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# taz.de -- Kunstprojekt in Sachsen: Heilende Kraft des Theaters
> Mit Rechten reden und Geschichten von Geflüchteten auf die Bühne bringen?
> Über Georg Genoux' Versuch, Menschen in Sachsen zusammenzubringen.
Ein Stuhl, ein alter Plüschteddy, eine gelbe Schüssel, ein zerbrochener
Kamm, ein Kurdistan-Wimpel, ein Apfel, ein Olivenbaum. Persönliche
Gegenstände, die zu Requisiten geworden sind. Sie erzählen Geschichten und
stehen symbolisch für etwas im Leben ihrer Besitzer:innen, Einheimischen,
Hinzugezogenen, Geflüchteten, die im Deutsch-Sorbischen Volkstheater
Bautzen eine vorübergehende Heimat und Bühne gefunden haben.
Doch da diese Bühne derzeit geschlossen ist und die Gegenstände auf ihren
Auftritt warten müssen, werden sie mit der Kamera in einem virtuellen
Ausstellungsrundgang wie durch ein nächtliches Puppentheater kurzzeitig zum
Leben erweckt. Auf den Liveauftritt müssen Publikum, Mitwirkende und
Regisseur bis zur Premiere am 28. Januar warten.
Der [1][kleine Theaterfilm] überbrückt die wegen der Pandemie vom Land
Sachsen verfügte Zwangspause im Kulturbereich. Und er füllt die damit
einhergehende Sendepause für das interdisziplinäre Film- und Theaterprojekt
mit dem Titel: [2][„Das Land, das ich nicht kenne“], das Regisseur Georg
Genoux, 41, initiiert hat. Sachsen war das Land, das er als gebürtiger
Hamburger nicht kannte, aber kennenlernen wollte. Seit 2018 erkundet er das
östliche Bundesland, das damals wie heute durch das Erstarken
rechtsextremer Parteien und Denkmuster auf sich aufmerksam machte.
Aufhorchen ließen ihn aber auch Stimmen, die von beschädigten Biografien
sprachen. Von Enttäuschung, Wut und Trotz, die in Ablehnung und Hass münden
können. Wie hängt das zusammen, wollte der Theatermacher wissen. Kann man
diese Gefühle sprechen lassen, und wenn sie sprechen, was passiert dann?
„Gerechtigkeit für Sachsen“ lautete der provokante Titel von Genoux’ ers…
Inszenierung in Zittau 2018, die taz [3][berichtete] und nahm sich vor,
seine Arbeit weiter zu verfolgen.
Seither sind Theaterprojekte in Zittau, Bautzen und Dresden entstanden,
eine Videoinstallation [4][zum Mauerfall] und der 40-minütige Film „Das
Land, das ich nicht kenne“, der ein Resümeee von Genoux’ Arbeit in Sachsen
ziehen sollte. Mit dem Film kehrt der Regisseur an den Ort zurück, wo er
2018 erstmals Fühlung mit den Einheimischen aufnahm: nach Hagenwerder. In
der DDR kannte man den Ort südlich von Görlitz, der früher fast dreimal so
viele Einwohner hatte. Er stand für das Kraftwerk an der polnischen und
tschechischen Grenze, gleich neben dem Berzdorfer Tagebau, der heute ein
großer Badesee ist. Kraftwerk und Tagebau gaben Hagenwerder Arbeit und
innere Ordnung, färbten Wäsche und Lungen schwarz, bis beides 1997
dichtgemacht wurde.
Heutzutage gibt es in Hagenwerder noch eine kleine Kneipe, schlicht „Treff“
genannt. Hier führt Genoux im November kurz vor dem erneuten Lockdown
seinen Film auf. Eine Art Mitarbeitervorführung – nicht das halbe Dorf,
aber die Hälfte des Kneipenpublikums hat mitgewirkt. Das
Miniaturbühnenbild, das Genoux schon für seine erste Inszenierung mit
Anastasia Tarkhanova am Zittauer Theater entworfen hatte, zeigt eine
stilisierte Silhouette von Hagenwerder; die kleinen Pappfiguren
repräsentierten Einheimische. Beides, Bühnenbild und Charaktere, finden
sich im Film wieder, der zwischen Theaterszenen, Interviews und der
Erzählung des Regisseurs hin und her springt. Wenn die Corona-Zwangspause
vorbei ist, soll er auf Tour durch Kneipen und Kulturzentren der Region
gehen.
