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# taz.de -- Theater in Sachsen: So ein Drama
> Der Regisseur Georg Genoux glaubt, dass Theater heilen kann. Jetzt
> versucht er es in Sachsen, in der Lausitz. Wird er scheitern?
Bild: Ali Ahmadi erzählt auf der Bühne aus seinem Leben in Sachsen. Georg Gen…
Zittau/Hagenwerder taz | Der Mann, der Sachsen auf die Bühne bringen will,
sitzt am Tag nach der Premiere auf dem Zittauer Marktplatz und beißt zu.
Georg Genoux. 39, rotblonder Schopf und graublonder Bart, ist ein Typ, dem
man ansieht, dass er zum späten Frühstück gerne Schnitzel mit Spiegelei auf
Brot isst. Große Sonnenschirme bieten im Café am Zittauer Markt Schatten
gegen die knallende Sonne, die Einheimischen halten mit und verschlingen
Eisbecher in XL-Größe mit viel roter oder schokoladiger Sauce.
Genoux hat in Moskau Regie gelernt und macht Dokumentartheater. Er hat
lange in Russland gearbeitet, an einem Off-Theater, das schnell in die
Schusslinie geriet. Er zog in die Ukraine um, wo er mit traumatisierten
Soldaten und Schulkindern ihre Kriegserlebnisse verarbeitete. Die taz
berichtete darüber (taz vom 16. 05. 2015). Jetzt kommt er mit seinem
Theaterprojekt nach Deutschland, nach Sachsen. Ausgerechnet.
Seit fünf Monaten arbeitet er in Zittau, die taz hat ihn dabei begleitet.
„Das Dokumentarische inszenieren: einen größeren Gegensatz gibt es kaum“,
sagt Genoux auf dem Marktplatz. Er versucht etwas aus der Wirklichkeit auf
die Bühne zu holen, etwas sichtbar zu machen, das man im Alltag nicht
sieht. Der Regisseur legt die Sonnenbrille mit sehr kleinen Gläsern vor
sich auf den Tisch. Es geht ihm um Verletzungen, beschädigte Biografien und
unbeschädigte Träume. „Die Wirklichkeit noch wirklicher machen“, nennt er
es. „Ich weiß, dass das angreifbar ist.“
Genoux ist überzeugt, „dass Theater heilen kann“. Man kann seinen Ansatz
naiv finden. Aber Genoux’ Theater ist nicht didaktisch, kein Lehrstück, das
die Zuschauer aufklären will und in dem die Leute hinter der Bühne immer
schon Bescheid wissen. Im normalen Theater langweilt sich Genoux, „ich
fühle mich da oft eher manipuliert“.
Genoux erhebt sich. Nach der Premiere geht es für ihn weiter. Gleich ist er
mit dem Seniorentheater der Stadt verabredet, später mit den Rentnerinnen
von Hagenwerder. Was er in Russland und dann in der Ukraine versucht hat,
das will er jetzt in Sachsen versuchen. Kann das funktionieren?
## Noch fünf Monate bis zur Premiere
Ende April 2018 reist Genoux das erste Mal nach Zittau, bleibt einen Monat.
Er läuft wie doof durch die Gegend, quatscht Menschen an, niemand will sich
mit ihm einlassen. Jedem stellt er sich mit den Worten vor: „Ich heiße
Georg, ich mache für das Theater in Zittau ein Stück über Sachsen. Ich
fahre viel rum, spreche mit Menschen. Hätten Sie auch mal Zeit, mir etwas
über den Ort zu erzählen?“
Ein Gefühl, als läge eine Glocke über der Stadt, sagt er. Freundliche
Reserviertheit, Misstrauen. Denken nicht eh alle, Sachsen wäre das Land, wo
Rechtsextreme Brandanschläge auf Flüchtlingsheime verüben, wo die Nazis
aufmarschieren, wo Fremde, vor allem Menschen anderer Hautfarbe, aus
anderen Kulturkreisen nicht willkommen sind?
