| # taz.de -- Konflikt in der Ukraine: Kommt der Krieg zurück? | |
| > Milizionäre und Lehrerinnen im Osten der Ukraine fürchten eine Rückkehr | |
| > der Kämpfe. Kinder üben dagegen im Theater Normalität. | |
| Bild: In Slawjansk, im Osten der Ukraine, hoffen die Menschen, dass der Krieg n… | |
| Die Angst kommt nach zwei Wodka in einem Restaurant zurück, dass mit seinen | |
| goldfarbenen Zaun und dem tempelartigen Portal aussieht, als wäre ein Stück | |
| von Las Vegas abgebrochen und hier in Slawjansk, Ostukraine, aufgeschlagen. | |
| „Den ganzen Tag habe ich das Adrenalin gespürt, das Gefühl, dass gleich | |
| etwas passiert“, sagt der große schwere Mann in der hellbraunen | |
| Tarnuniform, viel Bauch, wenig Hals, schwere beige Stiefel, „das Schlimmste | |
| am Krieg ist das Warten.“ | |
| 700 Kilometer seien sie heute gefahren, sagt er, immer die Front entlang, | |
| oder da, wo sie glaubten, dass dort die Front sei. In einem Dorf haben sie | |
| lautes Waffenfeuer gehört, angehalten, beobachtet und sich gefragt, ob sie | |
| jetzt in ein Gefecht geraten. Sie waren zu zweit. Er, der schwere Mann, ein | |
| Fahrer, der verstärkte Handschuhe trägt, gut fürs Steuern, gut fürs | |
| Zuschlagen und ein drahtiger, jüngerer, der ein hohes Tier sein soll beim | |
| Rechten Sektor, einer der Milizen die neben der ukrainischen Armee gegen | |
| die von Russland unterstützten Separatisten kämpfen. Offiziell herrscht ein | |
| Waffenstillstand. [1][Dennoch gibt es ständig Feuergefechte.] | |
| Die Moral der ukrainischen Truppen sei schlecht, sagen die beiden Soldaten | |
| der Miliz. Im Restaurant bedienen junge Frauen in Kostümen, die an | |
| Rotkäppchen erinnern würden – wenn Rotkäppchen ein Porno wäre. Die | |
| ukrainische Armee und die Milizen haben die meisten Schlachten verloren, | |
| zuletzt den Kampf um den Ort Debalzewe im Februar dieses Jahres. Die beiden | |
| Kämpfer fürchten sich vor Tschetschenen auf den Seiten der Separatisten, | |
| wegen deren Kampferfahrung. Und sie haben Angst, dass der Krieg im Sommer | |
| wieder beginnt. | |
| Kann das passieren? | |
| ## Friedlich zurückholen. Möglichst | |
| In der letzten Aprilwoche hat Alexander Sachartschenko, der Chef der | |
| „Donezker Volksrepublik“, dem Magazin „Spiegel“ gesagt, [2][er beanspru… | |
| das gesamte Gebiet des früheren Bezirkes Donezk.] Slawjansk gehört dazu. | |
| Sachartschenko sagte, man wolle sich das Gebiet „möglichst auf friedlichem | |
| Wege“ zurückholen. Möglichst. | |
| Der Waffenstillstand wird des Öfteren gebrochen. Der ukrainische Präsident | |
| Petro Poroschenko kündigte die [3][Rückeroberung des Donezker Flughafens] | |
| an. Das Parlament in Kiew diskutiert einen Gesetzentwurf, der den Einsatz | |
| von Ausländern in der ukrainischen Armee ermöglichen würde. Soldaten an der | |
| Front sollen keine Mobiltelefone mehr besitzen dürfen. In Moskau machte die | |
| Regime aus dem Tag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland | |
| eine große Waffenshow angesichts derer der russische Schriftsteller Viktor | |
| Jerofejew einen neuen Konflikt zwischen Russland und dem Westen | |
| heraufziehen sieht: [4][“Der Krieg hat gerade erst begonnen.“] | |
| Erst in dieser Woche berichtete die ukrainische Armee von Kämpfen am | |
| Asowschen Meer und um den Flughafen von Donezk herum. Die prorussischen | |
| Separatisten warfen der Armee vor, in der Region am Meer einen Zivilisten | |
| getötet zu haben. | |
| ## Schutzwesten basteln | |
| In der Ukraine bemerkt man, aus Deutschland kommend, erst gar nicht viel | |
| vom Krieg. An der Passkontrolle am Kiewer Flughafen Borispil steht ein | |
| Soldat, bleistiftdünn, die Uniform zu groß, Maschinenpistole auf dem | |
| Rücken. Der Intercity nach Osten, knapp sechs Stunden dauert die Fahrt von | |
| Kiew nach Slawjansk, strahlt klinische deutsche Regionalbahngemütlichkeit | |
| aus, viel graues Plastik, die Sitzpolster dunkelblau mit hellblauen | |
| Pünktchen. Ab und an Soldaten, zwei Sanitäter wollen sich gern auf freie | |
| Plätze legen und schlafen, aber der Schaffner lässt nur dort sitzen, wo | |
| auch reserviert ist. | |