Vier mittelgroße Tische füllen an diesem Novemberabend den Kneipenraum des
Hagenwerder „Treff“, 25 bis 30 Leute sind gekommen. Die Kontaktdaten werden
aufgenommen, Impfen und Schimpfen sind an diesem Abend kein Thema, Maske
trägt niemand. Die Wirtsleute Frank und Simone schaffen große Platten mit
belegten Brötchen heran. An dem großen Tisch im Hinterzimmer sammeln sich
im Lauf des Abends zwei Flaschen Eierlikör, Biergläser und Teller mit
Hackbraten. Auch Lilean Alkhabbaz setzt sich an den Tisch. Eben noch war
sie im Film zu sehen. Die 2015 aus ihrer Heimat geflüchtete Syrerin ist zur
Vorführung aus Dresden angereist.
„Asylanten“ statt Asylbewerber oder Geflüchtete sind Worte, die in diesem
tief ostdeutschen oder ländlichen Ambiente mit zum Alltag gehören, nicht
immer, aber oft genug böse gemeint. Sie fallen später, von Alkohol
befeuert, nicht in der großen Runde, sondern in den kleinen Gruppen, die
sich im Laufe des Abends festreden. Doch als Alkhabbaz sich mit an den
Tisch setzt, ist sie Teil des Teams. Ebenso wie Anton Yaremchuk und Danylo
Okulov, der Kamera- und der Tonmann des Films, die miteinander ukrainisch
sprechen.
„Angst hatte ich keine“, sagt Alkhabbaz hinterher am Telefon über die
Situation in der Kneipe. „Das Geschimpfe“ am Tisch habe sie mitbekommen.
„Wenn man aus einem Kriegsgebiet kommt wie wir, hat man Schlimmeres erlebt.
Ich versuche allen negativen Dingen mit einem Lächeln zu entgegnen.“ Sie
lächelt viel und hat einen entwaffnenden Charme. Seit 2019 ist Lilean
Alkhabbaz gemeinsam mit ihrer 16-jährigen Tochter Rafah Teil des
„Sachsen-Reggae-Teams“, einer Bürgerbühne, die kleine theatralische oder
filmische Interventionen unternimmt. Genoux hat das Team initiiert und
hofft, dass es später auch ohne ihn weitermachen wird.
Genoux macht dokumentarisches Theater. Er arbeitet ähnlich wie Milo Rau,
den er sehr schätzt, mit Laien zusammen. Aber Genoux klagt die Verhältnisse
nicht an, enthüllt nicht, sondern will verändern. Nicht die Welt draußen,
sondern die Menschen, die er auf die Bühne holt. Menschen unterschiedlicher
politischer Prägung und kultureller Herkunft, Menschen, die sonst nicht
aufeinanderträfen, die sonst nicht miteinander reden würden – außer in
diesem extra geschaffenen Rahmen, Raum, Theater. Geflüchtete Jugendliche
und Erwachsene, Rentnerinnen, Arbeitslose, Zugezogene und Zurückgebliebene.
„Fährst du wieder nach Dunkeldeutschland?“, würden ihn seine Freunde
manchmal fragen. „Mich widert diese Arroganz an“, sagt Genoux: „Das darfst
du gern schreiben! Ich werde angefeindet, weil ich bereit bin mit Menschen
zu reden, die rassistisch denken.“ Ihm geht es darum, Menschen zum Reden zu
bringen, um nachzuvollziehen, wie es dazu kommt, dass sie so denken. „Statt
zu verurteilen, müssen wir den Dialog suchen“, sagt Genoux. „Die Politik
kriegt das nicht hin. Das Theater könnte da eine Schlüsselrolle
übernehmen.“ Das ist Theater, wie er es versteht. Sein Ansatz ist eher ein
therapeutischer oder ganzheitlicher im Sinne von Joseph Beuys, auf den
Genoux gern verweist: den Menschen in den Mittelpunkt stellen und jedem
einzelnen vermitteln, dass er oder sie ernst genommen wird. Er rede mit
jedem, es gebe nur eine rote Linie für ihn: Verständnis für Gewalt.
