| # taz.de -- Theater im Krieg: Mein Nikolajewka | |
| > Zwischen Krieg und Frieden versuchen Jugendliche im Osten der Ukraine mit | |
| > dem Leben dort fertig zu werden - indem sie es spielen | |
| Bild: Von hier oben ist Nikolaewka schön | |
| NIKOLAJEWKA taz | Während einer frostigen Woche im April, etwa hundert | |
| Kilometer hinter der Front, bastelt sich Viktoria Gorodynska den Mann, der | |
| ihr das Herz brechen wird. Sie schneidet seine Silhouette aus Pappe aus, | |
| sie wickelt mit Klebeband einen weißen Plastikstiel daran. Gorodynska, die | |
| 13 Jahre alt ist und deren rotes Haar hell leuchtet, sie wird die | |
| Geschichte erzählen, wie ihr Freund sie verlassen hat, weil er glaubt, sie | |
| stünde auf der falschen Seite. | |
| Wie immer weckt sie an diesem Donnerstagmorgen das Vibrieren ihres Handys, | |
| sie liegt auf der roten Schlafcouch in ihrem Zimmer. Von der Wand grinst | |
| eine Stoffblume ein Smileylächeln. Heute wird sie wieder den Deutschen | |
| sehen, den Regisseur. Sie freut sich darauf. | |
| In der Schule werden sie ein Theaterstück aufführen. Es soll davon handeln, | |
| wie Nikolajewka, ihre Stadt, erst von Separatisten besetzt, dann von der | |
| ukrainischen Armee zurückerobert wurde. Das Stück soll zeigen, wie sie alle | |
| damit fertig werden, was hier im Sommer 2014 geschah. | |
| Eine Woche haben sie Zeit herauszufinden, was genau sie machen wollen. Von | |
| Donnerstag bis Donnerstag, bis zur Aufführung. Eine Woche, um sich ein | |
| Stück auszudenken und es einzuüben. | |
| Viktoria Gorodynska wird eine Geschichte über ihre Liebe zu Russland | |
| erzählen und zu einem Jungen aus der 11. Klasse, der sagt, er sei für die | |
| Russen. Es ist die Geschichte eines Armbandes, das sie ihm genäht hat. Ein | |
| Armband in Weiß-Blau-Rot, den Farben der russischen Flagge. | |
| Keine einfache Geschichte in dieser Stadt, die mehrere Monate von den | |
| Soldaten aus der Donezker Volksrepublik besetzt war. Russische Soldaten, | |
| wie viele in Nikolajewka sagen. | |
| Viktoria Gorodynska frühstückt in der hellen Küche der kleinen Wohnung, die | |
| sie mit ihrer Mutter teilt. Sie nimmt die dicke blaue Jacke vom Haken, Blau | |
| ist ihre Lieblingsfarbe, weil es beruhigt und weil sie findet, dass es zu | |
| ihrem Teint passt, zu ihrem Haar. | |
| ## Drei Tage kämpfte die Armee um die Stadt | |
| Wenn sie aus der Tür tritt, zieht sich rechts ihr Wohnblock weiter, fünf | |
| Stockwerke hoch, eine kleine Lücke für eine Straße aus Betonplatten, dann | |
| wieder Wohnblocks. Die Häuser umschließen grünen Rasen, auf dem | |
| Wäschestangen und Klettergerüste rosten, wenn Sonnenstrahlen darauf fallen, | |
| leuchten sie noch grün, gelb und blau. Sie kann ihre Schule von der Haustür | |
| sehen, dort, hinter ein paar Bäumen. Sie ist aus denselben weißgrauen | |
| Steinen gebaut wie das Haus, in dem sie wohnt, wie viele Häuser in | |
| Nikolajewka, sie sehen aus, als hätte man ein Badezimmer mit seinen Kacheln | |
| nach außen gestülpt. | |
