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# taz.de -- Meine Idealvorstellung von Bildung: Frei von Hintergedanken
> In Deutschland stehen viele Schulkinder unter großem Leistungsdruck.
> Dabei sollte Bildung keinen Zweck verfolgen, sondern ein Wert an sich
> sein.
Bild: Hoher Druck insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund: Abiturpr�…
Nicht weit von einer Grundschule, einer Stadtteilschule und mehreren Kitas
entfernt wohne ich. Wenn in meinem Wohnzimmer die Fenster offenstehen, kann
ich manchmal die spielenden Kinder von der Grundschule hören. Und auf
meinem Weg zur Arbeit sehe ich viele Eltern und Kinder auf dem Weg in die
Schulen und Kitas. Keine Sorge, das wird keine Kolumne über
[1][Elterntaxis]! Ich möchte ein paar Gedanken über Schule und Bildung
teilen.
Ich komme aus einer Familie und einem Umfeld, die man in Deutschland als
bildungsfernes Milieu beschreiben würde. Das ist ein komischer Ausdruck
dafür, dass meine Eltern aufgrund ihrer Vertreibung nach dem Sechstagekrieg
1967 von den syrischen Golanhöhen ihre schulische Bildung nicht
weiterführen konnten.
Meine Eltern haben aber großen Wert darauf gelegt, dass alle ihre Kinder
eine gute Schul- und Weiterbildung bekommen. Wir sind neun Kinder und wir
haben alle Ausbildungen oder Studiengänge absolviert. Zahnmedizin,
Verwaltungswesen, Politikwissenschaften, Chemisch-Technische Assistenz. In
Deutschland sind wir dann wohl das, was man hier „Aufsteiger“ nennt.
In meiner Kindheit und Jugend hat mich niemand gefragt, ob ich meine
Hausaufgaben gemacht habe. So habe ich gelernt, selbständig zu arbeiten. In
der Schule war ich in manchen Fächern sehr gut, in anderen okay und in
einigen war es eher schwierig. Wenn ich Hilfe brauchte, konnte ich meine
Geschwister fragen – aber die Erwartungshaltung war, dass ich mich selber
darum kümmern sollte, so gut wie möglich in der Schule zu sein.
Circa 15 Jahre später und in Deutschland angekommen, habe ich ein ganz
anderes Umfeld kennengelernt. Viele (erwachsene) Menschen erzählten mir
emotional, wie sehr sie in ihrer Schulzeit unter Druck standen. Oder wie
viele Sorgen sie sich darüber machen, ob ihre Kinder ausreichende Noten für
die richtigen Schulen haben. Ich bekomme auch mit, dass insbesondere
Familien mit Flucht- oder Migrationsgeschichte großen Druck verspüren und
ausüben, weil sie wollen, dass ihre Kinder die beste Bildung bekommen. Für
mich ist das nur teilweise nachvollziehbar.
Einerseits sehe ich die Herausforderungen, die die migrantischen Menschen
hier haben. Eine Studie der OECD aus dem Jahr 2018 hat bestätigt, dass ein
sogenannter sozialer Aufstieg in Deutschland [2][vergleichsweise schwer
ist]: Während ein Aufstieg aus einer niedrigen Einkommensklasse im
OECD-Durchschnitt viereinhalb Generationen dauert, sind es in Deutschland
sechs Generationen.
In meiner Familie wurde nicht gelernt oder studiert, um einen sozialen
Aufstieg zu schaffen oder um die Einkommensklasse zu verändern, sondern
weil unsere Eltern uns vermittelt haben, dass gute Bildung ein Wert an sich
ist.
Hier in Deutschland nehme ich Bildung jedoch als ein Mittel gegen
[3][Armut], [4][Rassismus] und [5][Diskriminierung] war – nicht als ein
Ziel an sich. Ich denke, dass das einer der Gründe ist, warum speziell
migrantische Familien so großen Druck verspüren. Familien, die in erster
oder zweiter Generation in Deutschland leben, sind armutsgefährdeter, haben
schlechtere Teilhabechancen, kleinere Wohnungen. Das betrifft auch mich als
ehemaligen Flüchtling.
Andererseits möchte ich nicht, dass meine zukünftigen Kinder schon in der
Grundschule unter diesem Druck oder diesem Perfektionismus leiden müssen.
Ich möchte, dass meine künftigen Kinder ihr Leben genießen können, mit
allen Privilegien, die das Leben in einer Stadt wie Hamburg mit sich
bringt.
Meine Herausforderung und auch die vieler anderer Eltern lässt sich in
dieser Frage fassen: Wie kann man Bildung als Ziel anstreben und
gleichzeitig Erfolg im Leben über den akademischen und beruflichen Erfolg
hinaus definieren? Denn es ist so wichtig, ein erfülltes Leben zu führen
und manchmal auch einfach nur den Stimmen der spielenden Kinder vom
benachbarten Spielplatz zuzuhören.
8 Oct 2024
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[5] /Diskriminierung/!t5008580
## AUTOREN
Hussam Al Zaher
## TAGS
Migration
Hamburg
Schule
Bildung
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Bertelsmann-Stiftung
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