„Gut so, dann kommen wenigstens nicht so viele zu uns.“ Das hört er hier
öfter. Eine Mischung aus Trotz, Beleidigtsein, Bestätigung. Er würde gerne
dahinterkommen, warum sie so denken.
Georg Genoux’ „Multikulti-Ottensen“, wie er den Stadtteil in Hamburg nenn…
in dem er aufwuchs, ist mental wie geografisch weit weg von der
Oberlausitz. Viel weiter weg als Polen oder Tschechien, die sich in
Spuckweite befinden: einmal über die Neiße, bitte. Und mit denen man die
sozialistische Vergangenheit teilt. Und den Kohlestaub, den das Kraftwerk
Turów auf der polnischen Seite nach wie vor in die Luft bläst. Gemein.
Mehr als zwanzig Jahre hat Genoux in Moskau gearbeitet, in Kiew und Sofia
Theater geleitet. Vor zwei Jahren gastierte er mit einer Produktion beim
„Dreiländer-Spiel“. Die Zittauer Intendantin Dorotty Szalma lud ihn ein,
wiederzukommen, Genoux sagte zu. Das Projekt „Das Land, das ich nicht
kenne“ (www.fremdland.org) nahm erste Gestalt an. Zwei Jahre lang will
Genoux durch Sachsen reisen, Kontakt mit den Menschen, ihren Orten, ihrer
Geschichte aufnehmen. Verweilen, Tagebuch führen, kleine Theaterstücke
entwickeln, Jugendliche mit der Videokamera porträtieren, am Ende soll ein
Dokumentarfilm entstehen.
In Zittau fühlt er sich zu Beginn mehr wie ein Stolperstein denn als
Brückenbauer, sagt er.
## Vorhang auf
Hier bin ich geboren, wo die Kühe mager sind wie das Glück. (Gundermann)
Im Kino läuft er noch, der Film von Andreas Dresen über Gerhard Rüdiger
Gundermann, den Sänger und Baggerführer, Kommunisten und Stasi-Spitzel. Der
nachts in seinem Bagger hoch oben über den Kohlegruben im Wind schaukelte
und melancholische Alltagsbeobachtungen in sein Diktafon sprach. Kühe und
Bagger sind verschwunden, die Reviere weitestgehend renaturiert, die
Grenzen offen; nur das Glück ist mager geblieben in der Oberlausitz. Die
nach der Wende prophezeiten fetten Jahre fielen aus, kamen anderen zugute.
Zumindest sehen das viele Menschen hier so, sie artikulieren ihren Unmut,
sie wählen die etablierten Parteien ab, sie wundern und ärgern sich, dass
Sachsen so einen schlechten Ruf hat.
Hoyerswerda und Umgebung, wo Gundermann bis zu seinem frühen Tod 1998
lebte, gehören zur Oberlausitz und damit zu Sachsen. Ebenso Zittau, das
noch ein bisschen entlegener, noch ein bisschen versteckter im
südöstlichsten Zipfel des Landes liegt und mit Tschechien und Polen ein
Dreiländereck bildet. Als Sachsen noch planwirtschaftlich regiert war,
befand sich hier der Ruhrpott der DDR, die Wäsche auf den Leinen und die
Schneemänner waren schwarz. Heute glitzern die in den Kohlegruben
entstandenen Seen einsam im Spätsommerlicht und die Ausflugslokale tragen
verheißungsvolle Namen wie „Blaue Lagune“.
Heimat ist etwas, das sich verändert, wie wir uns verändern. Die Heimat
kann einem plötzlich fremd werden. So ergeht es Genoux, als er nach vielen
Jahren nach Deutschland wiederkommt. Und so ergeht es den Lausitzern.
Genoux stolpert also durch die Gegend, im Juli kommt er wieder. Wer
stolpert, stößt Steine an, die wild durch die Gegend kullern. Manche landen
im Aus, manche stoßen andere an und setzen etwas in Bewegung. Genoux lernt
Menschen kennen, die ihm ihre Geschichte erzählen, ihn mit anderen bekannt
machen. Die Glocke über der Stadt lichtet sich. Kreise, die einander nicht
berühren, öffnen sich – oft nur für einen kurzen Moment.
