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# taz.de -- Theater im Krieg: Mein Nikolajewka
> Zwischen Krieg und Frieden versuchen Jugendliche im Osten der Ukraine mit
> dem Leben dort fertig zu werden - indem sie es spielen
Bild: Von hier oben ist Nikolaewka schön
NIKOLAJEWKA taz | Während einer frostigen Woche im April, etwa hundert
Kilometer hinter der Front, bastelt sich Viktoria Gorodynska den Mann, der
ihr das Herz brechen wird. Sie schneidet seine Silhouette aus Pappe aus,
sie wickelt mit Klebeband einen weißen Plastikstiel daran. Gorodynska, die
13 Jahre alt ist und deren rotes Haar hell leuchtet, sie wird die
Geschichte erzählen, wie ihr Freund sie verlassen hat, weil er glaubt, sie
stünde auf der falschen Seite.
Wie immer weckt sie an diesem Donnerstagmorgen das Vibrieren ihres Handys,
sie liegt auf der roten Schlafcouch in ihrem Zimmer. Von der Wand grinst
eine Stoffblume ein Smileylächeln. Heute wird sie wieder den Deutschen
sehen, den Regisseur. Sie freut sich darauf.
In der Schule werden sie ein Theaterstück aufführen. Es soll davon handeln,
wie Nikolajewka, ihre Stadt, erst von Separatisten besetzt, dann von der
ukrainischen Armee zurückerobert wurde. Das Stück soll zeigen, wie sie alle
damit fertig werden, was hier im Sommer 2014 geschah.
Eine Woche haben sie Zeit herauszufinden, was genau sie machen wollen. Von
Donnerstag bis Donnerstag, bis zur Aufführung. Eine Woche, um sich ein
Stück auszudenken und es einzuüben.
Viktoria Gorodynska wird eine Geschichte über ihre Liebe zu Russland
erzählen und zu einem Jungen aus der 11. Klasse, der sagt, er sei für die
Russen. Es ist die Geschichte eines Armbandes, das sie ihm genäht hat. Ein
Armband in Weiß-Blau-Rot, den Farben der russischen Flagge.
Keine einfache Geschichte in dieser Stadt, die mehrere Monate von den
Soldaten aus der Donezker Volksrepublik besetzt war. Russische Soldaten,
wie viele in Nikolajewka sagen.
Viktoria Gorodynska frühstückt in der hellen Küche der kleinen Wohnung, die
sie mit ihrer Mutter teilt. Sie nimmt die dicke blaue Jacke vom Haken, Blau
ist ihre Lieblingsfarbe, weil es beruhigt und weil sie findet, dass es zu
ihrem Teint passt, zu ihrem Haar.
## Drei Tage kämpfte die Armee um die Stadt
Wenn sie aus der Tür tritt, zieht sich rechts ihr Wohnblock weiter, fünf
Stockwerke hoch, eine kleine Lücke für eine Straße aus Betonplatten, dann
wieder Wohnblocks. Die Häuser umschließen grünen Rasen, auf dem
Wäschestangen und Klettergerüste rosten, wenn Sonnenstrahlen darauf fallen,
leuchten sie noch grün, gelb und blau. Sie kann ihre Schule von der Haustür
sehen, dort, hinter ein paar Bäumen. Sie ist aus denselben weißgrauen
Steinen gebaut wie das Haus, in dem sie wohnt, wie viele Häuser in
Nikolajewka, sie sehen aus, als hätte man ein Badezimmer mit seinen Kacheln
nach außen gestülpt.
Die Schule Nummer 3 hatte 330 Schüler und Schülerinnen vor dem Krieg und
260 danach. Viktoria Gorodynska läuft eine Minute, dann ist sie da. Sie
geht kerzengerade, ernst. Sie lächelt nicht oft, und wenn sie es doch tut,
versickert die Freude meist auf dem Weg vom Mund zu den Augen.
