| # taz.de -- Leistungsdruck bei Arbeiterkindern: Der Fluch des besseren Lebens | |
| > Ihr sollt es mal besser haben als ich, sagen Arbeitereltern zu ihren | |
| > Kindern. Und schicken sie auf eine Reise, bei der die Kinder nie ankommen | |
| > können. | |
| Bild: Die Unzufriedenheit war von nun an das Problem ihrer Kinder | |
| Ich möchte, dass ihr gut in der Schule seid, studiert, einen guten Beruf | |
| lernt und unabhängig seid. Ich möchte, dass ihr mal [1][ein besseres Leben | |
| habt als ich]. | |
| Diese Sätze haben viele Arbeiterkinder gehört. Besonders beliebt sind sie | |
| bei proletarischen Eltern mit Migrationsgeschichte. Es sind Sätze, die ein | |
| volles Leben lang nachklingen und eine ganze Biografie bestimmen. Es sind | |
| gut gemeinte Sätze, die zur Plage werden. Es sind Sätze voller Zuversicht, | |
| die diese Kinder wie ein Fluch verfolgen. | |
| Wie genau diese Sätze im Wortlaut formuliert werden, ist unerheblich. | |
| Wichtig ist die Macht dieser Sätze. Und dass die Kinder sie, wenn sie | |
| einmal ausgesprochen sind, nie wieder loswerden. Dass sie ihnen immer | |
| wieder durch den Kopf schießen, selbst wenn die Kinder längst keine Kinder | |
| mehr sind. | |
| Dass sie diese Sätze ein Leben lang hören, ganz unabhängig davon, ob sie | |
| das, was ihre Eltern nicht hatten und was sie ihren Kindern gewünscht | |
| haben, erreicht haben oder nicht: Schule gut, [2][Studium geschafft], Beruf | |
| gelernt, mehr Geld, mehr Unabhängigkeit, mehr Anerkennung, besseres Leben. | |
| Die Sätze schießen ihnen zum Beispiel durch den Kopf, wenn sie abends nach | |
| Feierabend in der S-Bahn stehen und unzufrieden aus dem Fenster starren, | |
| weil ihr Arbeitstag zwar voll in Ordnung, aber nicht herausragend war. | |
| Wenn sie das Gefühl haben, dass sie an diesem Tag zwar alle Anforderungen | |
| erfüllt, aber nichts Besonderes geschaffen haben: kein genialer Text, kein | |
| außergewöhnliches Lob, [3][keine bemerkenswerte Wortmeldung]. Wenn sie dann | |
| das Gefühl bekommen, dass das nicht reicht, dass es so nicht weitergeht auf | |
| diesem Weg nach oben, auf den ihre Eltern sie einst nur in bester Absicht | |
| losgeschickt haben. | |
| ## Das Gewissen ist autoritärer | |
| Wenn die Sätze ihnen also nach Feierabend in der S-Bahn durch den Kopf | |
| schießen und Zweifel auslösen, dann haben ihre Eltern sie fest im | |
| Würgegriff, obwohl es gerade gar keine Probleme gibt. Obwohl das Leben | |
| gerade so schön sein könnte. Eigentlich haben sie alles, was sie dafür | |
| brauchen. Aber nicht ihre Eltern haben sie fest im Würgegriff. Die wollen | |
| doch nur das Beste! Es ist ihr Gewissen, eine innere Stimme, eine Instanz, | |
| die geboren wurde, als ihre Eltern jene Sätze zum ersten Mal ausgesprochen | |
| haben. | |
| Die Eltern dagegen haben sehr früh nicht mehr verstanden, was ihr Kind da | |
| eigentlich genau studiert, was es arbeitet und wonach es strebt. Aber wozu | |
| auch? Sie sahen ja, dass ihr Kind dabei war, einen ganz anderen Weg zu | |
| gehen als sie selbst. Das war genug, um sie zufrieden zu machen. Die | |
| Unzufriedenheit war von nun an das Problem ihrer Kinder. | |
| Und denen passiert es, dass sie nach einem soliden Arbeitstag in der S-Bahn | |
| unzufrieden aus dem Fenster starren, als sie eine Nachricht von einem | |
| Elternteil bekommen. Darin wird ihnen mitgeteilt, wie stolz man auf sie ist | |
| und auf das, was sie erreicht haben. | |
| Die schönen Worte können aber nichts anrichten gegen das gemeine und nie | |
| zufriedene Gewissen, gegen jene innere Stimme, die viel autoritärer und | |
| gewaltsamer ist, als es eine Mutter oder ein Vater jemals sein kann. Dieses | |
| Gewissen lacht dann sein Bösewichtlachen, würgt sie noch ein bisschen | |
| fester und flüstert ihnen die Sätze einmal mehr in die Ohren: | |
| Ich möchte, dass ihr gut in der Schule seid, studiert, einen guten Beruf | |
| lernt und unabhängig seid. Ich möchte, dass ihr mal ein besseres Leben habt | |
| als ich. | |
| 17 Jul 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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