| # taz.de -- Wiedergefundene Thora-Rolle von Görlitz: Christliche Freude, jüdi… | |
| > 83 Jahre lang waren die Thora-Rollen verschwunden. Nun sind Fragmente | |
| > aufgetaucht. Aber Juden hat man zur Präsentation nicht eingeladen. | |
| Bild: Alex Jacobowitz von der Jüdischen Gemeinde begutachtet die Fragmente der… | |
| Görlitz/Berlin taz | Im Rathaus von Görlitz gab es am 16. Dezember 2021 | |
| eine denkwürdige Zeremonie. Im holzgetäfelten Ratssaal präsentiert der | |
| Leiter des Ratsarchivs die Fragmente einer Thora-Rolle. Die Görlitzer | |
| Synagoge ist erst im Juli 2021 nach Jahren der Restaurierung als | |
| [1][Kulturforum] eröffnet worden. Bis zu jenem Tag im Dezember gingen alle | |
| Görlitzer davon aus, dass die Pergamentrollen mit den ersten fünf Büchern | |
| der Hebräischen Bibel am 9. November 1938 bei dem Brand im großen | |
| Kuppelsaal zerstört wurden. Das Feuer wurde damals schnell gelöscht, die | |
| Synagoge blieb weitgehend unversehrt, die Thora-Rollen allerdings waren | |
| verschollen. | |
| Ein „ehrfürchtiges Staunen“, so die Sächsische Zeitung, ergreift die | |
| Anwesenden, als die Fragmente dem Oberbürgermeister Octavian Ursu und dem | |
| sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, beide CDU, präsentiert | |
| werden. Der Ratsarchivar spricht von einem „Wunder“ – ein Wunder, das | |
| schnell inventarisiert werden soll. | |
| Die Präsentation ist gleichzeitig die offizielle Übergabe an das | |
| Ratsarchiv. Weil für dieses Wunder ein pensionierter Pastor aus Görlitz | |
| verantwortlich ist, der erzählt, wie er die Fragmente 52 Jahre lang in | |
| seiner Wohnung versteckt hielt, titelte die Zeitung zwei Tage später: | |
| „[2][Pfarrer lüftet Geheimnis um Görlitzer Thora]“. | |
| Die Freude in Görlitz ist groß. Nur nicht bei Alex Jacobowitz. Als ihn ein | |
| Journalist anruft und um ein Statement zu den Thora-Rollen bittet, glaubt | |
| Jacobowitz seinen Ohren nicht zu trauen. Weder weiß er etwas, noch ist er | |
| zur Präsentation eingeladen. | |
| Der 61-Jährige ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Görlitz, eines | |
| Vereins, der sich anschickt, jüdischen Glauben in der Stadt an der Neiße | |
| wiederzubeleben. Er ist dort kein Unbekannter. Über den Fund informiert | |
| wurde er trotzdem nicht. Es war auch kein anderer Vertreter jüdischen | |
| Lebens eingeladen. | |
| ## Der Oberbürgermeister ist geknickt | |
| [3][Octavian Ursu] gewann 2019 mit Unterstützung von Linken, SPD und | |
| Bündnis 90/Die Grünen im zweiten Wahlgang gegen den AfD-Kandidaten die | |
| Oberbürgermeisterwahl in Görlitz. Ursu ist 54 Jahre alt und ein überaus | |
| kultivierter Mann. Man spürt das am Telefon. Nichts Hartes liegt in seiner | |
| Stimme. | |
| Auf die Frage, warum kein Vertreter jüdischer Gemeinden zugegen war, wird | |
| sie noch weicher. Es sei der Wunsch des Pfarrers gewesen, dass die | |
| Dokumente in kleinem Kreis übergeben werden, erklärt Ursu und sagt, „eine | |
| Einbindung der jüdischen Seite stand von Anfang an außer Frage“. Man habe | |
| sofort den Kontakt gesucht. „Ich habe keine Absicht gehabt, jemanden | |