Drei Tage lang, vom 3. bis zum 5. Juli, kämpfte die ukrainische Armee, um
die Stadt von den Separatisten zurückzuerobern. Nach offiziellen Angaben
sind dabei 20 Menschen gestorben, in der Stadt sprechen sie von mindestens
doppelt so vielen Opfern. Eine Fliegerbombe soll die Schule Nummer 3
getroffen haben, sagen die einen, ein Artilleriegeschoss der Separatisten,
sagen die anderen, es war Raketenbeschuss, behaupten sie in der
Stadtverwaltung, wer weiß das schon so genau, das Hinterland des Krieges
ist das Land der Gerüchte und Vermutungen. Etwas jedenfalls hat die Schule
in Nikolajewka getroffen, zu sehen auf Fotos, eine Druckwelle presste alle
Fenster aus den Rahmen. Eingestürzte Wände, Löcher im Dach, als hätten sich
riesige Klauen daran vergangen.
Die Lehrerinnen sind Frauen in grauen Kostümen, die Lippen präzise in
kräftigem Rot geschminkt, der Gang gestreng, die Direktorin eine Königin
unter Königinnen, sie sagen, sie hätten geweint, als sie ihre Schule nach
dem Angriff wiedersahen.
## Die Schule ist geflickt. Geht das auch mit Menschen?
Heute kann man die Löcher und Brüche meist nur mehr ahnen, unter manchen
Fenstern quillt aus unverputztem Stein noch Bauschaum hervor. Die neuen
Türen aus hellem Holz wirken in den alten Wänden grell und fremd, als
führten sie in Räume jenseits dieser Wirklichkeit.
Die Schule ist geflickt.
„Der Krieg ist eine Prüfung“, sagt Viktoria Gorodynska. „In manchen
Menschen bringt er das Gute hervor, in anderen das Schlechte.“
Menschen kann man nicht flicken.
Oder?
Georg Genoux sagt, er versuche genau das. Theater, sagt der deutsche
Regisseur, 38 Jahre alt, Studium in Russland, seit 18 Jahren arbeitet er in
Osteuropa, habe die Möglichkeit, auch in solchen Konfliktgebieten zu
helfen, Seelen zu reparieren oder doch wenigstens Geschichten zu teilen.
Deshalb ist er in die Schule Nummer 3 gekommen. „Der Schmerz vergeht auch
dadurch nie“, sagt er, „aber Menschen können so irgendwann lernen, mit
ihren Erlebnissen umzugehen.“
Mit dem Krieg.
Genoux ist für die Gruppe „Neuer Donbass“ hier, Künstler aus Kiew, die im
August geholfen haben, die Schule wieder aufzubauen und seither immer
wieder kommen, unbezahlt. Das Geld für den Wiederaufbau, 30.000 Euro, gab
eine Investmentfirma.
Viktoria Gorodynska trägt schwarze Turnschuhe mit hohen weißen Sohlen, sie
halten die Kälte des Bodens fern, die sonst schon nach wenigen Minuten in
die Füße kriecht, über die Beine in die Arme, die nach spätestens zwei
Stunden anfangen zu zittern. Es wird in den kommenden Tagen nicht wärmer
werden als 14 Grad Celsius. In der Schule sagen sie, der Staat habe die
Heizperiode am 15. April für beendet erklärt, es fehlt das Geld.
In einem kleinen, viel zu hohen Raum im zweiten Stock des Schulgebäudes
sitzt sie neben Georg Genoux. Sie hat die blaue Jacke ausgezogen und ihren
grünen Pullover mit den goldenen Sternen anbehalten. An drei Holztischen
haben sich dreizehn Schülerinnen und Schüler versammelt. Eine Woche werden
sie hier proben. Danach, am letzten Tag, ist die Aufführung.
Sie üben das Erzählen an der Grenze. Auf der Linie zwischen dem Land, das
die ukrainische Regierung tatsächlich kontrolliert, und dem Teil, der nur
noch auf offiziellen Karten dazugehört. Der Intercity aus Kiew fährt vom
Bahnhof in Slawjansk knapp 50 Kilometer weiter, dann: Endstation. Früher
führte die Strecke weiter bis Donezk, aber irgendwo verläuft jetzt eine
Grenze, eine Waffenstillstandslinie, eine Front. Zwischen Ukraine und
Donezker Volksrepublik. Zwischen Krieg und Frieden.
