# taz.de -- Abschied und Klasse: Danke für fünf Jahre Postprolet | |
> Trennungen gehören zum Lebensweg eines Postproleten. Abschiede hat unser | |
> Autor trotzdem vermieden. Diesmal will er es besser machen. | |
Bild: Aller Abschied ist schwer | |
Abschiede fallen Postproleten nicht schwer. Sie fühlen sich unmöglich an. | |
Nur wegen eines Abschieds sind Postproleten zu Postproleten geworden. Sie | |
haben früh alles verlassen, was ein Zuhause ausmacht: Familie, den Ort | |
[1][der Kindheit] und Jugend, ein Milieu, eine ganze Klasse. | |
Arbeiterkinder, die weggegangen sind, wissen um den Schmerz des Abschiedes. | |
Gerade weil sie sich nicht verabschieden konnten. Dass [2][sie gegangen] | |
sind, haben sie erst gemerkt, als sie schon lange weg waren. | |
Dabei ist ein Abschied mehr als ein Handschlag, eine Umarmung oder die | |
Tränen, die jemand vergießt. Ein Abschied ermöglicht es, zu gehen und | |
trotzdem zu bleiben. Ein Abschied, der vermieden wird, verfolgt einen ewig. | |
Wer sich dagegen richtig verabschiedet, sagt: Ich gehe und ich bin traurig | |
darüber, weil du mir wichtig bist. Ich gehe, aber unsere Verbindung ist | |
stark genug, um diese Trennung zu überdauern. Die Trauer, die jemand über | |
die Trennung zum Ausdruck bringt, ist die Garantie dafür. | |
Das Gehen ohne Abschied ist Teil meiner [3][Familiengeschichte]. Meine | |
Eltern sind gegangen, ohne sich zu verabschieden. Weil sie gedacht haben, | |
dass sie irgendwann zurückkehren. Heute leben sie immer noch in | |
Deutschland. Ihr Abschied dauert heute noch an. Weil sie und diejenigen, | |
die sie zurückgelassen haben, den richtigen Zeitpunkt des Abschieds | |
verpasst haben, weint meine älteste Tante heute schon Tage vor dem | |
eigentlichen Abschied, Tage bevor die Türkei-Urlauber nach Deutschland | |
zurückkehren. Sie weint nicht so, als würden die Türkei-Urlauber im | |
nächsten Sommer wieder kommen. Sie weint, als wäre jemand gestorben. | |
## Verabschieden würde ewig dauern | |
Vielleicht bin auch ich deswegen oft gegangen, ohne mich zu verabschieden. | |
Nach dem Abitur bin ich aus meiner Heimatstadt geflüchtet, als wäre dort | |
ein Krieg ausgebrochen. Von meiner ersten Freundin habe ich mich im | |
Auslandsjahr getrennt, indem ich ihre Briefe einfach nicht mehr beantwortet | |
habe. Als ich im Studium den ersten richtigen Job in einer anderen Stadt | |
angeboten bekommen habe, bin ich aus meiner WG ausgezogen, ohne mir Zeit | |
für einen Abschied zu nehmen. Ich habe einfach nicht verstanden, warum | |
meine Mitbewohner sauer auf mich waren. Sie hätten diese Gelegenheit doch | |
auch genutzt! | |
Manche kennen das vielleicht von Partys: Die Nacht war lang, es gab witzige | |
Gespräche und viel Spaß, es wurde schön getanzt – doch sich jetzt von jeder | |
Person einzeln zu verabschieden, das würde ewig dauern. Deshalb geht man | |
einfach, ohne Tschüss zu sagen. Einen Polnischen machen, nennt man das. | |
Einen Postproleten machen, wäre viel passender. | |
Heute verstehe ich meine Mitbewohner. Und ich wünschte, ich hätte diesen | |
einen letzten Brief geschrieben. Ich weiß heute: Es muss einmal wehtun, | |
damit es nicht ewig schmerzt. Diesmal will ich es besser machen. Deshalb | |
verabschiede ich mich nicht erst mit meiner letzten Kolumne, sondern schon | |
in dieser vorletzten. Damit ich den richtigen Zeitpunkt des Abschieds auch | |
wirklich nicht verpasse. Danke für fünf Jahre Postprolet! Ich gehe und ich | |
bleibe trotzdem. | |
14 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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