# taz.de -- Theater in Sachsen: So ein Drama | |
> Der Regisseur Georg Genoux glaubt, dass Theater heilen kann. Jetzt | |
> versucht er es in Sachsen, in der Lausitz. Wird er scheitern? | |
Bild: Ali Ahmadi erzählt auf der Bühne aus seinem Leben in Sachsen. Georg Gen… | |
ZITTAU/HAGENWERDER taz | Der Mann, der Sachsen auf die Bühne bringen will, | |
sitzt am Tag nach der Premiere auf dem Zittauer Marktplatz und beißt zu. | |
Georg Genoux. 39, rotblonder Schopf und graublonder Bart, ist ein Typ, dem | |
man ansieht, dass er zum späten Frühstück gerne Schnitzel mit Spiegelei auf | |
Brot isst. Große Sonnenschirme bieten im Café am Zittauer Markt Schatten | |
gegen die knallende Sonne, die Einheimischen halten mit und verschlingen | |
Eisbecher in XL-Größe mit viel roter oder schokoladiger Sauce. | |
Genoux hat in Moskau Regie gelernt und macht Dokumentartheater. Er hat | |
lange in Russland gearbeitet, an einem Off-Theater, das schnell in die | |
Schusslinie geriet. Er zog in die Ukraine um, wo er mit traumatisierten | |
Soldaten und Schulkindern ihre Kriegserlebnisse verarbeitete. Die taz | |
berichtete darüber (taz vom 16. 05. 2015). Jetzt kommt er mit seinem | |
Theaterprojekt nach Deutschland, nach Sachsen. Ausgerechnet. | |
Seit fünf Monaten arbeitet er in Zittau, die taz hat ihn dabei begleitet. | |
„Das Dokumentarische inszenieren: einen größeren Gegensatz gibt es kaum“, | |
sagt Genoux auf dem Marktplatz. Er versucht etwas aus der Wirklichkeit auf | |
die Bühne zu holen, etwas sichtbar zu machen, das man im Alltag nicht | |
sieht. Der Regisseur legt die Sonnenbrille mit sehr kleinen Gläsern vor | |
sich auf den Tisch. Es geht ihm um Verletzungen, beschädigte Biografien und | |
unbeschädigte Träume. „Die Wirklichkeit noch wirklicher machen“, nennt er | |
es. „Ich weiß, dass das angreifbar ist.“ | |
Genoux ist überzeugt, „dass Theater heilen kann“. Man kann seinen Ansatz | |
naiv finden. Aber Genoux’ Theater ist nicht didaktisch, kein Lehrstück, das | |
die Zuschauer aufklären will und in dem die Leute hinter der Bühne immer | |
schon Bescheid wissen. Im normalen Theater langweilt sich Genoux, „ich | |
fühle mich da oft eher manipuliert“. | |
Genoux erhebt sich. Nach der Premiere geht es für ihn weiter. Gleich ist er | |
mit dem Seniorentheater der Stadt verabredet, später mit den Rentnerinnen | |
von Hagenwerder. Was er in Russland und dann in der Ukraine versucht hat, | |
das will er jetzt in Sachsen versuchen. Kann das funktionieren? | |
## Noch fünf Monate bis zur Premiere | |
Ende April 2018 reist Genoux das erste Mal nach Zittau, bleibt einen Monat. | |
Er läuft wie doof durch die Gegend, quatscht Menschen an, niemand will sich | |
mit ihm einlassen. Jedem stellt er sich mit den Worten vor: „Ich heiße | |
Georg, ich mache für das Theater in Zittau ein Stück über Sachsen. Ich | |
fahre viel rum, spreche mit Menschen. Hätten Sie auch mal Zeit, mir etwas | |
über den Ort zu erzählen?“ | |
Ein Gefühl, als läge eine Glocke über der Stadt, sagt er. Freundliche | |
Reserviertheit, Misstrauen. Denken nicht eh alle, Sachsen wäre das Land, wo | |