| Die Schule Nummer 3 hatte 330 Schüler und Schülerinnen vor dem Krieg und | |
| 260 danach. Viktoria Gorodynska läuft eine Minute, dann ist sie da. Sie | |
| geht kerzengerade, ernst. Sie lächelt nicht oft, und wenn sie es doch tut, | |
| versickert die Freude meist auf dem Weg vom Mund zu den Augen. | |
| Drei Tage lang, vom 3. bis zum 5. Juli, kämpfte die ukrainische Armee, um | |
| die Stadt von den Separatisten zurückzuerobern. Nach offiziellen Angaben | |
| sind dabei 20 Menschen gestorben, in der Stadt sprechen sie von mindestens | |
| doppelt so vielen Opfern. Eine Fliegerbombe soll die Schule Nummer 3 | |
| getroffen haben, sagen die einen, ein Artilleriegeschoss der Separatisten, | |
| sagen die anderen, es war Raketenbeschuss, behaupten sie in der | |
| Stadtverwaltung, wer weiß das schon so genau, das Hinterland des Krieges | |
| ist das Land der Gerüchte und Vermutungen. Etwas jedenfalls hat die Schule | |
| in Nikolajewka getroffen, zu sehen auf Fotos, eine Druckwelle presste alle | |
| Fenster aus den Rahmen. Eingestürzte Wände, Löcher im Dach, als hätten sich | |
| riesige Klauen daran vergangen. | |
| Die Lehrerinnen sind Frauen in grauen Kostümen, die Lippen präzise in | |
| kräftigem Rot geschminkt, der Gang gestreng, die Direktorin eine Königin | |
| unter Königinnen, sie sagen, sie hätten geweint, als sie ihre Schule nach | |
| dem Angriff wiedersahen. | |
| ## Die Schule ist geflickt. Geht das auch mit Menschen? | |
| Heute kann man die Löcher und Brüche meist nur mehr ahnen, unter manchen | |
| Fenstern quillt aus unverputztem Stein noch Bauschaum hervor. Die neuen | |
| Türen aus hellem Holz wirken in den alten Wänden grell und fremd, als | |
| führten sie in Räume jenseits dieser Wirklichkeit. | |
| Die Schule ist geflickt. | |
| „Der Krieg ist eine Prüfung“, sagt Viktoria Gorodynska. „In manchen | |
| Menschen bringt er das Gute hervor, in anderen das Schlechte.“ | |
| Menschen kann man nicht flicken. | |
| Oder? | |
| Georg Genoux sagt, er versuche genau das. Theater, sagt der deutsche | |
| Regisseur, 38 Jahre alt, Studium in Russland, seit 18 Jahren arbeitet er in | |
| Osteuropa, habe die Möglichkeit, auch in solchen Konfliktgebieten zu | |
| helfen, Seelen zu reparieren oder doch wenigstens Geschichten zu teilen. | |
| Deshalb ist er in die Schule Nummer 3 gekommen. „Der Schmerz vergeht auch | |
| dadurch nie“, sagt er, „aber Menschen können so irgendwann lernen, mit | |
| ihren Erlebnissen umzugehen.“ | |
| Mit dem Krieg. | |
| Genoux ist für die Gruppe „Neuer Donbass“ hier, Künstler aus Kiew, die im | |
| August geholfen haben, die Schule wieder aufzubauen und seither immer | |
| wieder kommen, unbezahlt. Das Geld für den Wiederaufbau, 30.000 Euro, gab | |
| eine Investmentfirma. | |
| Viktoria Gorodynska trägt schwarze Turnschuhe mit hohen weißen Sohlen, sie | |
| halten die Kälte des Bodens fern, die sonst schon nach wenigen Minuten in | |
| die Füße kriecht, über die Beine in die Arme, die nach spätestens zwei | |
| Stunden anfangen zu zittern. Es wird in den kommenden Tagen nicht wärmer | |