Genoux besucht eine Wohngruppe junger Geflüchteter aus Afrika, trifft sie
auf ihrem Ausflug nach Hamburg. Könnte er die jungen Männer mit dem
Seniorentheater in Tandems zusammenspannen? Er trifft die Skater und
BMX-Radler an der Halfpipe vor dem örtlichen Kaufland, die „eine kleine
rechte Meinung“ haben. Könnte er sie mit Kunststücken in seine Inszenierung
einbinden? Er lernt einen Kickbox-Trainer kennen, der bei Veranstaltungen
Musik macht und Trompete spielt. Soll er ihn als Bühnenmusiker engagieren?
Er trifft einen Ungarndeutschen und seine aus Schlesien stammende Frau, die
ihm etwas über ihre Zeit in Zittau nach 1945 erzählen. Zwei Drittel der
Bevölkerung waren Vertriebene, Geflüchtete. Könnte er ihre Erfahrungen im
Prolog unterbringen? Er lernt die Schülerin Emma im Zug kennen, die eine
freie Schule besucht, und macht sie mit Alfa bekannt, einem junge Mann aus
Sierra Leone. Beide sind gleich alt, offen, neugierig. Sind sie geeignete
Protagonisten für das Stück, für die Videoporträts?
Genoux sucht und verwirft. Er wird hingehalten und versetzt. Er erntet
irritierte Blicke. Theater? Dokumentartheater? Zwischen Erzählen und
Mitmachen, Auf-der-Bühne-Stehen, ist ein großer Unterschied. Am Abend des
3. Oktober, Tag der deutschen Einheit, soll schon Premiere sein. Der Titel
steht fest: „Gerechtigkeit für Sachsen“.
Genoux fragt: „Versteht man die Anspielung auf den Handke-Text?
„Gerechtigkeit für Serbien, das war ein sehr wichtiger Text für mich.“
Versteht man nicht. Ist ziemlich dick aufgetragen. „Alle assoziieren
Dunkeldeutschland mit Sachsen. Ich will ein anderes Bild zeigen. Es ist
wichtig, Menschen nicht in die rechte Ecke zu stellen. Du kriegst sie sonst
nicht wieder raus.“ Und wenn sie das gar nicht wollen? Geschieht vielleicht
trotzdem etwas mit ihnen.
## Noch drei Monate bis zur Premiere
Hier gab es billigen Fusel auf Marke, und genau so sehen wir heute auch
aus. Hier lässt man Fremde nicht gerne parken, es sei denn, sie geben einen
aus. (Gundermann)
Ali Ahmadi möchte zum Theater. „Ich kann auch Hauptdarsteller“, sagt er im
Juli. Treffpunkt ist die Pasta Fantastica, wo es selbstgemachte Limonade
und Cappuccino gibt. Ahmadi wirkt selbstbewusst, er ist vom Theater
angefixt. Derzeit macht er ein Praktikum im Krankenhaus, abends ist er
Statist in „Die 7. Geisterstunde – Die Rückkehr des tollen Junkers“ auf …
Waldbühne, die zum Zittauer Theater gehört. „Da kommen viele Leute“, sagt
Ahmadi. Er ist 19, anerkannter Flüchtling aus Afghanistan. Schmal, nicht
sehr groß, mit einer kecken dunklen Locke auf der Stirn.
Ahmadi kam 2016 als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland und
verbrachte die ersten anderthalb Jahre in einem Heim in Hirschfelde, einem
Dorf nahe Zittau. Er gehörte zu den ersten vier Bewohnern dort. Als sein
Freund Farid, auch ein Afghane, dort eintraf, begrüßte er ihn mit den
Worten „Willkommen in der Hölle“. Die Betreuer warnten sie, alleine
rauszugehen. Draußen war ohnehin nie jemand. Ahmadi fing an zu laufen,
joggen, frische Luft, Freiheit atmen, die Straße nach Ostritz runter, „drei
Minuten: Bäume, zehn Minuten: Bäume, vierzig Minuten: Bäume“. Seine
Allein-Zeit-Straße nannte er die Strecke.