| Auf Fernsehbildschirmen läuft ein schwarz-weißer Film über einen Zirkus, es | |
| wird viel gelacht. Zwischendrin Werbung, ein kleiner Junge bastelt einem | |
| Soldaten eine Schutzweste aus Buntpapier, dann werden Kontonummern | |
| eingeblendet. Der ukrainische Staat hat nicht genug Geld also soll die | |
| Bevölkerung für schusssichere Westen spenden. Am Bahnhof in Slawjansk die | |
| Ansage: Jeder der illegal eine Waffe besitzt, kann sie straffrei bei der | |
| Polizei abgeben. | |
| 16 Kilometer weiter östlich, Straßen mit Schlaglöchern, rechts ein | |
| zerschossenes Krankenhaus, liegt Nikolajewka, eine Stadt, die vor allem | |
| existiert um Slawjansk mit Energie zu versorgen, die Schornsteine des | |
| Kraftwerks sind von überall her zu sehen. In einem Keller neun Stufen unter | |
| ihrem Hühnerstall zeigt die Geschichtslehrerin Olga Genadiewna, wie sie die | |
| drei Tage überstanden hat, als die ukrainische Armee ihre Stadt von den | |
| Separatisten zurück eroberte. Das war im Juli 2014. | |
| ## Super Mario, bis der Akku alle ist | |
| Auf dem Boden liegen Holzpaletten und darauf durchgescheuerte rote | |
| Teppiche, man könnte sie jederzeit wieder ausrollen zu einem Lager für die | |
| Nacht. „Drei Tage waren wir hier unten“, sagt Genadiewna. Sie trägt ein | |
| graues Kleid mit kleinen schwarzen Karos und Wasserfallkragen, bis vor | |
| einer Stunde hat sie noch in der Schule gearbeitet. Nach kurzer Zeit sei | |
| die einzige Glühbirne erloschen, sagt sie, Stromausfall. Zu fünft lagen sie | |
| nebeneinander auf fünf mal sechs Metern, Olga Genadiewna, ihr Mann, | |
| Tochter, Sohn und Mutter. Aus den Metallregalen nahmen sie Schmalz, | |
| eingelegtes Gemüse und aßen den Vorratskeller leer. Als Klo diente ein | |
| Eimer. | |
| Die Tochter spielte auf dem Tablet so lange Super Mario bis der Akku alle | |
| war. Dann war es richtig dunkel. Sie hörten Schüsse, einen Knall, Pfeifen, | |
| Schüsse. Ihr Mann sagte, das sei jetzt ein Panzer gewesen, das eine | |
| Haubitze. Als er einmal hinausging, um die Schweine zu füttern, schleuderte | |
| ihn eine Explosion in ein Beet. | |
| „Ich glaube nicht, dass der Krieg zurückkommt“, sagt Olga Genadiewna. Sie | |
| will es nicht glauben. Es war beim ersten Mal schlimm genug. Als die | |
| Lehrerinnen der Schule Nummer 3 in Nikolajewka, ihre Schule nach den | |
| Angriffen sahen, haben sie geweint. Ein Video, immer noch in der | |
| Videosammlung Youtube zu finden, lässt ihre Verzweiflung ahnen. Im August | |
| 2014 haben sie es veröffentlicht, sie baten um Spenden für einen | |
| Wiederaufbau. Carl Orffs Oh Fortuna, Schicksal, wie der Mond dort oben, so | |
| veränderlich bist Du, zu verpixelten Bildern gebrochenen Holzes, | |
| zersplitterten Glases. | |
| ## Die Künstler kamen, um zu helfen | |
| Es kam eine Gruppe von Künstlern aus Kiew, die Gruppe nennt sich „Neuer | |
| Donbass“, sie halfen beim Wiederaufbau der Schule. Das Geld, 30.000 Euro, | |
| gab eine Investmentfirma, sie bekommt dafür bald eine Plakette am Gebäude. | |
| Die Schule ist heute wieder geflickt. Funktioniert das auch mit Menschen? | |
| In der Titelgeschichte der [5][taz.am wochenende vom 16./17. Mai 2015] | |
| erzählen wir, wie der in Hamburg geborene Regisseur Georg Genoux genau das | |
| versucht. In einem Theaterstück sollen Kinder vom Krieg erzählen, vom Leben | |
| abseits des Krieges. Theater, sagt der deutsche Regisseur, 38 Jahre alt, | |
| Studium in Russland, seit 18 Jahren arbeitet er in Osteuropa, habe die | |
| Möglichkeit, auch in solchen Konfliktgebieten zu helfen, Seelen zu | |
| reparieren oder doch wenigstens Geschichten zu teilen. Deshalb ist er in | |
| die Schule Nummer 3 gekommen. „Der Schmerz vergeht auch dadurch nie“, sagt | |
| er, „aber Menschen können so irgendwann lernen, mit ihren Erlebnissen | |
| umzugehen.“ | |
| ## Auf der Linie | |
| Dreizehn Kinder proben das Erzählen an der Grenze. Auf der Linie zwischen | |
| dem Land, das die Regierung in Kiew tatsächlich kontrolliert und dem Teil, | |
| der nur noch auf den offiziellen Karten zur Ukraine gehört. | |
| Kateryna Sergejewa erzählt davon, wie sie zum Spaß einen Freund heiratete | |