| werden als 14 Grad Celsius. In der Schule sagen sie, der Staat habe die | |
| Heizperiode am 15. April für beendet erklärt, es fehlt das Geld. | |
| In einem kleinen, viel zu hohen Raum im zweiten Stock des Schulgebäudes | |
| sitzt sie neben Georg Genoux. Sie hat die blaue Jacke ausgezogen und ihren | |
| grünen Pullover mit den goldenen Sternen anbehalten. An drei Holztischen | |
| haben sich dreizehn Schülerinnen und Schüler versammelt. Eine Woche werden | |
| sie hier proben. Danach, am letzten Tag, ist die Aufführung. | |
| Sie üben das Erzählen an der Grenze. Auf der Linie zwischen dem Land, das | |
| die ukrainische Regierung tatsächlich kontrolliert, und dem Teil, der nur | |
| noch auf offiziellen Karten dazugehört. Der Intercity aus Kiew fährt vom | |
| Bahnhof in Slawjansk knapp 50 Kilometer weiter, dann: Endstation. Früher | |
| führte die Strecke weiter bis Donezk, aber irgendwo verläuft jetzt eine | |
| Grenze, eine Waffenstillstandslinie, eine Front. Zwischen Ukraine und | |
| Donezker Volksrepublik. Zwischen Krieg und Frieden. | |
| Und für sie alle auch: zwischen der Kindheit und dem, was danach kommt. | |
| Dokumentarisches Theater, Georg Genoux macht das seit vielen Jahren. Die | |
| Schüler sollen erzählen, was sie erlebt haben. Im Krieg. Im Leben abseits | |
| des Krieges. | |
| Kateryna Sawjalowa, genannt Katja, 10. Klasse, 16 Jahre alt. Als sie neun | |
| war, hat sie einen Obdachlosen im Keller ihres Hauses entdeckt und ihn mit | |
| Suppe gefüttert. Auf ihrem Puppengeschirr. Das ist ihre erste Geschichte. | |
| Ihre zweite ist die eines Vogels an einer silbernen Kette. Das Geschenk | |
| eines guten Freundes, der sagte, sie seien ab jetzt für immer zusammen. Er | |
| ging in die ukrainische Armee und fiel im Krieg. | |
| Anatolij Skatkow, 9. Klasse, 15 Jahre alt. Als die Kämpfe in Nikolajewka | |
| heftiger wurden, wollte seine Familie fliehen. Er erzählt, wie er seinen | |
| Tennisball suchte und nicht fand und dass er seinen Vater in der Stadt | |
| lassen musste, Schweißer im Kraftwerk, versteh doch, ich kann den Job nicht | |
| riskieren und einer muss auf die Großeltern aufpassen. | |
| Sie erzählen ihre Geschichten mit Gegenständen, die ihnen wichtig sind. | |
| Katja hat ihre Kette dabei. Anatolij knetet seinen Tennisball. | |
| Viktoria Gorodynska, genannt Vika, 8. Klasse, will von ihrem Armband | |
| erzählen. | |
| Der Titel des Stückes lautet „Mein Nikolajewka“. | |
| Nikolajewka, das ist: sieben Schornsteine, sieben hohe Säulen aus Stein, zu | |
| jeder Zeit unter Rauch, sie überragen die Stadt. Ohne das Kraftwerk, das | |
| Strom für das benachbarte Slawjansk erzeugt, sagen sie hier, gäbe es | |
| Nikolajewka gar nicht. Der Chef des Kraftwerks, das flüstern die einen, sei | |
| der Mann, der diese Stadt beherrsche, während andere laut lachen, wenn sie | |
| so etwas hören. Wer in Nikolajewka Arbeit hat, der arbeitet meist unter den | |
| Schornsteinen. | |
| ## Abgründe, die früher Küchen waren | |
| Wie ein Fleck aus Stein liegt die Stadt zwischen Hügeln und künstlich | |
