# taz.de -- Debatte Asylpolitik: Im Schatten der Überforderung | |
> Die „Flüchtlingskrise” ist keine Krise der Ressourcen, sondern eine des | |
> Willens. Sie ist inszeniert. Warum bleiben die HelferInnen | |
> politikabstinent? | |
Bild: In Wien demonstrierten 100.000 für eine „menschliche Asylpolitik“. I… | |
Im November 2015 kann niemand mehr sagen, er hätte nicht gewusst, dass das | |
recht friedliche Mittelmeer jeden Tag Pässe an die Ufer spült von | |
BesitzerInnen, die elend in ihm ertrunken sind. Allgemein bekannt ist auch, | |
dass die Überlebenden auf ihrem Fußweg ins nördliche Europa eine endemische | |
Gewalt seitens der staatlichen Ordnungshüter erwartet, zusätzlich zu Hunger | |
und Kälte. | |
Was aber bewirkt dieses Wissen von Tausenden Toten, Verletzten und | |
Erniedrigten, die alle zu retten gewesen wären? | |
Die Konservativen und Reaktionäre spucken in die Hände und schaffen Fakten. | |
Für sie gilt: Wer erniedrigt werden kann, hat sein Recht auf Menschenwürde | |
vertan, der soll draußen bleiben, in seinem Herkunftsland verrecken oder – | |
wenn’s eben gar nicht anders geht – in einer der noch einzurichtenden | |
Transitzonen. | |
Wer es trotzdem nach Deutschland geschafft hat, wird buchstäblich | |
eingelagert. Der schnellstens durchgepeitschte Asylkompromiss ist ein | |
glänzendes Beispiel für die menschenverachtende Professionalität der | |
Nationalkonservativen, die sich übrigens in allen Parteien finden. Er trat | |
sogar noch eine Woche vor dem anvisierten Termin zum 1. November in Kraft. | |
Wo war sie da, die derzeit als Generalentschuldung inflationär bemühte | |
überforderte Bürokratie? | |
## Kein Drehkreuz für Flüchtlinge | |
Auf der anderen Seite stehen die Nichteinverstandenen. Viele von ihnen | |
krempeln seit Wochen oder auch Monaten die Ärmel hoch und helfen. Ihnen | |
widerstrebt es, dass inmitten von Europa Kleinkinder von ihren Eltern in | |
Pappkartons gelegt werden müssen, damit sie ein bisschen weniger frieren, | |
zu Essen haben sie so gut wie nichts. Einige von den Entsetzten werden zu | |
FluchthelferInnen. | |
Andere gleichen das Staatsversagen im Inland aus. Sie finden es falsch, | |
dass mitten in der deutschen Hauptstadt Zustände wie in einem | |
Entwicklungsland herrschen und die rein männlich besetzte Security hart | |
losprügelt, wenn es ihr zu viel wird. Sie fühlen sich auch von den Bildern | |
der nun weitgehend leeren Ersthilfezentren in München verletzt. Die nämlich | |
waren bis vor Kurzem weitgehend ungenutzt, nicht weil die ehrenamtlichen | |
HelferInnen überfordert gewesen wären, sondern die bayerische | |
Innenverwaltung beschloss, dass München kein „Drehkreuz für Flüchtlinge” | |
sei. Während München auf Vertriebene wartet, brennt in Niederbayern die | |
Hütte. Die Inszenierung von Deutschland, das an seine Grenzen stoße, | |
braucht schließlich Futter. Auf geht’s in die kleineren Kommunen, | |
hilfewillige und -fähige Städte bitte weiträumig umfahren! | |
Doch statt Wut über diese Dreistigkeit der PolitikerInnen in den | |
Entscheiderbüros überwiegt bei den Helfenden noch immer der Eindruck von | |
„Das gibt es doch nicht!“ Weshalb fast keiner von ihnen lauthals den | |
Rücktritt von Seehofer oder von de Maizière fordert oder wenigstens das | |
Rollen von ein paar Köpfen auf Landesebene. Präsident Wulff stürzte über | |
ein Bobbycar – weil seine kleinbürgerlichen Glamour-Ambitionen gemeinsam | |