Rechtsextreme Brandanschläge auf Flüchtlingsheime verüben, wo die Nazis | |
aufmarschieren, wo Fremde, vor allem Menschen anderer Hautfarbe, aus | |
anderen Kulturkreisen nicht willkommen sind? | |
„Gut so, dann kommen wenigstens nicht so viele zu uns.“ Das hört er hier | |
öfter. Eine Mischung aus Trotz, Beleidigtsein, Bestätigung. Er würde gerne | |
dahinterkommen, warum sie so denken. | |
Georg Genoux’ „Multikulti-Ottensen“, wie er den Stadtteil in Hamburg nenn… | |
in dem er aufwuchs, ist mental wie geografisch weit weg von der | |
Oberlausitz. Viel weiter weg als Polen oder Tschechien, die sich in | |
Spuckweite befinden: einmal über die Neiße, bitte. Und mit denen man die | |
sozialistische Vergangenheit teilt. Und den Kohlestaub, den das Kraftwerk | |
Turów auf der polnischen Seite nach wie vor in die Luft bläst. Gemein. | |
Mehr als zwanzig Jahre hat Genoux in Moskau gearbeitet, in Kiew und Sofia | |
Theater geleitet. Vor zwei Jahren gastierte er mit einer Produktion beim | |
„Dreiländer-Spiel“. Die Zittauer Intendantin Dorotty Szalma lud ihn ein, | |
wiederzukommen, Genoux sagte zu. Das Projekt „Das Land, das ich nicht | |
kenne“ (www.fremdland.org) nahm erste Gestalt an. Zwei Jahre lang will | |
Genoux durch Sachsen reisen, Kontakt mit den Menschen, ihren Orten, ihrer | |
Geschichte aufnehmen. Verweilen, Tagebuch führen, kleine Theaterstücke | |
entwickeln, Jugendliche mit der Videokamera porträtieren, am Ende soll ein | |
Dokumentarfilm entstehen. | |
In Zittau fühlt er sich zu Beginn mehr wie ein Stolperstein denn als | |
Brückenbauer, sagt er. | |
## Vorhang auf | |
Hier bin ich geboren, wo die Kühe mager sind wie das Glück. (Gundermann) | |
Im Kino läuft er noch, der Film von Andreas Dresen über Gerhard Rüdiger | |
Gundermann, den Sänger und Baggerführer, Kommunisten und Stasi-Spitzel. Der | |
nachts in seinem Bagger hoch oben über den Kohlegruben im Wind schaukelte | |
und melancholische Alltagsbeobachtungen in sein Diktafon sprach. Kühe und | |
Bagger sind verschwunden, die Reviere weitestgehend renaturiert, die | |
Grenzen offen; nur das Glück ist mager geblieben in der Oberlausitz. Die | |
nach der Wende prophezeiten fetten Jahre fielen aus, kamen anderen zugute. | |
Zumindest sehen das viele Menschen hier so, sie artikulieren ihren Unmut, | |
sie wählen die etablierten Parteien ab, sie wundern und ärgern sich, dass | |
Sachsen so einen schlechten Ruf hat. | |
Hoyerswerda und Umgebung, wo Gundermann bis zu seinem frühen Tod 1998 | |
lebte, gehören zur Oberlausitz und damit zu Sachsen. Ebenso Zittau, das | |
noch ein bisschen entlegener, noch ein bisschen versteckter im | |
südöstlichsten Zipfel des Landes liegt und mit Tschechien und Polen ein | |
Dreiländereck bildet. Als Sachsen noch planwirtschaftlich regiert war, | |
befand sich hier der Ruhrpott der DDR, die Wäsche auf den Leinen und die | |
Schneemänner waren schwarz. Heute glitzern die in den Kohlegruben | |
entstandenen Seen einsam im Spätsommerlicht und die Ausflugslokale tragen | |
verheißungsvolle Namen wie „Blaue Lagune“. | |