| angelegten Seen, wer die knapp 16 Kilometer aus Slawjansk mit dem Auto | |
| fährt, sieht am Ortseingang als Erstes einen Wohnblock, in der Mitte hat | |
| ihn eine große Kraft fast durchgerissen, teilte Zimmer und Flure, hoch oben | |
| hängen Schränke über Abgründen, die einmal Küchen waren, in manchen stehen | |
| noch die Teller. Links davon wohnen Menschen, rechts auch. Sie haben keinen | |
| anderen Platz. | |
| „Mein Nikolajewka“, ein schlichter Titel, der Raum soll jetzt Viktoria | |
| Gorodynska und den anderen gehören. | |
| Meist gehört er Georg Genoux. Ein Meter vierundachtzig groß, 102 Kilogramm | |
| schwer, ein Bart um das runde Gesicht. Er steht immer breitbeinig, wie ein | |
| Kampfsportler. Wenn jemand zu viel redet, hebt er seine dunkle Stimme: | |
| „Sluschajte“ – „Hört zu!“. Wenn er möchte, dass es schneller geht, … | |
| „Ajde“, so wie es in Bulgarien üblich ist, dort leitet er ein Theater, | |
| noch, im Sommer geht er nach Kiew, um ein neues zu gründen. | |
| „Das Wichtigste sind mir die Leute in Nikolajewka“, sagt Genoux, „die | |
| müssen hier zu Wort kommen und trotz der Öffentlichkeit eines Theaterstücks | |
| einen Raum haben, der so behütet ist wie möglich.“ | |
| Er schützt die freiwilligen Helferinnen, drei Künstlerinnen aus Kiew, die | |
| mit ihm gekommen sind. Selbst in den Supermarkt um die Ecke lässt er sie | |
| nur zu zweit. „Das hier ist immer noch Kriegsgebiet, in der Stadt ist nicht | |
| jeder damit einverstanden, dass wir hier sind“, sagt er. | |
| Nikolajewka sei gespalten. Allerdings würden sich die, die ihre Stadt | |
| lieber in der Hand der Separatisten sähen, nicht mehr so laut zu Wort | |
| melden. Bevor die ukrainische Armee kam, hat man ihnen hier erzählt, die | |
| Faschisten aus Kiew würden Säuglinge an die Bäume nageln. Das ist nicht | |
| passiert, aber das Misstrauen bleibt: Wird die ukrainische Armee sich doch | |
| noch dafür rächen, dass einige die andere Seite unterstützt haben? | |
| Vielleicht kommen aber auch die Separatisten zurück. In der letzten | |
| Aprilwoche hat Alexander Sachartschenko, der Chef der „Donezker | |
| Volksrepublik“, dem Magazin Spiegel gesagt, er beanspruche das gesamte | |
| Gebiet des früheren Bezirkes Donezk. Nikolajewka gehört dazu. Man wolle es | |
| sich zurückholen. Friedlich. Wenn möglich. | |
| ## Unter der Schule Nummer 3 gibt es einen Keller, einen Rückzugsort | |
| Vor einem Jahr schaute die Welt, oder zumindest ein größerer Teil von ihr | |
| als heute, nach Slawjansk. Die Separatisten hatten das Gebiet besetzt. Ab | |
| Mai griff die ukrainische Armee an. In Nikolajewka flohen viele, vor allem | |
| Frauen und Kinder, auch Viktoria Gorodynska, 300 Kilometer in den Süden, | |
| ans Asowsche Meer. In einem Ferienlager kamen sie unter. Andere blieben. | |
| Unter der Schule Nummer 3 gibt es einen Heizungskeller. Auf Matratzen | |
| sollen dort mehr als 100 Menschen aus den umliegenden Wohnblöcken | |
| ausgeharrt haben. | |
| In Nikolajewka fragen sie sich jetzt, ob das wieder passiert. Ob sie bald | |