Wie lange war er auf der Flucht? Ein paar Monate, sagt er. „Aber ich war
vorher schon Flüchtling, in Afghanistan.“ Ahmadi ist Hazara, eine ethnische
Minderheit in Afghanistan, er spricht Farsi; mit 13 Jahren schickte ihn
seine Mutter nach Kabul, sein Vater und sein Bruder waren von Taliban
getötet worden. Er schlug sich allein in Kabul durch, aber irgendwann war
auch das nicht mehr sicher. Er spricht nicht gern darüber. „Afghanistan,
das habe ich alles gelöscht“, sagt er. „Neues Ali geboren.“ Der neue Ali
hat in Zittau den Hauptschulabschluss nachgeholt, Jugendtheater gespielt,
eine kleine Wohnung gefunden. Über dem Sofa hängt ein Plakat von „Fatima“,
dem Stück, das Ali fürs Theater begeistert hat.
Seine ersten Sätze kann er heute noch auswendig: „Ich wette, wieder
irgendein Araber, der zu spät dran war. Ich setze meine ganzen Ersparnisse
darauf. Wer wettet dagegen?“ Ahmadi spielte den Bruder von Fatima, die nach
den Ferien plötzlich Kopftuch trägt. Damals konnte er noch gar nicht
richtig Deutsch, aber er lernte die Textstellen auswendig. Sein Deutsch ist
heute noch nicht perfekt, aber wie bei den Einheimischen hat sich bereits
ein „Noh“ statt Ja eingeschlichen. „Und nee heißt Nein“, sagt er und l…
Lächeln und Danke sagen, das gefällt den Deutschen. Das hat er Georg Genoux
erzählt, der bei ihrer zweiten Verabredung ein Aufnahmegerät mitbringt und
daraus einen Text extrahiert. Nie ohne ihn absegnen zu lassen. So sammelt
er Material für ein mögliches Stück.
Lange ist nicht klar, was für ein Stück das werden könnte. Mit wem
überhaupt? Ali Ahmadi jedenfalls ist bereit.
## Noch ein Monat bis zur Premiere
Hier sind wir alle noch Brüder und Schwestern, hier sind die Nullen ganz
unter sich. Hier ist es heute nicht besser als gestern, und ein Morgen gibt
es hier nicht. (Gundermann)
Georg Genoux ist mittelgroß, stattlich, durch Zittau wandert er wie ein
russischer Bär, gemächlich, unaufgeregt, aufmerksam. Seine am Hinterkopf
kurz geschorenen blonden Haare fallen ihm in die Stirn, meist ist er in
Begleitung seiner russischen Lebensgefährtin Anastasia Tarkhanova, die ihm
mit Videos und beim Bühnenbild hilft. Anfang September bezieht das Paar
eine Gastwohnung in Zittau. Genoux trifft Leute, er trifft Leute wieder,
er trifft eine Entscheidung. So wie er sich das anfangs vorgestellt hat,
unterschiedliche Charaktere unterschiedlicher Herkunft unterschiedlicher
Gesinnung miteinander übereinander reden zu lassen: Funktioniert nicht.
Was hat in der Ukraine funktioniert, was in Sachsen nicht geht? Immerhin
hat Genoux dort vom Krieg versehrte Soldaten und Kinder zum Sprechen
bekommen. „Es war auf bestimmte Weise fassbarer“, sagt Genoux. Die
Personenkonstellation war klar: Ukrainische und russische Jugendliche,
gemeinsam an einer Schule. „Aber dadurch war es nicht einfacher. Wie ein
Chirurg konntest du mit einem winzigen Schnitt alles zerstören.“ Ein
falsches Wort hätte genügt.
Was macht es dann in Sachsen so schwierig? Scheitert Genoux? Er sagt allen
ruhig: „Ich mache das nicht zum ersten Mal.“ Er ist doch noch am Anfang, er
braucht Zeit.
