# taz.de -- Anja Karliczek über die Pisa-Studie: „Das hat mich erschreckt“ | |
> Herkunft bestimmt Zukunft, zeigt die aktuelle Pisa-Studie: | |
> Bildungsministerin Anja Karliczek will das ändern. Wie, erklärt sie im | |
> Interview. | |
Bild: „Ohne eine Zusammenarbeit von Ländern und Bund wird es im Bildungsbere… | |
taz am wochenende: Frau Karliczek, ist unser Bildungssystem gerecht? | |
Anja Karliczek: Gerechtigkeit heißt für mich, dass wir es schaffen müssen, | |
wirklich jede Schülerin und jeden Schüler so optimal, wie es geht, zu | |
fördern. Da ist schon eine Menge passiert, dank des Engagements unserer | |
Lehrerinnen und Lehrer vor allem. | |
Aber? | |
Aber wir schaffen es immer noch nicht, wirklich jedem die Möglichkeit zu | |
geben, das Beste aus sich rauszuholen zu können. Über Chancengerechtigkeit | |
wird nun seit Jahrzehnten diskutiert. Dass wir 20 Prozent junge Leute | |
haben, die mit 15 Jahren, also kurz bevor sie die Schule verlassen, nicht | |
sinnverstehend einen Text lesen können, hat mich erschreckt. Das passt | |
überhaupt nicht zu unserem Ziel, niemanden zurückzulassen. | |
Die aktuelle Pisa-Studie zeigt, dass dies viel häufiger Kinder aus unteren | |
Schichten sind als Kinder aus Akademikerfamilien. Warum? | |
Das Elternhaus prägt natürlich die Kinder. Wenn man zu Hause keine | |
Unterstützung bekommt, ist es viel schwieriger, beispielsweise das Lesen | |
für sich zu entdecken. | |
Es liegt also an den Eltern, dass ihre Kinder in der Schule und bei den | |
Pisa-Tests schlechter abschneiden? | |
Nein, natürlich ist unser Bildungssystem, die gesamte Gesellschaft, | |
gefordert, schlechtere Startchancen auszugleichen. Gleichwohl ist es | |
wichtig, das Bewusstsein noch mehr zu fördern, wie wichtig Bildung ist. | |
Der hessische CDU-Kultusminister Lorz hat die Pisa-Ergebnisse damit | |
begründet, dass an den Schulen heute mehr Kinder mit Migrationshintergrund | |
lernen. Machen Sie auch die Zuwanderer dafür verantwortlich, dass | |
Deutschland Mittelmaß ist? | |
Ich glaube, es gibt nicht nur eine Ursache. Das wäre nicht richtig. Ein | |
Punkt ist aber sicher, dass die Heterogenität größer wird. Wir haben heute | |
viel mehr Kinder aus anderen Kulturkreisen. Je homogener eine Klasse ist, | |
desto einfacher ist es natürlich für Lehrerinnen und Lehrer, die Kinder | |
abzuholen. Je größer die Heterogenität, desto schwieriger ist es. Deshalb | |
haben wir gerade das Programm „Schule macht stark“ für Schulen in | |
schwierigen sozialen Lagen aufgelegt. | |
Mit diesem 125-Millionen- Programm für Brennpunktschulen erreichen Bund und | |
Länder in den nächsten fünf Jahren 200 Schulen. Nicht mal jede tausendste | |
allgemeinbildende Schule. | |
Das ist nicht das einzige Programm. Wir schicken jetzt Wissenschaftler in | |
die Schulen, damit sie herausfinden, was wirkt. | |
Aber es gibt doch längst Schulen, die es schaffen, ihre Schüler trotz | |
unterschiedlicher Voraussetzungen auf Spitzenniveau zu bringen. Etwa die | |
mit dem [1][Schulpreis prämierten Schulen]. | |
Der Schulpreis zeigt uns immer Leuchttürme. Aber wir brauchen ein Angebot | |
von Konzepten und Instrumenten, das alle Schulen nutzen können. Das gibt es | |