Und für sie alle auch: zwischen der Kindheit und dem, was danach kommt.
Dokumentarisches Theater, Georg Genoux macht das seit vielen Jahren. Die
Schüler sollen erzählen, was sie erlebt haben. Im Krieg. Im Leben abseits
des Krieges.
Kateryna Sawjalowa, genannt Katja, 10. Klasse, 16 Jahre alt. Als sie neun
war, hat sie einen Obdachlosen im Keller ihres Hauses entdeckt und ihn mit
Suppe gefüttert. Auf ihrem Puppengeschirr. Das ist ihre erste Geschichte.
Ihre zweite ist die eines Vogels an einer silbernen Kette. Das Geschenk
eines guten Freundes, der sagte, sie seien ab jetzt für immer zusammen. Er
ging in die ukrainische Armee und fiel im Krieg.
Anatolij Skatkow, 9. Klasse, 15 Jahre alt. Als die Kämpfe in Nikolajewka
heftiger wurden, wollte seine Familie fliehen. Er erzählt, wie er seinen
Tennisball suchte und nicht fand und dass er seinen Vater in der Stadt
lassen musste, Schweißer im Kraftwerk, versteh doch, ich kann den Job nicht
riskieren und einer muss auf die Großeltern aufpassen.
Sie erzählen ihre Geschichten mit Gegenständen, die ihnen wichtig sind.
Katja hat ihre Kette dabei. Anatolij knetet seinen Tennisball.
Viktoria Gorodynska, genannt Vika, 8. Klasse, will von ihrem Armband
erzählen.
Der Titel des Stückes lautet „Mein Nikolajewka“.
Nikolajewka, das ist: sieben Schornsteine, sieben hohe Säulen aus Stein, zu
jeder Zeit unter Rauch, sie überragen die Stadt. Ohne das Kraftwerk, das
Strom für das benachbarte Slawjansk erzeugt, sagen sie hier, gäbe es
Nikolajewka gar nicht. Der Chef des Kraftwerks, das flüstern die einen, sei
der Mann, der diese Stadt beherrsche, während andere laut lachen, wenn sie
so etwas hören. Wer in Nikolajewka Arbeit hat, der arbeitet meist unter den
Schornsteinen.
## Abgründe, die früher Küchen waren
Wie ein Fleck aus Stein liegt die Stadt zwischen Hügeln und künstlich
angelegten Seen, wer die knapp 16 Kilometer aus Slawjansk mit dem Auto
fährt, sieht am Ortseingang als Erstes einen Wohnblock, in der Mitte hat
ihn eine große Kraft fast durchgerissen, teilte Zimmer und Flure, hoch oben
hängen Schränke über Abgründen, die einmal Küchen waren, in manchen stehen
noch die Teller. Links davon wohnen Menschen, rechts auch. Sie haben keinen
anderen Platz.
„Mein Nikolajewka“, ein schlichter Titel, der Raum soll jetzt Viktoria
Gorodynska und den anderen gehören.
Meist gehört er Georg Genoux. Ein Meter vierundachtzig groß, 102 Kilogramm
schwer, ein Bart um das runde Gesicht. Er steht immer breitbeinig, wie ein
Kampfsportler. Wenn jemand zu viel redet, hebt er seine dunkle Stimme:
„Sluschajte“ – „Hört zu!“. Wenn er möchte, dass es schneller geht, …
„Ajde“, so wie es in Bulgarien üblich ist, dort leitet er ein Theater,
noch, im Sommer geht er nach Kiew, um ein neues zu gründen.
„Das Wichtigste sind mir die Leute in Nikolajewka“, sagt Genoux, „die
müssen hier zu Wort kommen und trotz der Öffentlichkeit eines Theaterstücks
einen Raum haben, der so behütet ist wie möglich.“
Er schützt die freiwilligen Helferinnen, drei Künstlerinnen aus Kiew, die
mit ihm gekommen sind. Selbst in den Supermarkt um die Ecke lässt er sie
nur zu zweit. „Das hier ist immer noch Kriegsgebiet, in der Stadt ist nicht
jeder damit einverstanden, dass wir hier sind“, sagt er.