| wieder vor der Wahl stehen, für welche Seite sie sich entscheiden. | |
| Gibt es die eine richtige Seite? | |
| „Ja nje snaju – ich weiß es nicht“, sagt Iwan Schylo, genannt Wanja, 10. | |
| Klasse, 16 Jahre alt. Ein großer, schlaksiger Junge, der geht wie ein müder | |
| Storch, mit weiten, langsamen Schritten. Im Theaterstück spricht er | |
| darüber, wie er mit seiner zweijährigen Schwester spielt. Er trinkt nicht, | |
| sagt er. Er liest viel. Er geht oft hoch auf die Hügel über Nikolajewka. | |
| Unten Rechtecke in Weiß, Quadrate in Rot, das verwaschene Grau der | |
| Kachelsteine. Von hier oben ist Nikolajewka schön. | |
| Iwan Schylos Schuhe sind rutschig vor Schlamm, der Weg führt über matschige | |
| Pfade, vorbei an dem Wellblech, dem verwitterten Holz kleiner | |
| Gartenhäuschen. Eine einzelne Birke überragt alles, ihr Weiß strahlt vor | |
| dem Braun von Erde und Wald. Schylo hat sie entdeckt, als er zwölf war, er | |
| ist gern hier. Wenn er Ärger mit seinen Eltern hat, die streng sind. „Sie | |
| lieben mich, aber ich muss das manchmal erst verstehen“, sagt er. Er | |
| klettert dann in die Äste und schaut in den Himmel. | |
| Gibt es eine richtige Seite in diesem Krieg, Iwan? | |
| „Ich weiß es nicht.“ | |
| Aber bist du denn nicht für jemanden? | |
| „Ich weiß es nicht.“ Jetzt werde Geschichte geschrieben und irgendwann | |
| werde feststehen, wer die richtige Seite gewesen sei. | |
| Er würde gern mal auf die Krim fahren, sagt Iwan Schylo. Per Anhalter mit | |
| einem Freund. Sie seien hier auch schon mal mit dem Motorroller unterwegs | |
| gewesen, aber natürlich nicht allzu weit. Die Eltern. | |
| Reisen ist eine Möglichkeit, mit dem Krieg umzugehen. Reisen in die Welt da | |
| draußen. In die Welt tief in einem selbst. | |
| Iwan, wer hat Schuld an diesem Krieg? | |
| Es gibt diesen einen Moment, da strafft sich der ganze Körper, die Stimme, | |
| sonst schwankend zwischen Kind und Mann, wird fest, mit Händen in schwarzen | |
| Handschuhen formt Iwan Schylo ein Land, das er dann wieder | |
| auseinanderfallen lässt. Seit dem Ende der Sowjetunion hätten die | |
| Regierungen darin versagt, einen starken Staat aufzubauen, sagt er. „Mehr | |
| als zwanzig Jahre lang. Kein Wunder, dass es dann so einfach war, die | |
| Ukraine auseinanderzunehmen.“ | |
| Die Erwachsenen, sie haben es nicht vermocht, das Land zu schützen. Ihn. | |
| Auf solche Schwäche kann man wütend werden. | |
| Hat er Angst, dass der Krieg wiederkommt? | |
| „Ich habe keine Angst“, sagt Iwan Schylo, „als hier die ersten Granaten | |
| einschlugen, da saß ich im Hof unseres Hauses und habe gar nichts gefühlt.“ | |
| Haben deine Eltern dich nicht ins Haus gerufen? | |
| „Die Einschläge, die Front, das war da ja noch weit weg.“ | |
| ## Alle sagen, was sie denken. Oft ist das hart | |
| Die Front, mit den Panzern, Geschützen, den Raketenwerfern. Derzeit ist sie | |
| von Nikolajewka aus nicht zu sehen. Aber sie ist da, sie trennt Familien, | |
| Freunde. | |
| Viktoria Gorodynska weint. Sie will die Tränen zurückdrängen, sie reibt | |
