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# taz.de -- Gründe für die Flucht aus Syrien: „Ich nähme das nächste Flug…
> Klar, im Land herrscht Krieg. Aber wovor fliehen die Syrer gerade jetzt
> zu uns? Was muss geschehen, damit sie zu Hause bleiben können?
Bild: Aleppo, September 2015
Berlin taz | Zwanzig Checkpoints musste Abou Adnan passieren, mit
gefälschten Papieren. „Jedes Mal bleibt dein Herz stehen, weil du weißt,
dass du jederzeit verhaftet werden kannst“, schreibt der 26-jährige
Mediziner für The Syria Campaign, einen Aufruf syrischer
zivilgesellschaftlicher Gruppen im Internet.
Dass er es vor wenigen Wochen aus den östlichen Vororten von Damaskus bis
nach Deutschland schaffte, grenzt an ein Wunder. Denn Ost-Ghouta ist eines
der am stärksten vom Krieg gezeichneten Gebiete Syriens. Seit Jahren vom
Assad-Regime abgeriegelt, 2013 mit Giftgas angegriffen, unter
Dauerbombardement – „durchschnittlich acht Luftangriffe am Tag“ zählte A…
Adnan.
Der angehende Chirurg gehört zu den mehr als 109.000 Syrern, die seit 2011
einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben, genauer gesagt zu den etwa
34.000 jungen syrischen Männern, die in diesem Jahr illegal über das
Mittelmeer und die Balkanroute gekommen sind.
Viele Deutsche fragen sich, warum gerade jetzt so viele Syrer
hierherdrängen. Doch wer dieser Tage Europa erreicht, ist meist schon lange
unterwegs: als Vertriebener innerhalb des Landes auf der Suche nach
Sicherheit oder als Gestrandeter in den Nachbarstaaten auf der Suche nach
einer Perspektive.
## Sicherheit und eine bessere Zukunft
Beides haben die Syrer nicht gefunden, auch weil die internationale
Gemeinschaft zu wenig tut, um den Syrern ein (Über-)Leben in der Region zu
ermöglichen. Deshalb macht sich, wer noch Ersparnisse hat oder unterwegs
mit Schwarzarbeit das nötige Fluchtgeld verdienen kann, auf nach
Westeuropa. Dort gibt es sowohl Sicherheit als auch Zukunftsperspektiven.
So weit, so logisch. Um aber, wie Europas Politiker immer lauter fordern,
die Ursachen der Flucht bekämpfen zu können, müssen wir genauer hinsehen.
Die ersten syrischen Flüchtlinge waren Aktivisten, die ab April 2011 in den
Libanon oder nach Jordanien flohen, weil sie als Protagonisten der
Revolution vom Assad-Regime beschossen, verfolgt, verhaftet und zu Tode
gefoltert wurden. Größere Gruppen von Zivilisten setzten sich ab Februar
2012 in Bewegung, als das Regime damit begann, Wohnviertel zu bombardieren.
Einen offenen Krieg, der ganze Straßenzüge oder Orte verwüstet, gibt es in
Syrien folglich seit dreieinhalb Jahren.
## Über die Hälfte der Syrer sind vertrieben worden
Inzwischen gelten zwölf Millionen Syrer als vertrieben – mehr als die
Hälfte der Bevölkerung. Die meisten von ihnen, etwa acht Millionen, irren
weiter durch das Land. Faktisch sind die Grenzen ringsum geschlossenen.
Mehr als vier Millionen haben es in die Nachbarländer geschafft und sich
vom UNHCR registrieren lassen, die tatsächliche Zahl der Syrer im Libanon,
in der Türkei und in Jordanien liegt deutlich darüber.
Angesichts dieser Belastung sind die Syrer dort nicht mehr willkommen. Sie
dürfen nicht legal arbeiten, die meisten Kinder gehen nicht zur Schule (im
Libanon 78%), sie vegetieren in wilden Camps ohne Wasser- und
Stromversorgung (Libanon), schlagen sich mit Betteln und Schwarzarbeit in
den Großstädten durch (Türkei) oder harren in isolierten Zeltstädten in der
Wüste aus (Jordanien).
Alles ist zu ertragen für ein paar Wochen oder Monate, aber für die
nächsten Jahre, womöglich den Rest des Lebens? Mit der sinkenden Hoffnung
auf eine Lösung des Konflikts und eine Rückkehr in die Heimat steigt der
Wunsch nach einem Neubeginn anderswo. Hinzu kommen Erfolgsgeschichten – der
Bruder in Frankfurt, eine Cousine in Wien, der Nachbar in Schweden, alle
haben Asyl bekommen. Also weiterziehen, nach Europa.
