# taz.de -- Konflikt in der Ukraine: Der Do-it-yourself-Krieg | |
> In der Ukraine ziehen viele Menschen freiwillig in den Krieg oder helfen | |
> der Armee. Für andere ist das vorbei, sie kämpfen für eine bessere | |
> Zukunft. | |
Bild: Die Dinge selbst in die Hand nehmen: Ein ukrainischer Soldat lernt auf ei… | |
Das kleine weiße Flugzeug zuckt zurück, wie von einer unsichtbaren Faust | |
getroffen, ein Fallschirm entfaltet sich und sanft pendelnd schwebt der | |
Flieger gen Boden, hinab in das von der Sonne ausgedörrte Gras. Die beiden | |
Soldaten, die trainieren, wie sie eine Drohne landen, schauen sich an. Wer | |
von ihnen soll den Körper aus weißem Styropor holen gehen? Dann läuft der | |
jüngere von beiden los. Er sucht lange, denn das Feld ist groß, das Gras | |
hoch, die gelandete Drohne nicht zu sehen. | |
„Beim nächsten Mal machen wir eine Alarmanlage dran, dann findet ihr das | |
Ding auch schneller“, sagt Viktor Genin, 54 Jahre alt, silberne | |
Kastenbrille, immer lächelnd, Typ netter Großvater. Genin ist der Lehrer, | |
er bringt den beiden Soldaten hier auf diesem Feld am Rand von Kiew bei, | |
wie sie Drohnen steuern. Ihr Kommandant hat die beiden geschickt, sie | |
werden nach ein paar Wochen wieder nach Osten gehen, zurück in den Krieg | |
der ukrainischen Arme mit den separatistisch-russischen Truppen der | |
international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. | |
Viktor Genin bekommt kein Geld für das, was er hier tut. Er ist einer von | |
vielen Freiwilligen in der Ukraine, die die oft mit veralteter Technik | |
ausgerüstete Armee unterstützen. Diese Volontäre, wie sie im Land genannt | |
werden, haben Autos in Polen gekauft und Einheiten an der Front im Osten | |
geschenkt, sie haben kugelsichere Westen hergestellt und manche wie Viktor | |
Genin bringen ukrainischen Soldaten das Drohnenfliegen bei. | |
So können sie an der Front besser sehen, wo der Gegner seine Einheiten | |
positioniert hat, seine Artillerie. Sie können dem feindlichen Feuer besser | |
ausweichen. Ohne die Drohnen sei man nahezu blind, sagen Soldaten in den | |
Stellungen an der knapp 500 Kilometer langen Front im Osten der Ukraine. | |
Sie sagen, die Generäle in Kiew unterstützten sie nicht genug bei der | |
Aufklärung gegnerischer Aktivitäten. Informationen über Truppenbewegungen | |
und Stellungen der anderen Seite kämen zu oft entweder spät oder gar nicht. | |
Also schicken die Kommandanten einige ihrer Soldaten zu Viktor Genin. | |
Der ältere der beiden Soldaten, die er unterrichtet, ist über 30 Jahre alt | |
und kann richtige Flugzeuge fliegen, der andere um die 20, er hatte bisher | |
nie ein Steuerpult in der Hand. „Trotzdem lernt der Junge schneller“, sagt | |
Viktor Genin, „der andere denkt zu sehr an das, was er als Pilot gelernt | |
hat.“ | |
Was sie hier lernen, das dient natürlich nicht nur dazu, den Feinden besser | |
auszuweichen. Es dient auch dazu, sie zu töten. | |
## Er war als Scharfschütze im Afghanistan-Krieg | |
„Wir haben in der Ausbildung für Scharfschützen damals gelernt, dass wir | |
beim Drücken des Abzugs nichts anderes fühlen sollen als den Rückstoß“, | |
sagt Viktor Genin. So funktioniere das natürlich nicht, er sei ja keine | |