| auszuschließen.“ | |
| Und was die Inventarisierung betreffe, sei dies möglicherweise | |
| missverständlich. Die Stadt jedenfalls betrachte sich nicht als | |
| Eigentümerin. „Wir werden in enger Abstimmung mit der jüdischen Seite die | |
| weiteren Schritte besprechen und deren Vorstellungen respektieren und | |
| umsetzten.“ | |
| Das klingt deutlich zurückhaltender als Mitte Dezember. Im Übrigen ist | |
| Octavian Ursu immer noch ganz beseelt von der „Rettung“. Die Geschichte | |
| dazu ist schön anzuhören: Der Vater von Pfarrer Uwe Mader wird in der | |
| Pogromnacht 1938 als Polizist zur Synagoge gerufen und gelangt an die | |
| Thora-Fragmente. Wie, ist unklar. Der Beamte wendet sich mit den | |
| hebräischen Pergamenten an einen Rechtsanwalt, der dem 24-Jährigen rät, die | |
| Dokumente einer Vertrauensperson zu geben. Über eine Freundin gelangen sie | |
| 1940 zu einem Pfarrer. | |
| Nach dessen Tod bewahrt die Witwe die Rolle auf, bis diese 1969 einen | |
| jungen Pfarrer predigen hört – Uwe Mader. Sie übergibt also dem Sohn des | |
| Polizisten die Fragmente und schärft ihm ein: „Traue niemandem!“ 52 Jahre | |
| später sucht Mader Kontakt zum Rathaus, um die Fragmente dem Archiv zu | |
| übergeben. | |
| Die Geschichte handelt von stillen Helden und klingt wie die Fortsetzung | |
| der Legende von der Rettung der Synagoge, in der es heißt, dass in der | |
| Pogromnacht anständige Feuerwehrleute den Bau gerettet haben, weil sie | |
| sich ihrem Berufsethos verpflichtet fühlten. Möglicherweise aber fürchteten | |
| sie bloß, dass das Feuer auf benachbarte Häuser überspringen könnte. Vor | |
| der Schändung hat die Synagoge jedenfalls keiner bewahrt. Der Davidstern | |
| stürzte am nächsten Morgen zu Boden, der Kuppelsaal wurde verwüstet. Und | |
| irgendwo stand in der Nacht ein Polizist mit Teilen der Thorarolle in der | |
| Hand. | |
| ## Warum taucht die Thora-Rolle erst jetzt auf? | |
| Uwe Mader wirkt am Telefon kurz angebunden. Der Ton ist kühl. Alles, was er | |
| zu sagen habe, habe er der Öffentlichkeit bereits mitgeteilt. Daher solle | |
| nichts zitiert werden aus dem Gespräch. Das ist nicht allzu schwer, die | |
| Widersprüche sind nach dem Telefonat jedenfalls nicht kleiner. Warum hat er | |
| die Fragmente erst jetzt öffentlich gemacht? Mader redet in der Sächsischen | |
| Zeitung vom Schweigegelübde und davon, dass er erst in OB Ursu und dem | |
| Archivar vertrauenswürdige Personen gefunden habe. Der OB allerdings ist | |
| schon mehr als zwei Jahre im Amt, der Archivar seit 1998. | |
| Dass Mader zu DDR-Zeiten die Thora-Rollen versteckt hielt, begründet er in | |
| der [4][Jüdischen Allgemeinen] mit der israelfeindlichen SED-Politik. Dass | |
| er aber nach dem Ende der DDR 32 Jahre wartete, bis er an die | |
| Öffentlichkeit ging, dass er nie Kontakt zu einer jüdischen Gemeinde | |
| suchte, dass er Anlässe wie die Wiedereröffnung der Synagoge verstreichen | |
| ließ – wirklich verständlich ist Maders Handeln nicht. Vielleicht ist er | |
| ein Mensch mit tiefem Misstrauen gegenüber allem und jedem, gegenüber | |