| sich die Augen, sie faltet die Hände vor dem Mund, wenn sie spricht. | |
| Zwischen den Fingern kommen nur wenige Sätze hervor, wieder und wieder sagt | |
| sie dasselbe: „Ich will dieses Ding nicht anziehen.“ Ihr am Tisch gegenüber | |
| sitzt Georg Genoux, links von ihr Natascha Woroschbit, die Drehbuchautorin | |
| aus Kiew. Es ist Sonnabend, 15.30 Uhr. Der zweite Tag der Proben. Einige | |
| der Schülerinnen kommen zu Einzelgesprächen, Genoux und Woroschbit wollen | |
| besprechen, wie sie ihre Monologe besser strukturieren können. | |
| Kateryna Sawjalowa hat versprochen, für ihre Geschichte, wie sie den | |
| Obdachlosen füttert, einen Teller ihres Puppengeschirrs mitzubringen. | |
| Und nun sagt Viktoria Gorodynska, dass sie ihr Armband mit den Farben der | |
| russischen Flagge nicht mehr tragen will. | |
| Warum nicht, Viktoria?, fragt Georg Genoux. | |
| „Weil das hier die Ukraine ist, und das ist die russische Flagge.“ | |
| Ich verstehe nicht, sagt Genoux. Bei seinem letzten Besuch hatte sie es | |
| doch selbst mitgebracht. Hat sie auf einmal Angst, die russische Fahne zu | |
| tragen? Angst, ihre Meinung zu sagen? Er ist unsicher. Deshalb fängt jetzt | |
| er an zu erzählen, in immer längeren Sätzen. Wie er sechzehn Jahre lang in | |
| Moskau gelebt hat und Russland liebt, aber hasst, was der Kreml aus dem | |
| Land macht. Dass sich ein guter Freund von ihm abgewandt hat, weil er nicht | |
| damit einverstanden ist, wie sich Genoux in der Ukraine engagiert. Deshalb | |
| machten sie hier Theater, es sei wichtig, solche Dinge anzusprechen, | |
| auszusprechen. | |
| Sie sei verletzt gewesen, als sie das russische Armband zum ersten Mal | |
| gesehen habe, sagt Natascha Woroschbit, die Drehbuchautorin. Sie trägt auch | |
| ein Schmuckstück, das ukrainische Wappen, als Kette um den Hals. Für sie | |
| greift Russland ganz klar ihr Land an. Aber sie seien nicht | |
| hierhergekommen, um alles mit ukrainischen Farben zu übermalen. Sie wolle | |
| kein Theaterstück machen, in dem so getan werde, als sei alles gut. | |
| Sie wolle das Armband nicht sehen, aber sie müsse. Jetzt weint auch sie. | |
| Die Leute, die aus der Hauptstadt hierherkommen, haben mit der Schule | |
| Nummer 3 einen Deal: Alle sagen, was sie denken. Oft ist das hart. | |
| Viktoria, was denkst du?, fragt Georg Genoux. | |
| Und dann erzählt sie. Wie ihr Freund sich mit ihr gestritten hat, weil sie | |
| sich mit den Leuten aus Kiew abgibt. Gehörst du zu uns oder zu denen? Er | |
| hat sie verlassen, weil sie sich für die falsche Seite entschied. Er will | |
| noch seinen Abschluss machen an der Schule Nummer drei und dann nach Donezk | |
| gehen und für die Separatisten kämpfen. | |
| „Alles, was mit Russland zu tun hat, erinnert mich an diesen Menschen“, | |
| sagt Viktoria Gorodynska, in deren Brust es manchmal sticht, ein | |
| Herzfehler. | |
| ## Enttäuschte Liebe. Dann Rauchen, Alkohol, Pillen | |
| Was sie nicht sagt, was ohnehin alle sehen, dass sie jemand Neuen hat. Auch | |