Maschine. „Aber unsere Leute sterben, weil sie den Feind nicht sehen. Es | |
ist Krieg. Ich versuche unseren Soldaten dabei zu helfen, sich zu | |
schützen.“ | |
Genin war selbst Soldat, als die Sowjetunion in Afghanistan Krieg führte. | |
Er sagt, er sei Scharfschütze gewesen. Er hat zusammen mit Russen gekämpft. | |
Er hat Verwandte in Kursk, einer russischen Stadt, die nahe der | |
ukrainischen Grenze liegt. Fühlt es sich nicht zumindest seltsam an, Leute | |
auszubilden, die von Moskau unterstützen Separatisten und russische | |
Soldaten im Osten der Ukraine zu töten? | |
„Meine Kameraden von damals wissen, was tatsächlich läuft“, sagt Viktor | |
Genin. „Sie wissen, dass die Faschisten nicht die Macht in Kiew übernommen | |
haben, wie es ihnen die Moskauer Propaganda erzählen will.“ Sie verstünden | |
auch, dass Krieg sei und sein Land sich verteidigen müsse. Zu den | |
Verwandten in Kursk gebe es allerdings seit zwei Jahren keinen Kontakt | |
mehr. | |
Wogegen muss sich Ihr Land verteidigen? | |
„Gegen die Gehirnwäsche. Ich hatte vor kurzem eine Diskussion mit einem | |
Freund, der mir sagte, sie hätten dort keine Propaganda, sondern Freiheit | |
und Putin sei der Beste. Ich sagte ihm, dass ich nicht wüsste, was mit mir | |
passieren müsste, damit ich ein T-Shirt mit dem Bild unseres Präsidenten | |
anziehe. Aber dort laufen so viele Menschen mit Putin auf ihrer Kleidung | |
herum.“ | |
## Er würde an die Front gehen, aber er ist zu alt | |
Genin trägt ein T-Shirt auf dem „People support the Ukrainian Armed Forces“ | |
steht. Er würde sich auch selbst für den Kriegsdienst melden, aber er sagt, | |
er sei zu alt. | |
Andere Freiwillige machen genau das. In der Ukraine unterscheiden sie | |
zwischen den Volontären und den Kriegsfreiwilligen. Volontäre, das sind | |
nicht nur die Menschen, die das Militär unterstützen, es sind auch all | |
jene, die ehrenamtlich Theaterprojekte organisieren, i[1][n denen Kinder | |
aus der Ost- und der Westukraine die Regisseure ihrer Geschichten sein | |
können], es sind Physiker, Informatiker, Rechtsanwälte, die in Ministerien | |
sitzen und neben ihrer Arbeit an neuen Gesetzen mitschreiben. | |
Kriegsfreiwillige kämpfen selbst – in der Armee oder in unabhängigen | |
Gruppen wie die von Maria Berlinska. Sie fliegt Drohnen wie Viktor Genin, | |
sie hat das [2][Zentrum für Luftaufklärung] gegründet, in dem er | |
unterrichtet. Aber sie geht selbst mit einem Team von zwei, manchmal drei | |
Leuten in die Gebiete, in denen gekämpft wird. | |
Die Geschichte von Maria Berlinska erzählt die taz.am wochenende [3][in der | |
Titelgeschichte der aktuellen Ausgabe vom 15./16. Oktober.] Warum geht eine | |
Frau, die Festivals mit feministischen Bands organisiert hat, die jüdische | |
Geschichte studiert, aus freien Stücken und ohne dafür Geld zu bekommen, in | |
den Krieg? | |
## Eine bessere Parallelgesellschaft | |
Viele in der Bewegung der Freiwilligen in der Ukraine sehen sich auch als | |
eine Alternativgesellschaft zum oft kaputten und korrupten Staat, in dem | |
Polizisten bestechlich sind und Politiker sich ungeniert bereichern. | |
Besonders jene, die schon [4][bei der Maidan-Revolution mitgemacht haben], | |
