allein im ersten Halbjahr 2015 wurden laut UN mindestens 5.000 Zivilisten | |
getötet. Auch das Jahr zuvor war ein blutiges Jahr. 2014 wurden in | |
Afghanistan mehr Kinder getötet als im Irak, in Syrien oder in Palästina. | |
„Es ist nicht so schlimm, dass ich keinen anständigen Job habe. Allerdings | |
will ich nicht, dass meine Kinder mit Bomben und Raketen aufwachsen“, meint | |
etwa Jawed, der gemeinsam mit Frau und Kind aus der naheliegenden Provinz | |
Paghman angereist ist, um seinen Passantrag einzureichen. | |
Für viele Afghanen ist schon der neue Pass eine große Hürde. Abgesehen vom | |
langen Warten wird eine Gebühr von 5.000 Afghani, rund siebzig Euro, pro | |
Kopf erhoben. Für eine afghanische Durchschnittsfamilie ist das ein kleines | |
Vermögen. Wer jedoch die richtigen Beamten schmiert – und das machen vor | |
allem Reiche – wird durchgewunken und erhält seinen Pass innerhalb | |
kürzester Zeit. Andere müssen mindestens zwei Monate darauf warten. | |
Die Ärmsten trifft man allerdings nicht am Passausstellungsamt. Sie bleiben | |
sich selbst überlassen. Viele von ihnen verscherbeln ihr überschaubares Hab | |
und Gut, um Menschenschmuggler bezahlen zu können, die sie in den Iran | |
bringen. Dort leben über eine Millionen afghanische Flüchtlinge – die | |
Dunkelziffer dürfte um einiges höher sein. | |
Im Iran sind Afghanen Diskriminierung ausgesetzt. Außerdem werden sie oft | |
als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Manche von ihnen schickt die | |
iranische Regierung gar nach Syrien und verpulvert sie dort als Bashar | |
al-Assads Kanonenfutter. Außerdem werden afghanische Flüchtlinge regelmäßig | |
schon an der Grenze von iranischen Sicherheitskräften erschossen. Doch in | |
der Hoffnung auf ein besseres Leben nehmen viele diese Risiken in Kauf. | |
Hoffnungen haben auch die Menschen vor dem Passausstellungsamt. Die | |
jüngsten Nachrichten aus Europa haben auch hier die Runde gemacht. Dass | |
Deutschland seine Grenzen geöffnet und viele Flüchtlinge freundlich | |
empfangen hat, weiß fast jeder von ihnen. „In Saudi-Arabien oder im Iran | |
werden wir wie Dreck behandelt. Aber Deutschland zeigt Menschlichkeit“, | |
stellt der 23-jährige Zafar fest. Sein Ziel ist die Bundesrepublik. | |
Dass dort mittlerweile wieder Grenzkontrollen eingeführt worden sind und | |
Politiker wie Thomas de Maizière in Sachen Flüchtlingspolitik immer rauere | |
Töne schlagen, hat er nicht mitbekommen. „Wenn man vor ihnen steht, können | |
sie doch nicht so unmenschlich sein“, hofft er. | |
5 Oct 2015 | |
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## AUTOREN | |
Emran Feroz | |
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