noch nicht. | |
Neben den leistungsschwachen werden auch die starken Schüler gefördert. Mit | |
ebenfalls 125 Millionen Euro. Müssten Sie nicht viel mehr in die weniger | |
privilegierten Schüler investieren? | |
Nein, in beide Programme. Wir müssen auch die Leistungsstarken besser | |
fördern. Auch das ist eine Frage von Gerechtigkeit. Es muss unser Anspruch | |
sein, dass wir jedem Kind immer wieder die Chancen bieten, seine eigenen | |
Grenzen zu verschieben. | |
Ist es dann sinnvoll, Kinder noch vor der Pubertät in „begabungsgerechte“ | |
Schulformen aufzuteilen? Auf den nichtgymnasialen Schulformen ist das | |
Leseniveau deutlich geringer, die Leistungsspitze fehlt fast gänzlich, wie | |
Pisa zeigt. | |
Es macht auf jeden Fall Sinn, Kinder in homogene Lerngruppen aufzuteilen. | |
Dort sind Lehrerinnen und Lehrer am besten in der Lage, sie auch richtig zu | |
fördern. Bedenken Sie: Auch Leistungsschwächere brauchen Erfolgserlebnisse | |
und Leistungsstärkere weiterführende Angebote und auch Wettbewerb. | |
Das geht nur in homogenen Gruppen? | |
Wir haben in den letzten Jahren ständig über Schulstrukturen diskutiert, | |
anstatt zu überlegen, wie man Kinder in den gegebenen Strukturen besser | |
fördern kann – ein Fehler. | |
Einig sind sich alle jedoch darin, dass man früh beginnen muss. Nun hat die | |
CDU auf ihrem Parteitag den Beschluss gefasst, bei allen Kindern im Alter | |
von 4 Jahren verbindlich die Deutschkenntnisse zu testen. Und dann? | |
Dann muss es eine verpflichtende Förderung geben, bis die Kinder in die | |
Schule kommen. | |
Und wenn sie nicht gut genug Deutsch sprechen: Werden sie dann | |
zurückgestellt? | |
Wenn man sie zwei Jahre ganz intensiv fördert, dann, glaube ich, ist bei 99 | |
Prozent diese Frage nicht mehr relevant. Kinder lernen ja so schnell. | |
Und das eine Prozent? | |
Wer zur Einschulung noch Defizite hat, sollte in den ersten Monaten in der | |
Schule ganz gezielt unterstützt werden. | |
Die Frage ist nur, wer das leisten soll. Bis 2025 fehlen bis zu 600.000 | |
ErzieherInnen. | |
Wir müssen mehr ausbilden. Es gibt viele Anstrengungen, den Erzieherberuf | |
zu stärken. | |
Momentan herrscht aber noch ein eklatanter Mangel. Sowohl bei ErzieherInnen | |
als auch bei LehrerInnen und Sozialpädagogen. Was haben die Länder | |
versäumt? | |
Wir haben zu lange Stellen sowie Studien- und Ausbildungsplätze abgebaut | |
und uns zu spät auf steigende Schülerzahlen eingestellt. Außerdem gibt es, | |
wie in anderen Berufen auch, Fluktuation. | |
Muss der Bund die Länder bei der Ausbildung von Pädagogen nicht stärker | |
unterstützen? | |
Wir investieren bereits in die Qualität der Lehrerausbildung. Aber die | |
Anzahl der Studienplätze ist Sache der Länder und der Hochschulen. Die | |
Länder müssen eine gemeinsame Strategie entwickeln. | |
Trauen Sie ihnen das zu? Gegenwärtig werben sich die Länder die | |
LehrerInnen gegenseitig ab. | |
Im Grunde haben doch alle Länder die gleichen Sorgen. Also sollten sie auch | |
gemeinsam diskutieren und sich dabei von der Wissenschaft beraten lassen. | |
Sie spielen auf den Nationalen Bildungsrat an, der die Politik beraten | |
soll. Vor allem Unionspolitiker waren dagegen. Fühlen Sie sich von Ihren | |
