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# taz.de -- Menschen ohne Abschluss: Wir brauchen die Störenfriede
> Jährlich verlassen in Deutschland 47.500 Menschen ohne Abschluss die
> Schule. Bildung braucht eine Revolution. Die Pioniere könnten die
> Abbrecher sein.
Bild: Das muss anders!
Das herkömmliche System der allgemeinbildenden Schulen ist doch echt Anfang
letztes Jahrhundert. Es arbeitet mit Druck als Lernmotivation, anstatt
Fähigkeiten zu fördern, trennt Menschen, statt sie zu verbinden, und zwingt
Jugendliche zu Unzeiten in einen Käfig, anstatt ihnen Freiräume zu bieten,
wenn sie am wachesten sind.
Manche ertragen das nicht: In Deutschland verlassen jährlich 47.500 junge
Menschen die Schule ohne Hauptschulabschluss, gibt die Bertelsmann-Stiftung
[1][in einer Studie] bekannt. Das sind etwa 6,2 Prozent der entsprechenden
Altersgruppe.
Die Verantwortung liegt bei den Schulen; den Abbrecher:innen ist kein
Vorwurf zu machen.
## Wen behindert das System?
[2][Wider besseres Wissen] müssen Jugendliche zu früh in die Schule gehen.
Der Schlafrhythmus verschiebt sich während der Pubertät bekanntermaßen, und
trotzdem stehen die Schüler:innen seit etwa 150 Jahren um 8 Uhr morgens
auf der Matte. Dort wird ihnen frontal Prüfungsrelevantes ins Gehirn
gebügelt, um sie schließlich mit einer Einteilung von sehr gut bis
ungenügend abzukanzeln. Keiner und keine sollte das erdulden müssen.
Nicole Hollenbach-Biele, Expertin für schulische Bildung bei der
Bertelsmann-Stiftung, sagt: „Alle Schüler:innen, auch Jugendliche ohne
Abschluss, erwerben im Laufe ihrer Schulzeit eine Vielzahl von fachlichen
und überfachlichen Kompetenzen, die überhaupt nicht sichtbar werden.“ Es
sei wichtig, diesen Fähigkeiten Beachtung zu schenken, um geeignete
Ausbildungsplätze unabhängig von der formalen Qualifikation zu finden.
Alarmierend sind die Zahlen besonders aus Förderschulen: Fast die Hälfte
der Jugendlichen ohne jedweden Abschluss kämen aus dieser Schulform, so die
Studie. Trotzdem die Bundesländer jährlich Milliarden in die Förderung
stecken, ist das Ergebnis ernüchternd.
Zusätzlich von hohen Abbruchquoten betroffen sind junge Menschen mit
ausländischen Wurzeln, dreimal so häufig wie deutsche Kinder. Jungen
insgesamt mehr als Mädchen.
Neben diesen bekannten Bildungshemmern, nämlich Behinderung von Menschen
mit Behinderung oder Migrationshintergrund, sind auch die benachteiligt,
welche besonders ausgeprägt rebellieren: Kiffer oder Bunthaarige zum
Beispiel.
## Alternativen werden erprobt
In einer Ersatzschule des zweiten Bildungsweges, der [3][SfE in
Berlin-Kreuzberg], wird deswegen seit den siebziger Jahren der Aufstand
geprobt. Dort ist das Lernen auf ganz individuelle Weise möglich. Ähnliche
Konzepte verfolgen freie Schulen wie beispielsweise die Montessori-Schulen.
Die Schüler:innen arbeiten ohne Leistungsdruck, sie können eine eigene
Motivation entwickeln, die Dinge zu begreifen, und es gibt keine
Sitzordnung. Treffend lautet die Unterzeile eines Dokumentationsfilms über
die SfE: „Nur das Ziel ist im Weg.“ Dieses Ziel ist im Regelfall der
Abschluss, die Qualifikation nach Schema F, die beweist, dass die
Heranwachsenden in der Lage waren, diszipliniert auswendig zu lernen. Meist
hat dieses abgefragte Wissen kaum Mehrwert für das weitere Leben oder ist
nach drei Wochen vergessen.
Auch die Ersatzschule in Kreuzberg kann die bestehenden Zwänge nicht
gänzlich aufbrechen. Zumindest aber gestaltet sie die Zeit bis zum Schein –
im doppelten Wortsinn zu verstehen – auf tatsächlich lehrreiche Weise: Es
gibt Vollversammlungen, wo jede:r, Schüler oder Lehrer eine Stimme hat, es
gibt keine Noten, sondern individuelles Feedback, der Unterricht fängt erst
um 9.30 Uhr an, und sogar der Hund kann mit zur Schule.
Solidarität und Gemeinsamkeit stehen im Mittelpunkt: Ob Frühstück, putzen,
Unterrichtsgestaltung – alles findet selbstverwaltet statt und kann
diskutiert werden. Die freien Schulen vermitteln Kompetenzen, statt nur auf
die Qualifikation hin zu pauken. Ein britischer Politiker namens Edward
Wood bringt es auf den Punkt: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn man
nichts gelernt hat.“
Unser Schulsystem braucht nicht weniger als eine Revolution. Von daher sind
die 47.500 Jugendlichen, die nicht standhalten wollen oder können,
vielleicht sogar Pioniere. Sie sind diejenigen, die die Gesellschaft
wachrütteln könnten, dass endlich etwas anders laufen muss.
Es braucht ein Umdenken: Hierarchien, die es nur zugunsten der Erwachsenen
gibt, gehören abgeschafft. Noten erzeugen Druck. Alle müssen an den
gleichen Schulen lernen, damit manche in den sogenannten Förderschulen
nicht völlig abgehängt werden. In einer anderen [4][Studie der
Bertelsmann-Stiftung] heißt es: „77 Prozent der Förderschüler erreichen
keinen Hauptschulabschluss.“ Hingegen würden diejenigen, die inklusiv
lernen dürfen, größere Lernfortschritte machen.
Und ohne „formale Bildung“ setzen sich die Schwierigkeiten im
Erwachsenenalter fort. Denn fehlt der Abschluss, ist die Aussicht auf eine
Berufsausblidung schlecht. Und das in einer Gesellschaft, die gerade in den
handwerklichen Berufen dringend [5][Nachwuchs braucht].
In einem Beitrag der „Abendschau“ sagt eine SfE-Schülerin: „Es tut auch
gut, wenn man herkommt und nicht ausgelacht wird. Man ist halt nicht der
Freak, sondern die Leute nehmen einen so, wie man ist.“
8 Mar 2023
## LINKS
[1] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2023/maerz…
[2] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1389945706007076
[3] https://sfeberlin.de/
[4] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/sonder…
[5] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/fachkraeftesicherung.html
## AUTOREN
Sean-Elias Ansa
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