## Regierung, Rebellen, Kurden und IS
Für Flüchtlinge, die direkt aus Syrien kommen, sind insbesondere die Türkei
und der Libanon nur noch Transitländer. Syrien ist in vier Einflusszonen
zerfallen, in denen 1. das Assad-Regime, 2. verschiedene Rebellengruppen,
3. die PKK-nahe kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) oder 4. der
selbst ernannte Islamische Staat (IS) herrschen. Aus allen vier Gebieten
kommen Syrer zu uns, allerdings aus verschiedenen Gründen.
Warum Menschen vor dem Terrorregime des IS fliehen, ist bekannt. Allerdings
kann man unter IS-Herrschaft durchaus leben so lange man Sunnit ist (wie
die meisten Menschen im syrischen IS-Gebiet), sich an die schrecklichen
Regeln hält und für einen stabilen Brotpreis persönliche Unfreiheit in Kauf
nimmt. Tatsächlich ist in Syrien nicht der IS, sondern Assad der wichtigste
Fluchtgrund. Das Regime tötet mit seiner Luftwaffe mindestens sieben Mal so
viele Zivilisten wie der IS. Dieser „Terror aus der Luft“, wie ihn
zivilgesellschaftliche Gruppen nennen, zerstört all jene Gebiete, die von
Rebellen – gemäßigten wie islamistischen – kontrolliert werden.
Die Hilfsorganisation Ärzte Ohne Grenzen berichtet für August von „heftigen
Bombardierungen an 20 aufeinanderfolgenden Tagen im belagerten Ost-Ghouta“,
wo sie 13 provisorische Untergrundkliniken unterstützt und wo auch Abou
Adnan operierte. Jedes vierte Opfer – ob tot oder verletzt – war ein Kind
unter fünf Jahren. Der angehende Chirurg will endlich „normale Operationen
lernen statt Granatsplitter aus Kinderbeinen zu ziehen“, deshalb ist Abou
Adnan in Deutschland.
## Von lokalen Milizenführern drangsaliert
Wer den Luftangriffen des Regimes entkommen möchte und es nicht über die
Grenzen schafft, rettet sich entweder in die kurdischen PYD-Gebiete im
Norden oder paradoxerweise in Assads Kernland – das Zentrum von Damaskus
oder die Küstenprovinzen Lattakia und Tartous. Diese werden zwar von
Rebellen mit Raketen angegriffen und vereinzelt explodieren Bomben des IS,
aber im Vergleich zu den Fassbomben des Regimes sind sie deutlich sicherer.
Dafür werden die Menschen dort von lokalen Milizenführern drangsaliert, von
den Geheimdiensten überwacht. Stillhalten und den Kopf einziehen sind die
wichtigsten Überlebensstrategien in Assad-kontrollierten Regionen.
Allerdings regt sich unter Assad-Unterstützern zunehmend Unmut, vor allem
unter den Alawiten, der Konfessionsgruppe, zu der auch der Assad-Clan
zählt. Zu viele Söhne haben die Alawiten für den Machterhalt des Bashar Al
Assad geopfert ohne etwas dafür zu bekommen. Im Gegenteil, sie fühlen sich
vom IS oder von radikalen Rebellengruppen bedroht, während Assad selbst nur
noch mit Hilfe des Iran und der libanesischen Hisbollah überlebt.
Die Tatsache, dass Russland an der Küste einen Militärflughafen ausbaut und
Material und Soldaten schickt, dient als weiterer Beweis dafür, dass Assad
das Gebiet nicht mehr schützen kann. Seine Armee ist am Ende, gerade junge
Alawiten flüchten deshalb vor Zwangsrekrutierung nach Europa.
## Vor dem Militärdienst flüchten
Vor dem Militärdienst fliehen auch Kurden aus Qamishli und anderen Orten
der von der PYD verwalteten Region Rojava. Seitdem Männer zwischen 18 und
35 Jahren bei den Volkverteidigungseinheiten gegen den IS mitkämpfen
müssen, verlassen viele das Land. Afrin, der westlichste der drei
kurdischen Kantone, hat deshalb sogar ein Ausreiseverbot verhängt. Denn
wenn immer mehr syrische Araber in Afrin Schutz vor Assads Bomben suchen
und zugleich die syrischen Kurden weggehen, fürchtet die PYD einen
demographischen Wandel zu Ungunsten der Kurden.
Was also ist zu tun, damit die Syrer zuhause bleiben bzw. dorthin
zurückkehren? Laut Abou Adnan haben die meisten seiner Landsleute nur einen
Wunsch: Schutzzonen, die Leben retten und vielen eine Rückkehr ermöglichen
würden. „Ich wäre der erste, der im Flugzeug nach Hause säße“, sagt der
26jährige.
21 Sep 2015
## AUTOREN
Kristin Helberg
## TAGS
Schwerpunkt Syrien
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