jenem monatelangen Aufstand, der zum Abdanken einer Regierung führte und | |
der Flucht des damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch nach Russland. | |
Es gibt welche, die sind an diesem Anspruch, alles besser zu machen | |
gescheitert. Amnesty International hat Fälle aufgedeckt, in denen | |
[5][Angehörige von Freiwilligeneinheiten] Menschen gefoltert haben, die sie | |
verdächtigten, mit den Separatisten zu kooperieren. Andere, wie das | |
[6][Bataillon Asow, werden von Rechtextremisten geführt], ihr Emblem | |
erinnert an die Wolfsangel, ein Symbol, das in der Hitlerjugend als | |
Aufnäher am Ärmel getragen wurde. | |
Manche Freiwillige haben inzwischen resigniert, sind ins Ausland gegangen, | |
ihnen geht die Veränderung in der Ukraine zu langsam voran, es nervt sie, | |
dass die Regierung in Kiew Reformen nicht schneller umsetzt. | |
Andere Volontäre bleiben, professionalisieren sich, sie gründen eine | |
[7][Art Kickstarter für den Krieg], eine Webseite, auf der Menschen für | |
militärisches Training und Ausrüstung für Scharfschützen spenden können, | |
sie suchen sich ein altes Fabrikgebäude und bauen darin militärische | |
Spähdrohnen für das Verteidigungsministerium, auch diese Geschichte wird in | |
der taz.am wochenende erzählt. | |
## Der eine unterrichtet Soldaten, der andere Kinder | |
Iwan Dowgal hatte ebenfalls Angebote aus dem Ausland, er hätte nach | |
Kasachstan gehen können, nach Westeuropa. Aber er will bleiben, denn „die | |
Ukraine ist mein Land und ich will hier helfen, dass sich die Dinge | |
verbessern.“ Dowgal ist 38 Jahre alt, war Manager bei einer IT-Firma in | |
Kiew, er hat viel Geld dort verdient. Und er war einer der ersten, die das | |
gemacht haben, was Viktor Genin heute tut: Soldaten an Drohnen ausbilden. | |
Iwan Dowgal ist groß und breit, fährt gerne Motorrad, und hat sanfte Augen, | |
die leuchten, sobald er von irgendetwas erzählt, das mit Technik zu tun | |
hat. Er sagt, seine Frau habe ihn verlassen, weil er sich zu viel mit | |
Soldaten herumgetrieben hat, zu oft mit den Drohnen draußen auf den Feldern | |
war. | |
Dowgal sitzt in einem kleinen Raum, zwei Tische aus hellem Sperrholz, ein | |
Regal aus weißem Blech und unzählige Kartons, in denen Drohnen liegen oder | |
Teile von Drohnen. Meistens Copter, Maschinen mit vier, sechs oder acht | |
Rotoren, die in der Luft stehen bleiben können, wenn sie der Pilot nicht | |
steuert. Sie sind einfacher zu bedienen als die Flugzeuge, an denen Viktor | |
Genin die Soldaten schult. Iwan Dowgal unterrichtet Kinder. | |
## Ein Roboter lernt, Essen in einer Pfanne zu wenden | |
Sie sitzen im Zimmer nebenan, das Lachen, Rufen, Schnauben ist durch die | |
Tür zu hören. Geht man hinüber, steht man vier Jungen und einem Mädchen | |
gegenüber, sie sitzen an Schultischen und schauen auf eine Leinwand. Es | |
läuft ein Film, wie ein Roboter von einer Frau lernt, Essen in einer Pfanne | |
zu wenden. Ein Junge in rotem Shirt und blauen Hosen lehnt sich so weit | |
zurück, dass er mit dem Rücken fast auf dem Tisch hinter ihm liegt.Wenn er | |
einen Witz macht, einen blöden Spruch, gehen die Blicke der anderen Kinder | |