Genoux will kein „Tourismusprojekt“ machen. Mal kurz reinschauen, sich
gruseln, wieder abreisen. „Du kannst hier nur etwas erreichen, wenn du
langfristig arbeitest.“ Die afrikanischen Jugendlichen sind verschlossen,
die Leute im Ort misstrauisch. Wenn die Leute nicht zu ihm auf die Bühne
kommen, dann dreht er die Situation halt um. Er wird den Zittauern
erzählen, wie es ihm hier geht. Was seine Begegnungen mit ihm machen. „Das
ist ehrlicher.“ Das Thema AfD und Chemnitz will er draußen lassen. Seine
Bibel des Dokumentartheaters besagt: „Du darfst nicht aus dem
Tagespolitischen Kapital schlagen.“
Er wird den Zittauern von Hagenwerder erzählen.
„Warum hast du dich in Hagenwerder verliebt?“ – „Weil hier die Zeit ste…
geblieben ist.“ – „Wann ist sie stehen geblieben?“ – „1997. Als das
Kraftwerk und die Schule schlossen.“
Man könnte sagen: Hagenwerder hat ihn gewurmt. Und vielleicht war
Hagenwerder auch fassbarer als Zittau. Der kleine Ort liegt eine halbe
Stunde mit dem Zug entfernt. Hier leben Polen und Deutsche einvernehmlich
nebeneinander her, Geflüchtete gibt es hier nicht Oberlausitz, Sachsen en
miniature.
## Hagenwerder
Hier kriege ich immer einen halbvollen Teller, an einem runden Tisch.
(Gundermann)
Die einzige Kneipe von Hagenwerder heißt schlicht „Treff“. Oder Kiosk,
Imbiss. Beim ersten Mal traute sich Genoux nicht rein. Zwei etwas finster
blickende Typen vor der Tür, in der Straße parkte ein Auto mit der
Aufschrift „Lächle du kannst nicht alle töten“. Beim zweiten Mal ist er m…
zwei Freundinnen da. Wo kann man hier Zigaretten kaufen? An der Tanke, um
die Ecke in Polen. Ein Typ am Tresen, Vorname Udo, sagt: Kein Problem, ich
besorg euch welche. Er läuft los und kommt nach zehn Minuten wieder, zwei
Päckchen in der Hand. Das Eis ist gebrochen. Der Hackbraten der Wirtin
mundet. Man trinkt Bubenschulze, ein dunkles, malziges Bier, und grünen
Pfeffi oder selbstgebrannten Schokolikör.
Genoux geht jetzt fast täglich hierher, macht Bekanntschaften, schließt
erste Freundschaften. Die Sozialarbeiterin, die Rentnerinnen. Der
Dissident, der Schäfer, der Dorfpolizist. Der Lackierer, der ehemalige
Soldat und die Leute vom Fußballverein ISG Hagenwerder. Und Kalle, der
AfD-Wähler, der ihm anderntags stolz die erhaltene Synagoge von Görlitz
zeigt. Nicht gleich ausgrenzen, sagt Genoux zu sich selbst.
Alle hier haben eine Geschichte mit dem Ort, sie sind ja geblieben. Von
3.000 auf knapp 900 Einwohner geschrumpft: Noch da sind Kita, Laden,
Kneipe. Die Sparkasse ist geschlossen, kein Bankautomat. Und kein Arzt,
keine Schule, kein Krankenhaus, kein Kraftwerk und keine Braunkohle mehr:
Hagenwerder ist heute ein ehemaliges Industriedorf, das nach Görlitz
eingemeindet worden ist. Bei der Oderflut 2010 sind sie abgesoffen. Die
Hilfsgelder landeten in Görlitz, sagen sie. „Wir waren schon immer ein
bisschen vernachlässigt, Randlage eben.“ Abends spaziert Genoux über die
Dorfstraße und wundert sich: Nur ein Fenster beleuchtet. Was tun die Leute
hier?