| jüdischen Gemeinden, der eigenen Kirche und staatlichen Institutionen? | |
| Mader allerdings war jahrelang hauptamtlicher Polizeipfarrer. | |
| „Es stinkt schon ein bisschen“, sagt Alex Jacobowitz. Mit seinen Zweifeln | |
| an dem Epos und mit seiner Empörung über die Taktlosigkeit, die Fragmente | |
| ohne Vertreter jüdischer Gemeinden zu präsentieren, hätte der Vorsitzende | |
| der Jüdischen Gemeinde in Görlitz die Feierlichkeit schnell beendet. | |
| Jacobowitz spricht auch nicht von Rettung, sondern von Raubgut. Schließlich | |
| seien nach dem Novemberpogrom liturgische Geräte auch als Trophäen mit | |
| nach Hause genommen worden. Die Eigentumsverhältnisse sollten schnell | |
| geklärt werden. | |
| Die [5][Jewish Claims Conference] (JCC) vertritt die Rechte einstiger | |
| jüdischer Eigentümer und deren Nachfahren, auch um den Besitz ehemaliger | |
| Gemeinden. Rechtsnachfolger der Görlitzer Gemeinde wurde nach 1945 die | |
| Gemeinde in Dresden. | |
| Jacobowitz ist ins taz-Café gekommen. Er ist oft in Berlin, hat seine | |
| Hauptwohnung in Leipzig und unterhält in Görlitz eine kleine Unterkunft, | |
| die gleichzeitig die Adresse der Jüdischen Gemeinde ist, keine Körperschaft | |
| des öffentlichen Rechts, sondern ein Verein. Es gibt nicht wenige in | |
| Görlitz, die an der Existenz dieser Gemeinde zweifeln und die erwarten, | |
| dass sich die Mitglieder der Öffentlichkeit vorstellen. Sich in einer Stadt | |
| als Jude zu bekennen, in der bei der letzten Bundestagswahl ein Drittel für | |
| die AfD stimmte, sei ein bisschen viel verlangt, findet hingegen | |
| Jacobowitz. | |
| ## Hoffen auf eine neue stabile Gemeinde | |
| Wenn man ihm misstraute, hätte die Stadtspitze doch den Landesrabbiner | |
| Zsolt Balla aus Leipzig zur Präsentation der Fragmente hinzuziehen können? | |
| Der Rabbiner hätte auch gleich ihre Qualität prüfen können. Wäre es nicht | |
| großartig, neue Schriftrollen für die jüdische Gemeinde in Görlitz zu | |
| schaffen, als gemeinsames Projekt und mit Spenden finanziert – so wie in | |
| Erfurt, wo die Gemeinde erst im Herbst eine neue Thora-Rolle erhielt, | |
| finanziert aus Spenden der katholischen und evangelischen Kirche? Teile der | |
| Fragmente ließen sich möglicherweise in die neue Thora einfügen. „So wie | |
| bei der Dresdner Frauenkirche auch Sandstein der Ruine eingefügt ist.“ | |
| Jacobowitz, 1960 in New York geboren, ein Virtuose am Xylofon und in Israel | |
| theologisch ausgebildet, fand auf verschlungenen Wegen nach Görlitz. 2008 | |
| stand er erstmals vor der Synagoge und hörte das Echo der Gläubigen, die in | |
| dem Haus gebetet haben. So hat er es im letzten Sommer erzählt. Es muss in | |
| seinen Ohren wie ein Auftrag geklungen haben. | |
| Mehr als zweihundert Mitglieder der Gemeinde wurden in der NS-Zeit | |
| ermordet, andere suchten den Freitod. Die mit dem Leben davonkamen, wurden | |
| zerstreut. Alex Jacobowitz will nun wieder sammeln. Im August feierte er in | |
| der Synagoge den ersten Gottesdienst nach der Zerstörung mit fast 40 | |
| Gästen. | |
| Die Einsicht, dass es Jacobowitz ernst meint, setzt sich jetzt offenbar | |