zu ihm, er ist der Anführer hier, der Klassenclown, irgendetwas dazwischen. | |
Sie lernen im zweiten Stock einer Schule in Kiew, obwohl Sommerferien sind, | |
draußen ist es 38 Grad heiß, keine Wolken. Iwan Dowgal und ein Kollege | |
bringen ihnen bei, wie Roboter funktionieren, wie sie kleine Copterdrohnen | |
fliegen, die so groß sind wie die Handteller von Dowgal und deren Batterie | |
nur fünf Minuten hält. [8][Robo UA] heißt dieses Projekt, er will damit | |
auch an andere Schulen. „Heute lernen die Jugendlichen meist Recht oder | |
irgendetwas mit Wirtschaft“, sagt Iwan Dowgal, „deswegen gebe ich diese | |
Kurse.“ In der Ukraine habe es früher viele Ingenieure gegeben, sagt | |
Dowgal, die Sowjetunion habe technische Fertigkeiten bei Kindern gefördert. | |
„Heute ist das nicht mehr so, ich will das wiederbeleben.“ Für Iwan Dowgal | |
spielt sich der Kampf nicht mehr an der Front ab, sondern hier. | |
## Raumschiff Enterprise auf LSD | |
Ja, er hat noch Fotos, er schickt sie später per Facebook, graue Drohnen | |
mit vier Rotoren, das seien die ersten gewesen, die er im Sommer 2014 | |
ukrainischen Soldaten mitgegeben habe, damals vor zwei Jahren, als der | |
Krieg begann. | |
„Aber für mich geht es inzwischen darum, unser Land wieder aufzubauen, | |
daraus etwas besseres zu machen.“ Für ihn verläuft eine Art zweite Front in | |
der Ukraine selbst. Zwischen denen, die alles so verkrustet und wenig | |
lebenswert lassen wollen, wie es vor dem Maidan war. Und Leuten wie ihm, | |
denen eine andere Ukraine vorschwebt. Weniger korrumpierte Eliten, Medien, | |
die nicht allein Sprachrohre der Oligarchen sind, Kinder, die Englisch | |
sprechen könne, die wissen, wie man mit moderner Technik umgeht. | |
„Vielleicht werden ein paar von ihnen Erfinder“, sagt Iwan Dowgal, „und | |
bringen etwas Neues in unser Land.“ | |
Die Kinder sollen jetzt mit einem Computerprogramm ein Strichmännchen dazu | |
bewegen, dass es von rechts unten nach rechts oben auf dem Bildschirm | |
läuft. Der Junge, der sich vorhin so über die Tische gefläzt hat, macht mit | |
der Software etwas, das aussieht wie eine Installation des Künstlers Andy | |
Warhol und des Star Trek-Erfinders Gene Rodenberry auf LSD. Aus den Händen | |
einer Frau schießen im Abstand von drei Sekunden Laserstrahlen, während ein | |
Teppich von rechts nach links durchs Bild fliegt. Darüber schwebt eine | |
grellgrüne Pyramide. | |
Läuft Euer Strichmännchen, fragt der Kollege von Iwan Dowgal, der gerade | |
unterrichtet? | |
Klar, sagt der Junge. Es läuft. | |
Die Titelgeschichte „Maria gegen Putin“ lesen Sie [9][in der taz.am | |
wochenende vom 15./16. Oktober 2016.] | |
15 Oct 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.scotsman.com/lifestyle/culture/theatre/joyce-mcmillan-how-the-tr… | |
[2] https://www.facebook.com/intelligenceaero/ | |
[3] /!163042/ | |
[4] /!5019919/ | |
[5] https://www.amnesty.org/en/documents/EUR50/040/2014/en/ | |
[6] https://www.theguardian.com/world/2014/sep/10/azov-far-right-fighters-ukrai… | |
[7] http://www.peoplesproject.com/en/ | |
[8] http://roboua.org/ | |
[9] /!163042/ | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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