Nikolajewka sei gespalten. Allerdings würden sich die, die ihre Stadt
lieber in der Hand der Separatisten sähen, nicht mehr so laut zu Wort
melden. Bevor die ukrainische Armee kam, hat man ihnen hier erzählt, die
Faschisten aus Kiew würden Säuglinge an die Bäume nageln. Das ist nicht
passiert, aber das Misstrauen bleibt: Wird die ukrainische Armee sich doch
noch dafür rächen, dass einige die andere Seite unterstützt haben?
Vielleicht kommen aber auch die Separatisten zurück. In der letzten
Aprilwoche hat Alexander Sachartschenko, der Chef der „Donezker
Volksrepublik“, dem Magazin Spiegel gesagt, er beanspruche das gesamte
Gebiet des früheren Bezirkes Donezk. Nikolajewka gehört dazu. Man wolle es
sich zurückholen. Friedlich. Wenn möglich.
## Unter der Schule Nummer 3 gibt es einen Keller, einen Rückzugsort
Vor einem Jahr schaute die Welt, oder zumindest ein größerer Teil von ihr
als heute, nach Slawjansk. Die Separatisten hatten das Gebiet besetzt. Ab
Mai griff die ukrainische Armee an. In Nikolajewka flohen viele, vor allem
Frauen und Kinder, auch Viktoria Gorodynska, 300 Kilometer in den Süden,
ans Asowsche Meer. In einem Ferienlager kamen sie unter. Andere blieben.
Unter der Schule Nummer 3 gibt es einen Heizungskeller. Auf Matratzen
sollen dort mehr als 100 Menschen aus den umliegenden Wohnblöcken
ausgeharrt haben.
In Nikolajewka fragen sie sich jetzt, ob das wieder passiert. Ob sie bald
wieder vor der Wahl stehen, für welche Seite sie sich entscheiden.
Gibt es die eine richtige Seite?
„Ja nje snaju – ich weiß es nicht“, sagt Iwan Schylo, genannt Wanja, 10.
Klasse, 16 Jahre alt. Ein großer, schlaksiger Junge, der geht wie ein müder
Storch, mit weiten, langsamen Schritten. Im Theaterstück spricht er
darüber, wie er mit seiner zweijährigen Schwester spielt. Er trinkt nicht,
sagt er. Er liest viel. Er geht oft hoch auf die Hügel über Nikolajewka.
Unten Rechtecke in Weiß, Quadrate in Rot, das verwaschene Grau der
Kachelsteine. Von hier oben ist Nikolajewka schön.
Iwan Schylos Schuhe sind rutschig vor Schlamm, der Weg führt über matschige
Pfade, vorbei an dem Wellblech, dem verwitterten Holz kleiner
Gartenhäuschen. Eine einzelne Birke überragt alles, ihr Weiß strahlt vor
dem Braun von Erde und Wald. Schylo hat sie entdeckt, als er zwölf war, er
ist gern hier. Wenn er Ärger mit seinen Eltern hat, die streng sind. „Sie
lieben mich, aber ich muss das manchmal erst verstehen“, sagt er. Er
klettert dann in die Äste und schaut in den Himmel.
Gibt es eine richtige Seite in diesem Krieg, Iwan?
„Ich weiß es nicht.“
Aber bist du denn nicht für jemanden?
„Ich weiß es nicht.“ Jetzt werde Geschichte geschrieben und irgendwann
werde feststehen, wer die richtige Seite gewesen sei.
Er würde gern mal auf die Krim fahren, sagt Iwan Schylo. Per Anhalter mit
einem Freund. Sie seien hier auch schon mal mit dem Motorroller unterwegs
gewesen, aber natürlich nicht allzu weit. Die Eltern.
Reisen ist eine Möglichkeit, mit dem Krieg umzugehen. Reisen in die Welt da
draußen. In die Welt tief in einem selbst.