eigenen Parteifreunden im Stich gelassen? | |
Wenn die Länder das Problem ohne den Bund lösen können, dann hätten wir mit | |
der ganzen Diskussion um den Nationalen Bildungsrat einiges erreicht. Ich | |
bin aber überzeugt: Ohne eine Zusammenarbeit von Ländern und Bund wird es | |
im Bildungsbereich nicht gehen. Der Bund ist bereit, sich zu engagieren. | |
Es war zu lesen, Frau Karliczek habe ihre CDU nicht im Griff. Sie zucken | |
mit den Schultern … | |
Die Diskussion verläuft an dieser Stelle ja nicht entlang von CDU/CSU und | |
SPD, sondern zwischen Bund und Ländern. Es sind auch nicht alle Länder | |
glücklich damit, dass es so gelaufen ist. | |
Jetzt haben die KultusministerInnen sich überraschend geeinigt: Statt des | |
Bildungsrats soll ein Wissenschaftlicher Beirat die Länder beraten. Der | |
Bund bleibt außen vor. Was halten Sie davon? | |
Es ist gut, dass alle Kultusminister nun doch Handlungsbedarf sehen und die | |
Expertise der Wissenschaft stärker einbeziehen wollen. Immerhin. Wir müssen | |
aber schauen, wie nun dieses Gremium ausgestaltet und wie der Bund | |
einbezogen wird. | |
Braucht es eine neue Föderalismusdebatte, wenn man bei bestimmten Punkten | |
einfach nicht weiterkommt? | |
Das führt uns nicht weiter, wenn wir immer wieder die Verteilung der | |
Zuständigkeiten im Bundesstaat infrage stellen, anstatt zu fragen, wie wir | |
eine bessere Zusammenarbeit innerhalb der Strukturen hinkriegen. | |
Aber daran hapert es doch. Nehmen Sie die Abiturstandards. Sachsen | |
fürchtet, wie Berlin zu werden. Und alle Länder haben Angst, ihre | |
Unabhängigkeit aufzugeben. | |
Wir wollen doch alle miteinander einen hohen Bildungsstandard. Das sage ich | |
auch in Richtung Bayern oder Sachsen: Wenn sie hohe Bildungsstandards haben | |
wollen, dann können sie sich gern an meine Seite stellen. | |
Viele Studierende sind nicht an ihrer Seite. Sie bekommen zwar mehr Bafög, | |
aber für die Miete reicht es kaum. Finden Sie es okay, wenn sich München | |
oder Heidelberg nur Kinder reicher Eltern leisten können? | |
Ich glaube, andersherum wird ein Schuh draus. Egal, wo man in Deutschland | |
studiert – überall wird ein qualitativ sehr hochwertiges Studium angeboten. | |
Aber haben nicht alle das Recht, sich ihren Studienort frei zu wählen – | |
unabhängig von den finanziellen Ressourcen? | |
Der Bund stellt zum Beispiel Milliarden für den sozialen Wohnungsbau zur | |
Verfügung. Die sollten die Länder auch für Studentenwohnheime nutzen. Das | |
Problem von günstigem Wohnraum für Studierende müssen die Länder lösen. | |
Den Berliner Mietendeckel begrüßen Sie also? | |
Nein. Denn der Mietendeckel löst das Problem von mangelndem Wohnraum nicht. | |
Zurück zur Bildung. Was muss jetzt passieren: Brauchen wir einen neuen | |
Bildungsgipfel? | |
Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung für bessere Bildung. Ein | |
„Weiter so“ geht nicht. Gerade nach den aktuellen Pisa-Ergebnissen! | |
6 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.deutscher-schulpreis.de/ | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
Ralf Pauli | |
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