| als sie noch ganz klein war. Die Eltern gaben einen Ring - die Kinder | |
| brachen den zweiten von einer Coladose ab - und eine Tischdecke als | |
| Schleier. Den Trauzeugen spielte ein Verwandter. Er fiel im Krieg. | |
| Maria Schapowal erzählt so gut wie gar nichts. Sie zeichnet. Menschen im | |
| japanischen Mangastil, mit Schmetterlingen statt Mündern und Ritzspuren auf | |
| den Armen. | |
| Die Titelgeschichte beschäftigt sich mit der Frage, wie Kinder mit dem | |
| Krieg umgehen. Jungen und Mädchen erzählen Geschichten von Liebe, Verlust | |
| und dem Wunsch die Welt zu verändern. | |
| Olga Genadiewna sagt, sie träume von einer Ukraine, in der die Menschen | |
| glauben, dass sie alles selbst schaffen können. Sie glaube an Frieden. | |
| Irgendwie. Sie lacht. Das haben die Lehrerinnen der Schule Nummer 3 auch | |
| den Schülerinnen erzählt. Dass der Krieg nicht wiederkommen wird. Dass die | |
| Schule jetzt sicher sei. Dass sie keine Angst mehr haben müssen. | |
| Kann Theater helfen zu heilen? | |
| Diskutieren Sie mit! | |
| Die Titelgeschichte „Wie der Krieg erwachsen macht“ lesen Sie in der | |
| [6][taz.am wochenende vom 16./17. Mai 2015]. | |
| 15 May 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.bbc.com/news/world-europe-32695098 | |
| [2] http://www.welt.de/politik/ausland/article140079537/Separatisten-fordern-da… | |
| [3] /!159819/ | |
| [4] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/feierlichkeiten-zum-tag-des-… | |
| [5] /Ausgabe-vom-16/17-Mai-2015/!159943/ | |
| [6] /Ausgabe-vom-16/17-Mai-2015/!159943/ | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Schulz | |
| ## TAGS | |
| Theater | |
| Krieg | |
| Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Einreiseverbot | |
| Theater | |
| Ukraine | |
| Russland | |
| Ostukraine | |
| Außenminister | |
| Russland | |
| Wladimir Putin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Konflikt in der Ukraine: Der Do-it-yourself-Krieg | |
| In der Ukraine ziehen viele Menschen freiwillig in den Krieg oder helfen | |
| der Armee. Für andere ist das vorbei, sie kämpfen für eine bessere Zukunft. | |
| Krieg in der Ukraine: Stillstand mit Waffen | |
| Merkel und Hollande fordern Einhaltung des Waffenstillstands. Der | |
| ukrainische Präsident warnt vor russischem Militär im Osten des Landes. | |
| Russlands Einreiseverbot für EU-Politiker: Wie du mir, so ich dir | |
| Seit Monaten dürfen viele russische Politiker wegen der Ukraine-Krise nicht | |
| mehr in die EU reisen. Nun wird eine russische Verbotsliste publik – und | |
| die EU ist empört. | |
| Theater im Krieg: Mein Nikolajewka | |
| Zwischen Krieg und Frieden versuchen Jugendliche im Osten der Ukraine mit | |
| dem Leben dort fertig zu werden - indem sie es spielen | |
| Poroschenko über Ukraine-Krise: Ein „echter Krieg“ mit Russland | |
| Bei den Kämpfen in der Ostukraine wurden bislang mehr als 6.000 Menschen | |
| getötet. Ukraines Präsident sieht dort keinen Kampf gegen Separatisten – | |
| sondern gegen Moskau. | |
| Krieg in der Ukraine: Moskau will Militärs zurück | |
| Zwei im Osten der Ukraine gefangengenommene Soldaten sind Angehörige der | |
| russischen Armee – angeblich jedoch bereits einige Zeit außer Dienst. | |
| Konflikt in der Ostukraine: 40.000 in der Warteschlange | |
| Wer zwischen den „Volksrepubliken“ und dem von Kiew kontrollierten Gebiet | |
| reist, braucht einen Passierschein. Das aber dauert oft Monate. | |
| Dialog zum Krieg in der Ukraine: Kritik an Russland | |
| Der Friedensprozesses in der Ukraine stockt, doch man bemüht sich um einen | |
| Dialog. Poroschenko besucht Berlin. In Antalya treffen sich die | |
| Nato-Außenminister. | |
| Konflikt in der Ukraine: Leichte Entspannung an der Front | |
| Das Minsker Abkommen vom Februar bleibt brüchig. Auch in diesen Tagen wird | |
| im Donbass im Osten des Landes geschossen. | |
| 70 Jahre Kriegsende in Russland: Merkel und Putin legen Kränze nieder | |
| Gemeinsam haben die Bundeskanzlerin und der russische Präsident der | |
| sowjetischen Opfer gedacht. Die offizielle Feier zum Sieg der Sowjetunion | |
| hatte Merkel boykottiert. |