Die Rentnerinnen spielen Rommé, immer donnerstags in der Kneipe. Frau Z.
ist misstrauisch, ihren Namen will sie nicht preisgeben. „Wir hatten hier
alles, als es das Kraftwerk noch gab“, erzählen die Damen. – „Dreckiger
war’s schon.“ – „Genau, deswegen sind wir nie krank geworden.“ – �…
sich politisch nicht befasst hat, dann hatte man ein gutes Leben.“ –
„Hagenwerder ist nicht schlecht. Wir haben doch uns.“ Die Dorfgemeinschaft
ist zusammengerückt. Wir sind Kumpel wie Sau, sagen die Männer dort. Fremde
passen da nicht rein. Besucher werden geduldet. Und manchmal holt man ihnen
sogar Zigaretten.
„Was werden Sie denken, wenn Sie zurückfahren?“, fragt Frau Z. die
Journalistin.
Die Damen schlecken ihren Schokolikör aus. Elisabeth Wolnik, 88 Jahre alt,
1966 aus dem schlesischen Teil Polens zugezogen, sie unterhält die Runde
mit ihren Sprüchen: „Gott erschuf die Menschen und ließ sie wachsen. Dann
kam der Teufel und schuf die Sachsen.“
Längst ist Genoux in Hagenwerder kein Fremder mehr, eher ein Kuriosum. Die
Leute können ihn nicht verorten: Mit seiner Freundin spricht er Russisch,
er isst Hackbraten und trinkt Pfeffi wie ein Einheimischer. Genoux sagt:
„Ich habe in Sachsen keine Rassisten getroffen. Ich habe nur Menschen
getroffen, die Angst haben vor Fremden.“ Vor Fremden oder Fremdem? –
„Beides.“ Viele hätten noch nie mit einem Geflüchteten geredet, glaubt er.
„Man bekommt Hilfsbereitschaft nicht hin, indem man mit dem Finger auf
Leute zeigt.“ Und hilfsbereit sind die Leute, darauf schwört er.
Aber dass die Rentnerinnen beim Theaterabend mitwirken – nicht daran zu
denken. Aus ihrem vertrauten Umfeld sind sie nicht wegzulocken. Ein Abend
über Hagenwerder, ohne die Hagenwerder? „Ich werde sie einladen“, sagt
Genoux, „ich hoffe, sie werden kommen.“ Sie bekommen einen Ehrenplatz, am
Rand der Bühne. Aber auf der Bühne.
## Drei Tage vor der Premiere
Ali Ahmadi macht seit September eine Ausbildung zum Metalltechniker, vom
Jobcenter finanziert. Die Krankenpflegeschule, das hat nicht geklappt, sein
Zeugnis kam zu spät. Auf seinen Hauptschulabschluss ist er trotzdem stolz.
„Mein erstes Zeugnis überhaupt“, sagt er. „Das bedeutet mir viel mehr als
anderen.“ Ahmadi träumt weiter vom Theater. Etwas mit Menschen zu tun
haben, reden können. Keine Allein-Zeit mehr.
Ahmadi sitzt auf dem ausladenden Sofa, die Musterung ein Geschenk der 80er
Jahre und seiner Vermieterin. Er fühlt sich wohl im Haus, hält sich an die
Hausordnung. Keine Störung der Nachtruhe nach 22 Uhr. „Ich weiß, in
Deutschland springt niemand über das Gesetz.“
Zweieinhalb Seiten lang ist das Skript, das ihm Georg Genoux in die Hand
gedrückt hat. Ein Konzentrat der Dinge, die Ali erzählt hat und die er
preiszugeben bereit ist. Am Wochenende war er mit dem Regisseur und seiner
Freundin zum ersten Mal in Hagenwerder. Sie sitzen im Treff, Ahmadi erzählt
von seiner Ausbildung, und die an diesem Samstagabend kaum gefüllte Kneipe
nimmt von ihm anscheinend keine Notiz. Der erwartete Showdown fällt aus.
Später dreht Ahmadi mit dem Regisseur noch eine Runde durchs Dorf.
„Guten Abend. Mein Name ist Ali. Ich war in Ihrer Stadt.“ So fängt Ahmadis
Beschreibung von Hagenwerder an, das ihm an diesem Abend dunkel und etwas
unheimlich erschien. Er soll den Text am Premierenabend vortragen.