| auch im Görlitzer Rathaus durch. Am vergangenen Freitag meldet die | |
| [6][Jüdische Allgemeine], dass der Landesverband der jüdischen Gemeinden | |
| Sachsens und Landesrabbiner Zsolt Balla den Aufbau einer Gemeinde in | |
| Görlitz unterstützen wollen. Dazu werde es Gespräche mit Oberbürgermeister | |
| Octavian Ursu geben. Außerdem werde der Landesrabbiner die Thora-Fragmente | |
| auf ihre Echtheit prüfen und klären, ob sie als Teil einer neuen | |
| Thora-Rolle genutzt werden können. | |
| Alex Jacobowitz hat sie bereits geprüft. Am selben Tag, als die | |
| Thora-Fragmente präsentiert werden, rast Jacobowitz nach Görlitz und beugt | |
| sich am nächsten Morgen über die Schriften, das Buch Genesis, Teile des | |
| Buches Numeri und aus dem Deuteronomium die Zehn Gebote. Jacobowitz liest | |
| erst laut, geht ins Singen über, dann bricht er in Tränen aus. Alex | |
| Jacobowitz zieht die Maske herunter und wischt sich lange über die Augen. | |
| Mag die allgemeine Freude in Görlitz auch groß sein, Tränen hat nur einer | |
| vergossen. | |
| 12 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Juedische-Gemeinde-in-Sachsen/!5780840 | |
| [2] https://www.saechsische.de/goerlitz/pfarrer-lueftet-geheimnis-um-goerlitzer… | |
| [3] /Kommentar-OB-Wahl-in-Goerlitz/!5603198 | |
| [4] https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/eine-art-mahnmal/ | |
| [5] http://www.claimscon.de/ | |
| [6] https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/gespraeche-ueber-eine-geme… | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Gerlach | |
| ## TAGS | |
| Sachsen | |
| Görlitz | |
| Judentum | |
| Christentum | |
| GNS | |
| Podcast „Vorgelesen“ | |
| Ausstellung | |
| Görlitz | |
| Podcast „klima update°“ | |
| Theater | |
| Vertrag | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Historikerin über Schriftartefakte: „Man kommt immer auf Neues“ | |
| Alte Schrift und neue Forschung: Die Hamburger Stabi und der | |
| Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ zeigen „Hamburgs | |
| Schriftschätze“. | |
| Synagoge bekommt neuen Davidstern: Die Sternstunde von Görlitz | |
| Gut 80 Jahre nach dem NS-Pogrom bekommt die Synagoge in Görlitz wieder | |
| einen Davidstern. Als nächstes soll auch die Thora-Rolle zurückkehren. | |
| taz-Podcast „klima update°“: Die Klima-News der Woche | |
| Habeck stellt erste Pläne vor. 2021 war viel zu warm. Die führenden Köpfe | |
| der Wirtschaft sehen Klimakrise als größtes Menschheitsrisiko. | |
| Kunstprojekt in Sachsen: Heilende Kraft des Theaters | |
| Mit Rechten reden und Geschichten von Geflüchteten auf die Bühne bringen? | |
| Über Georg Genoux' Versuch, Menschen in Sachsen zusammenzubringen. | |
| Kunststreit in Sachsen: Ganz mieses Kino | |
| Görlitz darf die Installation der Künstlerin Lisa Maria Baier abbauen. Ihre | |
| nachträglichen Veränderungen ihres Werkes verletzten den Vertrag. | |
| Jüdische Gemeinde in Sachsen: Davidstern am Himmel von Görlitz | |
| In der sächsischen Stadt erwacht das jüdische Leben erneut. Nach 30 Jahren | |
| Sanierung wird die Synagoge als Kulturforum wiedereröffnet. |