Was haben Ostdeutsche mit syrischen Geflüchteten gemeinsam, was heißt für
sie Heimat, was bedeutet das Gefühl von Heimatverlust? Darum geht es immer
wieder bei Genoux. Im Film sitzt Petra Seurich, nach der Wende entlassene
Erzieherin, in ihrem Wohnzimmer und blättert mit der 16-jährigen Rafah
Alkhabbaz im Fotoalbum. Schwarzweißfotos, Familientreffen,
gesellschaftliche Anlässe. Sie sagt: „Wir haben, wie ihr, eigentlich alles
verloren. Nur unsere Sprache konnten wir behalten.“
Ist das zulässig, lässt sich das Gefühl von Heimat- oder Identitätsverlust
bei Ostdeutschen und Geflüchteten vergleichen? „Ja und nein“, sagt Genoux.
„Menschen, die aus Syrien geflüchtet sind, haben Bomben und Tod erlebt.
Krieg ist schrecklich, ich weiß das aus meiner Arbeit in der Ukraine. Aber
es geht um das Gefühl, die subjektive Wahrnehmung.“ Am Telefon danach
gefragt, sagt Lilean Alkhabbaz: „Wir haben mehr als unsere Heimat verloren.
Wir haben unsere Sprache, unsere Kultur, unsere Regeln verloren. Wir müssen
völlig von Neuem beginnen.“
Die Stadt, in der sie zuerst gelebt haben, ist Lilean und ihrer Tochter
Rafah Alkhabbaz keine Heimat geworden, das Theater aber wohl. Das Mädchen
wurde in der Schule gemobbt. Nach dreieinhalb Jahren zog die Familie nach
Dresden, Rafah und der jüngere Bruder gehen hier zur Schule, eine Schwester
macht eine Ausbildung zur Krankenschwester. Lilean Alkhabbaz kümmert sich
um ihre Familie. „Ich bin Mann und Frau“, sagt sie nur.
Lieber redet sie über ihren Traum, Theater spielen zu können. Schauspielern
gelte für Frauen in Syrien als „unanständig“, erzählt sie an einem Abend…
ihrer Wohnung nahe dem Hautbahnhof in Dresden. Gerade ist Dreh- und
Theaterpause. Ihr Deutsch reicht ihr nicht immer, dann hilft Tochter Rafah
weiter. Oder Google-Translator. Sie erzählt von ihrem ersten Treffen mit
dem Regisseur.
„Wo willst du hin?“, hat er sie gefragt. „Nach Hollywood“, sagte sie. �…
bist doch in Deutschland“, antwortete er. „Auch große Träume können wahr
werden“, beharrt Lilean Alkhabbaz. Dabei hat das Theater von Genoux so gar
nichts Hollywoodlikes. Aber er ist ein Profi, der sie herausfordert,
„Überraschungen“ bereithält. Seine Überrumpelungstaktik sieht dann so au…
dass Alkhabbaz auf der Bühne die syrische Nationalhymne singen soll, auf
Arabisch. Und all die deutschen Mitwirkenden auch. Und sie und Tochter
Rafah sollen mit den anderen die deutsche Nationalhymne singen – allerdings
die der DDR. „Wir haben es geschafft. Alle mussten singen.“
Im Film sieht man, wie die 16-jährige Rafah Alkhabbaz den Deutschen auf
der Bühne ein arabisches Gedicht beibringt. Berührend, wie sie sich alle
Mühe geben. Und über die zungenbrecherische Aussprache lachen können. „Wir
hoffen, dass der Inhalt des Films Verständnis schafft für Menschen von
woanders“, sagt Lilean Alkhabbaz.
Auf Deutschland lässt Alkhabbaz sich ein, auch in ihrer Heimat war sie
allein. Über sich selbst sagt sie: „Ich bin eine gläubige Muslimin ohne
Kopftuch. Ich trage die Religion im Herzen.“ In der Kneipe von Hagenwerder
nippt sie, die nie Alkohol trinkt, am Eierlikör und spricht vor, wie man
auf Arabisch prostet. Um zu zeigen: „Hey, ich mache einen Schritt auf euch
zu.“ Sie sagt: „Ich hoffe, dass auch Deutsche einen Schritt auf uns zu
machen und wir uns gegenseitig vertrauen und tolerieren lernen.“
Ist Genoux, der sich in Moskau mehr zu Hause fühlt als in Berlin und der
deutschen Theaterszene, Sachsen näher gekommen im Laufe der vier Jahre?