Hagenwerder erinnert Ahmadi an seine Zeit im Jugendwohnheim für
unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Hirschfelde. Keine Leute dort,
schon gar keine jungen. Er bedauert die Menschen in Hagenwerder. „Sie haben
keinen Ort, wo sie hingehen können.“
Ali Ahmadi ist nervös, diese Art von Theater kennt er nicht. „Ich hatte
immer eine feste Rolle“, sagt Ahmadi. „Diesmal muss ich lesen oder etwas
erzählen.“ In eine andere Person zu schlüpfen sei viel einfacher, als etwas
von sich zu erzählen. Über sein Leben in Hirschfelde, seine Ankunft in
Deutschland. Neben Genoux und dem Musiker ist er der Einzige, der sich
mitzuspielen traut. Der Regisseur will nicht, dass er seinen Text auswendig
lernt oder vorliest. Da gehe viel verloren an Intensität, Spontaneität. Er
wird ihm Stichworte geben, Fragen stellen.
Hast du Angst auf die Bühne zu gehen? – „Herzklopfen: auf jeden Fall. Aber
das Adrenalin liebe ich.“ Ahmadi wird vor Aufregung einige Textstellen
vergessen – aber er wird es hinkriegen.
## Noch zwei Stunden bis zur Premiere
Seit Tagen bastelt Anastasia Tarkhanova in ihrer Wohnung im Pfarrhaus am
Bühnenbild. Hagenwerder als Miniatur, Sachsen als Miniatur. Im Döner-Imbiss
haben sie Pappkartons besorgt, in Görlitz Bastelutensilien. Aus den
Kartons hat Tarkhanova Häuser geschnitten, Plattenbauästhetik der 50er
Jahre, der Kneipe hat sie bunte Fenstertapeten verpasst, bis zwei Stunden
vor der Premiere malt sie noch schwarze Tupfer auf die Fenster der
Wohnhäuser. Die hellen Papphäuschen werden in der Mitte der Bühne stehen,
die man wie einen Tisch umrunden kann.
Das Theater Zittau überlässt Genoux die Hinterbühne und stellt die
Logistik: Licht, Ton, Bühnentechnik. Ein Honorar wollte er nicht, weil
später der Film entstehen soll. Nächstes Jahr will er mit seinem
Sachsen-Projekt Geld verdienen, neue Förderanträge stellen. Beim
Sozialministerium hatte er Gelder beantragt, ohne Erfolg. Am Premierenabend
wird die Zittauer Intendantin kommen, ebenso Vertreter der Theater in
Bautzen und Dresden. Der Chefdramaturg soll die Publikumsdiskussion
moderieren. Die sächsische Zeitung hat einen großen Vorbericht gebracht.
„Nervös?“ – „Nö.“
Georg Genoux wird den Erzähler machen, frei sprechen, zwei Tage hat er sich
zurückgezogen und vorbereitet. Einzig die Frage, ob Leute aus Hagenwerder
kommen, treibt ihn um.
Sie kommen.
Vorsorglich hat Genoux am Rand der Bühne vier Stühle aufstellen lassen. Es
sind drei Herren aus Hagenwerder, die gebeten werden, dort Platz zu nehmen.
Udo, Sebastian, Mike, so stellt Genoux sie dem Publikum vor. Zur Begrüßung
drückt er ihnen ein Bier in die Hand. Wie schafft man es, dass sich die
Menschen aus Hagenwerder nicht vorgeführt fühlen? Dass sich Ali Ahmadi
nicht vorgeführt fühlt? Ist das Gerechtigkeit für Sachsen?
Man muss es gut machen, sagt Genoux.
Er macht es gut.
„Haben Sie Hagenwerder wiedererkannt?“, fragt der Moderator beim
Publikumsgespräch. Etwa 50 Zuschauer sitzen im Saal. „Zum großen Teil“,
antwortet Mike. „Was mich sehr berührt hat, ist das mit unserem
Zusammenhalt.“
Mit Handschlag bedanken sich die drei Männer bei Genoux, Ahmadi und dem
Musiker, der mit der Trompete das Schlesien-Lied gespielt hat. Denn
Hagenwerder war schlesisch und damit preußisch, während Zittau zu Sachsen
gehörte. Aber beides ist die Oberlausitz, wo das Glück stets mager ist und
der Teller halbvoll.