Iwan, wer hat Schuld an diesem Krieg?
Es gibt diesen einen Moment, da strafft sich der ganze Körper, die Stimme,
sonst schwankend zwischen Kind und Mann, wird fest, mit Händen in schwarzen
Handschuhen formt Iwan Schylo ein Land, das er dann wieder
auseinanderfallen lässt. Seit dem Ende der Sowjetunion hätten die
Regierungen darin versagt, einen starken Staat aufzubauen, sagt er. „Mehr
als zwanzig Jahre lang. Kein Wunder, dass es dann so einfach war, die
Ukraine auseinanderzunehmen.“
Die Erwachsenen, sie haben es nicht vermocht, das Land zu schützen. Ihn.
Auf solche Schwäche kann man wütend werden.
Hat er Angst, dass der Krieg wiederkommt?
„Ich habe keine Angst“, sagt Iwan Schylo, „als hier die ersten Granaten
einschlugen, da saß ich im Hof unseres Hauses und habe gar nichts gefühlt.“
Haben deine Eltern dich nicht ins Haus gerufen?
„Die Einschläge, die Front, das war da ja noch weit weg.“
## Alle sagen, was sie denken. Oft ist das hart
Die Front, mit den Panzern, Geschützen, den Raketenwerfern. Derzeit ist sie
von Nikolajewka aus nicht zu sehen. Aber sie ist da, sie trennt Familien,
Freunde.
Viktoria Gorodynska weint. Sie will die Tränen zurückdrängen, sie reibt
sich die Augen, sie faltet die Hände vor dem Mund, wenn sie spricht.
Zwischen den Fingern kommen nur wenige Sätze hervor, wieder und wieder sagt
sie dasselbe: „Ich will dieses Ding nicht anziehen.“ Ihr am Tisch gegenüber
sitzt Georg Genoux, links von ihr Natascha Woroschbit, die Drehbuchautorin
aus Kiew. Es ist Sonnabend, 15.30 Uhr. Der zweite Tag der Proben. Einige
der Schülerinnen kommen zu Einzelgesprächen, Genoux und Woroschbit wollen
besprechen, wie sie ihre Monologe besser strukturieren können.
Kateryna Sawjalowa hat versprochen, für ihre Geschichte, wie sie den
Obdachlosen füttert, einen Teller ihres Puppengeschirrs mitzubringen.
Und nun sagt Viktoria Gorodynska, dass sie ihr Armband mit den Farben der
russischen Flagge nicht mehr tragen will.
Warum nicht, Viktoria?, fragt Georg Genoux.
„Weil das hier die Ukraine ist, und das ist die russische Flagge.“
Ich verstehe nicht, sagt Genoux. Bei seinem letzten Besuch hatte sie es
doch selbst mitgebracht. Hat sie auf einmal Angst, die russische Fahne zu
tragen? Angst, ihre Meinung zu sagen? Er ist unsicher. Deshalb fängt jetzt
er an zu erzählen, in immer längeren Sätzen. Wie er sechzehn Jahre lang in
Moskau gelebt hat und Russland liebt, aber hasst, was der Kreml aus dem
Land macht. Dass sich ein guter Freund von ihm abgewandt hat, weil er nicht
damit einverstanden ist, wie sich Genoux in der Ukraine engagiert. Deshalb
machten sie hier Theater, es sei wichtig, solche Dinge anzusprechen,
auszusprechen.
Sie sei verletzt gewesen, als sie das russische Armband zum ersten Mal
gesehen habe, sagt Natascha Woroschbit, die Drehbuchautorin. Sie trägt auch
ein Schmuckstück, das ukrainische Wappen, als Kette um den Hals. Für sie
greift Russland ganz klar ihr Land an. Aber sie seien nicht
hierhergekommen, um alles mit ukrainischen Farben zu übermalen. Sie wolle
kein Theaterstück machen, in dem so getan werde, als sei alles gut.
Sie wolle das Armband nicht sehen, aber sie müsse. Jetzt weint auch sie.