„Ich bin niemand von dort, das ist klar“, sagt er. „Aber ich habe die
Region und die Hilfsbereitschaft der Menschen schätzen gelernt, auch die
sächsische Direktheit.“ Das Nachgespräch findet im Dezember über Zoom
statt, Genoux befindet sich in Kiew, wo er parallel inszeniert.
Genoux hat in Russland und in der Ukraine Wurzeln geschlagen, was bei ihm,
der Theater und Privatleben kaum trennt, Arbeitsbeziehungen und
-verpflichtungen mit sich bringt. Einmal im Jahr kehrt er in den umkämpften
Osten der Ukraine zurück, um dort mit [5][Schulklassen zu arbeiten]. Im
nächsten Sommer wird er Film und Theaterstück von „Das Land, das ich nicht
kenne“ auf Einladung des Goethe-Instituts in Moskau zeigen.
Die längeren Aufenthalte in Sachsen haben auch ihn geprägt. „Ich habe meine
Meinung geändert“, sagt er. „Das Hauptproblem ist nicht die
Fremdenfeindlichkeit, das wird sich mit der Zeit geben. Das Hauptproblem
ist, und das ist gefährlich, dass die Menschen die BRD nicht als ihren
Staat anerkennen. Und das betrifft unglaublich viele. Die Bundesregierung
hat diese Leute verloren. Sie fühlen sich annektiert und sind nicht
angekommen im demokratischen System.“
Im Hagenwerder Treff ist Genoux in den vergangenen vier Jahren immer wieder
eingekehrt. Hat schwierige Bekanntschaften gemacht, aus einigen wenigen
sind Freundschaften geworden. Hat in Kalles Pension mit dem Schild
„Deutsches Schutzgebiet“ auf der Gartenpforte gewohnt, geredet, gestritten.
Hat bei den Wirtsleuten Simone und Frank Unterstützung gefunden, die den
Filmabend mit Gelassenheit bewältigen, bei Norbert und Mike, die 2018 in
Zittau nur am Rande der Bühne saßen und zuschauten. „Mehr wäre damals noch
nicht gegangen“, sagt Genoux. Inzwischen spielen sie mit und helfen beim
Auf- und Abbau der Technik.
Und er hat die Unterstützung von Steffi Seurich, die sich mit ihren grünen
Dreadlocks, Piercings und Tattoos als Punkerin outet. Steffi und ihre
Mutter Petra Seurich bildeten das Gegenpaar zu Rafah und Lilean Alkhabbaz
bei der Videoinstallation zum Mauerfall. Zwei Mütter, zwei Töchter. Im
Hinterzimmer von Hagenwerder bieten die Seurich-Frauen an diesem Abend den
trunkenen Männern Paroli. Denn längst ist, gestartet am Tresen, eine
Diskussion entbrannt, die im Lauf des Abends zu ihrem Tisch überspringt.
Steffi Seurich sagt später: „Vier bis fünf emanzipierte Frauen auf einmal
sind die nicht gewohnt.“
Es sei geheuchelt, auf der Bühne einen auf Verständigung zu machen, sagt
ein Mann, der seinen Namen nicht nennen will. Über die Geflüchteten
schimpfen, die jetzt alle wieder über die Grenze kämen, und dann auf der
Bühne gemeinsam Lieder singen – „das geht gar nicht“, sagt er. Findet er
das naiv? – „Nein, falsch. Wenn ihr raus seid, reden die doch ganz anders.�…
Lilean Alkhabbaz hat inzwischen den Zug nach Dresden genommen.