mit dem Satz, der Islam gehört zu Deutschland, die Nation erzürnten. | |
Im Zusammenhang mit Vertriebenen gerät nicht einmal der unter | |
Korruptionsverdacht stehende Leiter der Erstregistrierungsstelle in Berlin, | |
Franz Allert, unter Druck. Und das, obwohl neben zahlreichen, den | |
katastrophalen Umständen geschuldeten Fehlgeburten, wie die Caritas | |
berichtet, auch eine Kindesentführung auf dem von ihm verantworteten | |
Territorium tödlich endete. Worauf wartet die Öffentlichkeit noch? Was hält | |
sie davon ab, die offenkundigen Missstände in einen politischen | |
Zusammenhang zu stellen und endlich die Verantwortlichen politisch zu | |
attackieren? | |
Symptom für diese bizarre Politikabstinenz ist auch, dass es bislang nicht | |
eine Demonstration in Deutschland gegeben hat, die das Recht auf Asyl als | |
Grundrecht verteidigt und sich gegen seine Aushöhlung durch die | |
selbsternannten Überforderten auflehnt. In Wien gingen für „eine | |
menschliche Asylpolitik“ im Oktober 100.000 Menschen auf die Straße. In | |
deutschen Städten gibt es eine solide Mobilisierung gegen Pegida, aber noch | |
keine für Migration. | |
## Krise des Willens | |
Offensichtlich treibt das omnipräsente Argument der Überforderung die | |
HelferInnen in die Defensive. Nur: Deutschland ist nicht überfordert. | |
Deutsche Städte haben überhaupt kein Problem damit, mehrere tausend | |
Menschen nicht im Regen stehen zu lassen, wie sich bei jedem Fußballspiel | |
beobachten lässt. Auch finanziell gibt es keinen Grund, den Fremdenhassern | |
das Feld zu überlassen. | |
So überschlägt der Präsident des Deutschen Instituts für | |
Wirtschaftsforschung (DIW) jüngst in einem Interview mit n-tv: „Wir rechnen | |
mit 15 Milliarden Euro Überschüssen für nächstes Jahr, obwohl dort schon | |
knapp 10 Milliarden Euro zusätzliche Kosten für Flüchtlinge berücksichtigt | |
sind.“ Finanzminister Wolfgang Schäuble, so Marcel Fratzscher weiter, werde | |
dieses und nächstes Jahr die schwarze Null erreichen. Hey, die große | |
schwarze Null wird erreicht! Ob sie auch die große schwarze Null für | |
Menschenrechte bedeutet, liegt in der Verantwortung derer, die eine offene | |
Gesellschaft wollen. | |
„Wir haben 600.000 offene Stellen, und das sind nur die, die ausgeschrieben | |
sind“ – Fratzscher wird erfreulicherweise nicht müde, neue Zahlen in die | |
Diskussion zu werfen. Ihm zufolge geht es allein darum, Menschen mit | |
passenden Stellen zusammenzubringen. Was nominell die Aufgabe der Jobcenter | |
ist, die diese Vermittlung aber insbesondere für Geflüchtete nicht leisten | |
– und auch dieses Defizit ist politisch gewollt. | |
Es ist Teil der jahrzehntelang praktizierten Strategie, Asylsuchende vom | |
Arbeitsmarkt fernzuhalten, um den weißen Biodeutschen zu schützen. Doch sie | |
ist nicht nur grundlegend rassistisch, sondern auch wirtschaftlich nicht | |
mehr tragbar, wie auch die IG Metall jüngst feststellte und die schnelle | |
Integration in den Arbeitsmarkt ohne Lohndumping fordert. | |
Die „Flüchtlingskrise” ist keine Krise der Ressourcen, sie ist eine Krise | |
des Willens zur Vorstellung, dass die deutsche Gesellschaft sich ändern, | |
also öffnen kann. Und das nicht in 40-Jahres-Schritten, sondern jetzt. | |
4 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Ines Kappert | |
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