| aus der elften, er will nach dem Abschluss nach Kiew. Sie weiß nicht, was | |
| für eine Zukunft die Beziehung hat. Das macht es nicht einfacher. | |
| Sie einigen sich, dass Viktoria Gorodynska das Armband bis zur Aufführung | |
| in der Schule lässt. Ihre Geschichte wird sie ändern, irgendwie. Sie lacht | |
| jetzt. | |
| Viktoria, wie schaffst du es, mit dem Krieg umzugehen? | |
| „Für die Erwachsenen ist es schwerer als für uns Teenager, denn in unseren | |
| Leben bewegt sich immer etwas, es geht irgendwohin“, sagt sie. Die | |
| Erwachsenen hingegen seien angekommen, hätten bereits etwas erreicht und | |
| fürchteten, das zu verlieren. „Seit den Kämpfen bewegen sich die | |
| Erwachsenen im Kreis“, sagt sie. | |
| Aber du hast doch auch Freunde durch den Krieg verloren. | |
| „Manche.“ Sascha zum Beispiel, seit der Trennung von ihrem Freund reden sie | |
| kaum noch. | |
| Sascha, eigentlich Alexander Babakow, 10. Klasse, 16 Jahre alt. | |
| Er spielt auch im Stück mit, er erzählt eine Geschichte über enttäuschte | |
| Liebe und wie er anfing, Drogen zu nehmen, zu verkaufen. Auf einem Stück | |
| dicken Papiers stehen fünf Stichpunkte, die ihm helfen sollen, sich an | |
| seinen Monolog zu erinnern. Einer davon heißt: Wie ich frech wurde. | |
| Wie wurdest du frech, Sascha? | |
| Er erzählt, was er auch im Theater erzählt, erste Liebe mit zwölf, in den | |
| Ferien, es traf ihn schwer, dass es so bald vorbei war. Mit zwei anderen | |
| Mädchen lief es genauso. Dann Rauchen, Alkohol, Marihuana, Pillen. | |
| Er hat ein Grinsen, für das es im Englischen ein schönes Wort gibt, to | |
| smirk, der rechte Mundwinkel verzieht sich zu einem Gangsterlächeln. Das | |
| Abgezockte, Zynische würde man ihm eher abkaufen, wenn er nicht höflicher | |
| und zuvorkommender wäre als die meisten. | |
| Wenn eine der Künstlerinnen aus Kiew Licht braucht, leuchtet Sascha. Tür | |
| aufhalten, Stühle tragen, erledigt alles er. | |
| Sascha Babakow hat Marihuana verkauft. Im Herbst und im Winter vergangenen | |
| Jahres haben sie ihn zwei Mal erwischt, die Miliz ein Mal, ein Mal wohl die | |
| Nationalgarde, das weiß er nicht genau, vermummte Gesichter, seltsame | |
| Uniformen, sie suchten in der Nähe eines Hauses, in dem er Gras zum | |
| Trocknen ausgelegt hatte, nach Minen. Er erinnert sich an die seltsamen | |
| Spielchen der Vermummten. Du bist doch ein guter Junge, willst du mal eine | |
| Granate in die Hand nehmen? Das Gewehr? | |
| ## Der Vater ruft nur an, wenn etwas mit der Polizei ist | |
| „Ich hatte einfach nur Angst“, sagt Babakow. Sein Mund ausgetrocknet, kein | |
| bisschen Spucke. Er erinnert sich auch gut an die Prügel der Miliz, den | |
| Schlag in den Magen, von dem er in der Wache zusammengeklappt ist. Da war | |
| er fünfzehn. Seine Mutter weinte, er versprach, mit den Drogen aufzuhören. | |
| Er sagt, er halte sich daran. | |
| Der Sportplatz von Nikolajewka, ein grüner Fleck am Rand der Stadt, | |
| begrenzt von einem Erdwall, auf dem Rasen wächst. Darin eingelassen auf der | |