Die Leute, die aus der Hauptstadt hierherkommen, haben mit der Schule
Nummer 3 einen Deal: Alle sagen, was sie denken. Oft ist das hart.
Viktoria, was denkst du?, fragt Georg Genoux.
Und dann erzählt sie. Wie ihr Freund sich mit ihr gestritten hat, weil sie
sich mit den Leuten aus Kiew abgibt. Gehörst du zu uns oder zu denen? Er
hat sie verlassen, weil sie sich für die falsche Seite entschied. Er will
noch seinen Abschluss machen an der Schule Nummer drei und dann nach Donezk
gehen und für die Separatisten kämpfen.
„Alles, was mit Russland zu tun hat, erinnert mich an diesen Menschen“,
sagt Viktoria Gorodynska, in deren Brust es manchmal sticht, ein
Herzfehler.
## Enttäuschte Liebe. Dann Rauchen, Alkohol, Pillen
Was sie nicht sagt, was ohnehin alle sehen, dass sie jemand Neuen hat. Auch
aus der elften, er will nach dem Abschluss nach Kiew. Sie weiß nicht, was
für eine Zukunft die Beziehung hat. Das macht es nicht einfacher.
Sie einigen sich, dass Viktoria Gorodynska das Armband bis zur Aufführung
in der Schule lässt. Ihre Geschichte wird sie ändern, irgendwie. Sie lacht
jetzt.
Viktoria, wie schaffst du es, mit dem Krieg umzugehen?
„Für die Erwachsenen ist es schwerer als für uns Teenager, denn in unseren
Leben bewegt sich immer etwas, es geht irgendwohin“, sagt sie. Die
Erwachsenen hingegen seien angekommen, hätten bereits etwas erreicht und
fürchteten, das zu verlieren. „Seit den Kämpfen bewegen sich die
Erwachsenen im Kreis“, sagt sie.
Aber du hast doch auch Freunde durch den Krieg verloren.
„Manche.“ Sascha zum Beispiel, seit der Trennung von ihrem Freund reden sie
kaum noch.
Sascha, eigentlich Alexander Babakow, 10. Klasse, 16 Jahre alt.
Er spielt auch im Stück mit, er erzählt eine Geschichte über enttäuschte
Liebe und wie er anfing, Drogen zu nehmen, zu verkaufen. Auf einem Stück
dicken Papiers stehen fünf Stichpunkte, die ihm helfen sollen, sich an
seinen Monolog zu erinnern. Einer davon heißt: Wie ich frech wurde.
Wie wurdest du frech, Sascha?
Er erzählt, was er auch im Theater erzählt, erste Liebe mit zwölf, in den
Ferien, es traf ihn schwer, dass es so bald vorbei war. Mit zwei anderen
Mädchen lief es genauso. Dann Rauchen, Alkohol, Marihuana, Pillen.
Er hat ein Grinsen, für das es im Englischen ein schönes Wort gibt, to
smirk, der rechte Mundwinkel verzieht sich zu einem Gangsterlächeln. Das
Abgezockte, Zynische würde man ihm eher abkaufen, wenn er nicht höflicher
und zuvorkommender wäre als die meisten.
Wenn eine der Künstlerinnen aus Kiew Licht braucht, leuchtet Sascha. Tür
aufhalten, Stühle tragen, erledigt alles er.
Sascha Babakow hat Marihuana verkauft. Im Herbst und im Winter vergangenen
Jahres haben sie ihn zwei Mal erwischt, die Miliz ein Mal, ein Mal wohl die
Nationalgarde, das weiß er nicht genau, vermummte Gesichter, seltsame
Uniformen, sie suchten in der Nähe eines Hauses, in dem er Gras zum
Trocknen ausgelegt hatte, nach Minen. Er erinnert sich an die seltsamen
Spielchen der Vermummten. Du bist doch ein guter Junge, willst du mal eine
Granate in die Hand nehmen? Das Gewehr?