Fünfmal ist der Film vor dem Lockdown gezeigt worden, die Diskussionen
beschreibt Steffi Seurich als „absolut schräge“ Erfahrung. „Einigen von …
wurde vorgeworfen, sie wären Verräter. Die einen, weil sie mit Menschen auf
der Bühne stehen, die ‚anders‘ sind, und die anderen, weil sie mit Menschen
auf der Bühne stehen, die ‚anders denken‘.“
Ihre Sätze zeigen, wie vermint das Feld der Volks- und Völkerverständigung
ist. Wer sich nicht klar auf eine Seite stellt oder fügt, klar pro- oder
antirassistisch, wer womöglich versucht, für die andere Seite Verständnis
zu schaffen, der befindet sich sehr schnell „zwischen den Stühlen“, wie
Seurich sagt. Die 32-jährige Erzieherin steht hinter dem Ansatz von Genoux:
„Alles, was Menschen machen, hat Gründe. Das gilt auch für die Rechten. Es
ist wichtig zu überlegen, welche Gemeinsamkeiten wir haben. Wenn wir nur
einen erreichen, ist es schon viel.“ Einen wie Mike, der Lilean Alkhabbaz
zum Bahnhof bringt.
Als Genoux 2018 startete, sprach der Regisseur von der „heilenden Kraft des
Theaters“. Vier Jahre später klingt er bescheidener: „Es sind die vielen
kleinen Dinge, die etwas bewirken. Wir können mit dem Film nur beitragen
zur Gesamtsituation. Es muss – modern ausgedrückt – nachhaltig sein. Du
kannst nicht kommen und einfach wieder abhauen. Die Theaterprojekte machen
nur Sinn, wenn sie über Jahre gehen.“
In der Ethnologie gibt es das Prinzip der „teilnehmenden Beobachtung“.
Lässt sich das auf Genoux’ Idee vom Theater übertragen? In seinem Kiewer
Hotelzimmer denkt er kurz nach. „Ich würde es eher ‚aktiv teilnehmende
Bobachtung‘ nennen. Ich agiere, dirigiere. Es macht auch viel mit mir.“
Genoux’ Film ist nicht konfrontativ, sein Ansatz eine heikle Partie. Ob der
Film außerhalb der Region funktioniert, ist schwer zu sagen. Die
Interviewten werden nicht eingeführt, aber man erfährt viel aus dem, was
sie berichten.
Zu Anfang erzählt einer einen rassistischen Witz, den man nicht richtig
versteht, die Beteiligten schütten sich aus vor Lachen. AfD-Nähe,
Verschwörungstheorien, Staatsferne ist zu spüren. Aber auch Traurigkeit und
der Wunsch mitzugestalten. „Ich will die Menschen nicht aus der
Verantwortung entlassen“, sagt Genoux nach der Aufführung, die mächtige
Statur an den Tresen gelehnt. „Die soziale Herkunft entbindet einen nicht,
aber sie erklärt viel. Ich will niemandem einen AfD-Stempel aufdrücken,
damit hätten wir nur das Klischee bedient. Ich versuche die Gefühle der
Menschen ernst zu nehmen.“
Gefühle wie: Verarschtwordensein, Sinn- und Bedeutungsverlust. Das Wort
Gefühl kommt gefühlt oft vor bei Genoux. „Man kann doch nicht sagen: Ihr
fühlt falsch! Ihnen befehlen: Jetzt fühlt mal anders!“, sagt Genoux. Aber
man kann sie fragen: Warum fühlt ihr so? Und selbst wenn die Gefühle echt
sind, so könnten sie das Falsche fühlen? „Über Gefühle lässt sich nicht
streiten“, wehrt Genoux ab.
Der Film setzt das in Gang, was damit bezweckt war: einen Dialog, der im
Laufe des Abends auch in den ein oder anderen Monolog ausfranst, sogar
Streit auslöst. Aber löst er ihn auch? An den Tischen geht es lebhaft zu,
die Wirtsleute packen die übriggebliebenen Brötchen zum Mitnehmen ein. Eine
Frage aus der Zuschauerrunde schwebt den Abend über im kleinen Kneipenraum
von Hagenwerder: „Wirst du uns vergessen, Georg, wenn das hier vorbei
ist?“, fragt einer mit einem Unterton, der zwischen Neugier und
Herausforderung changiert. Er findet selbst die Antwort: „Es riecht nach
Teil 2.“
7 Jan 2022
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## AUTOREN
Sabine Seifert
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