Das Schlesien-Lied ist für Kalle, den AfDler, den Genoux im Hagenwerder
Treff kennengelernt hat und mit dem er gemeinsam in Görlitz die Synagoge
besichtigt hat. Heute ist Kalle beim Schlesien-Tag in Breslau, er hat sich
entschuldigt.
Genoux widmet der Begegnung mit Kalle eine ganze Szene. Zwei Schnapsgläser
stehen in einem der Papphäuschen, das eine ist grün und das andere braun
gefüllt. Grün steht für Pfefferminzlikör, braun für Kräuterlikör. Ein
Wetttrinken begann, erzählt Genoux da auf der Bühne, zwischen ihm, der sich
stets als Grüner verstanden hat und Pfeffi trank, und Kalle, dem
AfD-Wähler, der beim Kräuterlikör blieb.
Wer lange in Russland gelebt hat, kann beim Trinken mithalten. Derbe,
rassistische Sprüche seien gefallen. „Merkel, die Sau.“ – „Noch von
Honecker geschult und hier eingeschleust, um alles zu zerschlagen.“ –
„Dieses Gesocks, was 2015 zu uns rübergekommen ist, die halten sich nicht
an unsere Ordnung. Aber der Deutsche braucht Ordnung. So wie diese
Tischdecke hier.“ Abwechselnd habe Kalle auf den Tisch gehauen und die
Tischdecke gerade gezogen. „Ich weiß nicht“, zitiert Genoux am Ende Kalle,
„wann ich zum letzten Mal einen Grünen umarmt habe.“
## Der Vorhang zu, die Fragen offen
„Wir müssen uns dieser Denkweise, dieser Gefühlsweise stellen“, sagt Geno…
auf dem Zittauer Marktplatz am Tag nach der Premiere. Das Schnitzel ist
verspeist, der Kaffee trotz Sonne kalt geworden. „Verstehen heißt ja nicht
gutheißen. Man muss zunächst mal akzeptieren, dass nicht alle hier
Demokraten sind.“ Muss man das wirklich? Wird man damit Sachsen gerecht?
„Das Wort Gerechtigkeit gilt natürlich auch für Ali Ahmadi“, antwortet
Genoux. „Man widerspricht sich bei diesem Thema ständig“, sagt er und
lacht. „In 30 Jahren wird das hier ganz anders aussehen. Ali ist näher dran
an Hagenwerder, als die denken.“
Auf dem großen Platz von Zittau nahe der Kirche St. Johannis haben
Namenlose ein Bild des in Kandel ermordeten Mädchens aufgestellt. Der Text
dazu lautet: „Die 15-jährige Mia wurde am 27.12.2017 in Kandel von ihrem
afghanischen Ex-Freund, der sie zuvor mehrmals bedrängte und ihr
nachstellte, erstochen.“ Was hat Kandel mit Zittau zu tun?
Genoux wird weiter durch Sachsen reisen. In Zittau fortführen, was er
begonnen hat. Im Februar wird der Regisseur mit fünf afrikanischen
Jugendlichen ein Stück über ihr Leben in Deutschland erarbeiten, dann das
Seniorentheater dazuholen. Zwei der Jungs waren bei der Premiere am 3.
Oktober dabei, fühlen sich durch Ahmadis Auftritt ermutigt.
Wie Ali Ahmadi die Aufführung gefallen hat? „Es war alles neu für mich“,
sagt er. „Ich habe so etwas noch nie gesehen, noch nie gemacht. Aber dass
man eine Stadt als Beispiel für alle nimmt, finde ich gut.“
Genoux will das Stück gerne noch einmal in Hagenwerder im Gemeindesaal
aufführen, mit Ali Ahmadi. Dann kommen vielleicht mehr als drei aus dem
Ort.
27 Oct 2018
## AUTOREN
Sabine Seifert
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