## Der Vater ruft nur an, wenn etwas mit der Polizei ist
„Ich hatte einfach nur Angst“, sagt Babakow. Sein Mund ausgetrocknet, kein
bisschen Spucke. Er erinnert sich auch gut an die Prügel der Miliz, den
Schlag in den Magen, von dem er in der Wache zusammengeklappt ist. Da war
er fünfzehn. Seine Mutter weinte, er versprach, mit den Drogen aufzuhören.
Er sagt, er halte sich daran.
Der Sportplatz von Nikolajewka, ein grüner Fleck am Rand der Stadt,
begrenzt von einem Erdwall, auf dem Rasen wächst. Darin eingelassen auf der
linken und der rechten Seite Sitzreihen aus Stein. „Dort habe ich meine
Geburtstage gefeiert“, sagt Sascha und zeigt nach links. „Und dort auf der
Tribüne habe ich oft getrunken.“
Grüne, weiße, braune Glassplitter auf dem Boden. Der liebt die, die liebt
den, in die Wände eingeritzt, mit Edding gemalt, zweimal auch DNR, Donezker
Volksrepublik. Saschas Vater kämpft dort. In Donezk. Manchmal ruft er die
Mutter an. „Er meldet sich, wenn ich etwas angestellt habe“, sagt Sascha.
Wenn was mit der Polizei ist.
Vermisst du ihn?
„Am liebsten wäre ich an seiner Seite. Aber ich kann nicht dorthin.“
Heißt das, du willst für die DNR kämpfen?
„Nein. Ich will nur mit meinem Vater zusammen sein. Er ist der Einzige, der
aus mir wieder einen Menschen machen kann. Die einzige Autorität, die ich
akzeptiere.“
Dieser Wunsch steht auch auf seinem Zettel. Der letzte Punkt: Ich möchte
wieder so leben wie vorher.
Sie entscheiden, dass der Raum, in dem sie spielen, dunkel sein soll. Sie
sperren das Tageslicht mit schwarzen Plastiktüten aus, die sie
übereinanderkleben, Bahn für Bahn. Die Schüler sollen einander mit
Taschenlampen anstrahlen, wenn sie ihre Geschichten erzählen. Georg Genoux
malt einen Plan, wer wen beleuchtet. Sascha auf Katja. Sascha auf Anatolij.
Viktoria Gorodynska wird die Geschichte ihrer Trennung als Schattentheater
erzählen. Sascha Babakow und Iwan Schylo werden auf den Bänken der beiden
Fenster sitzen. Einer hinten rechts, der andere hinten links.
## Der Regisseur leuchtet wie ein Revolverheld
Am Montag leuchtet Iwan Sascha mit seiner Lampe ins Gesicht. Sascha brummt
ärgerlich. Dann leuchtet er zurück.
Am Dienstag redet Sascha doch einmal wieder mit Viktoria.
Am Mittwochmittag steht Georg Genoux im abgedunkelten Theaterraum, wie
Revolver hält er zwei Taschenlampen. Er sucht nach einer stimmigen
Reihenfolge, wie die Gegenstände der Kinder im Finale des Stücks
angeleuchtet werden sollen. Sie hängen überall im Raum an der Wand.
Natascha Woroschbit, die Drehbuchautorin, nimmt von allen noch schnell
einen Satz auf, der am Ende abgespielt werden soll. Wieder und wieder
sprechen sie ihn ins Mikrofon.
Sascha Babakow sagt: Als ich jung war, zerriss mich alles in Stücke.
Iwan Schylo sagt: Ich möchte die Welt verändern.
Viktoria Gorodynska sagt: Ich kümmere mich nicht um Politik, ich wähle
Menschen.
Am Donnerstagmorgen geht sie wieder zur Schule. Zum Frühstück gibt es
dunklen Käse auf weißem Brot.
Sie klebt ihren Exfreund zusammen.
Um 10.16 Uhr kommen alle in den Theaterraum. Die letzte technische Probe.
Überprüft eure Lampen, sagt Georg Genoux.
Um 11.31 Uhr geht in einem kleinen Raum in der Schule Nummer 3 in
Nikolajewka das Licht aus.
26 May 2015
## AUTOREN
Daniel Schulz
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