| linken und der rechten Seite Sitzreihen aus Stein. „Dort habe ich meine | |
| Geburtstage gefeiert“, sagt Sascha und zeigt nach links. „Und dort auf der | |
| Tribüne habe ich oft getrunken.“ | |
| Grüne, weiße, braune Glassplitter auf dem Boden. Der liebt die, die liebt | |
| den, in die Wände eingeritzt, mit Edding gemalt, zweimal auch DNR, Donezker | |
| Volksrepublik. Saschas Vater kämpft dort. In Donezk. Manchmal ruft er die | |
| Mutter an. „Er meldet sich, wenn ich etwas angestellt habe“, sagt Sascha. | |
| Wenn was mit der Polizei ist. | |
| Vermisst du ihn? | |
| „Am liebsten wäre ich an seiner Seite. Aber ich kann nicht dorthin.“ | |
| Heißt das, du willst für die DNR kämpfen? | |
| „Nein. Ich will nur mit meinem Vater zusammen sein. Er ist der Einzige, der | |
| aus mir wieder einen Menschen machen kann. Die einzige Autorität, die ich | |
| akzeptiere.“ | |
| Dieser Wunsch steht auch auf seinem Zettel. Der letzte Punkt: Ich möchte | |
| wieder so leben wie vorher. | |
| Sie entscheiden, dass der Raum, in dem sie spielen, dunkel sein soll. Sie | |
| sperren das Tageslicht mit schwarzen Plastiktüten aus, die sie | |
| übereinanderkleben, Bahn für Bahn. Die Schüler sollen einander mit | |
| Taschenlampen anstrahlen, wenn sie ihre Geschichten erzählen. Georg Genoux | |
| malt einen Plan, wer wen beleuchtet. Sascha auf Katja. Sascha auf Anatolij. | |
| Viktoria Gorodynska wird die Geschichte ihrer Trennung als Schattentheater | |
| erzählen. Sascha Babakow und Iwan Schylo werden auf den Bänken der beiden | |
| Fenster sitzen. Einer hinten rechts, der andere hinten links. | |
| ## Der Regisseur leuchtet wie ein Revolverheld | |
| Am Montag leuchtet Iwan Sascha mit seiner Lampe ins Gesicht. Sascha brummt | |
| ärgerlich. Dann leuchtet er zurück. | |
| Am Dienstag redet Sascha doch einmal wieder mit Viktoria. | |
| Am Mittwochmittag steht Georg Genoux im abgedunkelten Theaterraum, wie | |
| Revolver hält er zwei Taschenlampen. Er sucht nach einer stimmigen | |
| Reihenfolge, wie die Gegenstände der Kinder im Finale des Stücks | |
| angeleuchtet werden sollen. Sie hängen überall im Raum an der Wand. | |
| Natascha Woroschbit, die Drehbuchautorin, nimmt von allen noch schnell | |
| einen Satz auf, der am Ende abgespielt werden soll. Wieder und wieder | |
| sprechen sie ihn ins Mikrofon. | |
| Sascha Babakow sagt: Als ich jung war, zerriss mich alles in Stücke. | |
| Iwan Schylo sagt: Ich möchte die Welt verändern. | |
| Viktoria Gorodynska sagt: Ich kümmere mich nicht um Politik, ich wähle | |
| Menschen. | |
| Am Donnerstagmorgen geht sie wieder zur Schule. Zum Frühstück gibt es | |
| dunklen Käse auf weißem Brot. | |
| Sie klebt ihren Exfreund zusammen. | |
| Um 10.16 Uhr kommen alle in den Theaterraum. Die letzte technische Probe. | |
| Überprüft eure Lampen, sagt Georg Genoux. | |
| Um 11.31 Uhr geht in einem kleinen Raum in der Schule Nummer 3 in | |
| Nikolajewka das Licht aus. | |
| 26 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Schulz | |
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