Heimat ist etwas, das sich verändert, wie wir uns verändern. Die Heimat | |
kann einem plötzlich fremd werden. So ergeht es Genoux, als er nach vielen | |
Jahren nach Deutschland wiederkommt. Und so ergeht es den Lausitzern. | |
Genoux stolpert also durch die Gegend, im Juli kommt er wieder. Wer | |
stolpert, stößt Steine an, die wild durch die Gegend kullern. Manche landen | |
im Aus, manche stoßen andere an und setzen etwas in Bewegung. Genoux lernt | |
Menschen kennen, die ihm ihre Geschichte erzählen, ihn mit anderen bekannt | |
machen. Die Glocke über der Stadt lichtet sich. Kreise, die einander nicht | |
berühren, öffnen sich – oft nur für einen kurzen Moment. | |
Genoux besucht eine Wohngruppe junger Geflüchteter aus Afrika, trifft sie | |
auf ihrem Ausflug nach Hamburg. Könnte er die jungen Männer mit dem | |
Seniorentheater in Tandems zusammenspannen? Er trifft die Skater und | |
BMX-Radler an der Halfpipe vor dem örtlichen Kaufland, die „eine kleine | |
rechte Meinung“ haben. Könnte er sie mit Kunststücken in seine Inszenierung | |
einbinden? Er lernt einen Kickbox-Trainer kennen, der bei Veranstaltungen | |
Musik macht und Trompete spielt. Soll er ihn als Bühnenmusiker engagieren? | |
Er trifft einen Ungarndeutschen und seine aus Schlesien stammende Frau, die | |
ihm etwas über ihre Zeit in Zittau nach 1945 erzählen. Zwei Drittel der | |
Bevölkerung waren Vertriebene, Geflüchtete. Könnte er ihre Erfahrungen im | |
Prolog unterbringen? Er lernt die Schülerin Emma im Zug kennen, die eine | |
freie Schule besucht, und macht sie mit Alfa bekannt, einem junge Mann aus | |
Sierra Leone. Beide sind gleich alt, offen, neugierig. Sind sie geeignete | |
Protagonisten für das Stück, für die Videoporträts? | |
Genoux sucht und verwirft. Er wird hingehalten und versetzt. Er erntet | |
irritierte Blicke. Theater? Dokumentartheater? Zwischen Erzählen und | |
Mitmachen, Auf-der-Bühne-Stehen, ist ein großer Unterschied. Am Abend des | |
3. Oktober, Tag der deutschen Einheit, soll schon Premiere sein. Der Titel | |
steht fest: „Gerechtigkeit für Sachsen“. | |
Genoux fragt: „Versteht man die Anspielung auf den Handke-Text? | |
„Gerechtigkeit für Serbien, das war ein sehr wichtiger Text für mich.“ | |
Versteht man nicht. Ist ziemlich dick aufgetragen. „Alle assoziieren | |
Dunkeldeutschland mit Sachsen. Ich will ein anderes Bild zeigen. Es ist | |
wichtig, Menschen nicht in die rechte Ecke zu stellen. Du kriegst sie sonst | |
nicht wieder raus.“ Und wenn sie das gar nicht wollen? Geschieht vielleicht | |
trotzdem etwas mit ihnen. | |
## Noch drei Monate bis zur Premiere | |
Hier gab es billigen Fusel auf Marke, und genau so sehen wir heute auch | |
aus. Hier lässt man Fremde nicht gerne parken, es sei denn, sie geben einen | |
aus. (Gundermann) | |
Ali Ahmadi möchte zum Theater. „Ich kann auch Hauptdarsteller“, sagt er im | |
Juli. Treffpunkt ist die Pasta Fantastica, wo es selbstgemachte Limonade | |
und Cappuccino gibt. Ahmadi wirkt selbstbewusst, er ist vom Theater | |
angefixt. Derzeit macht er ein Praktikum im Krankenhaus, abends ist er | |
Statist in „Die 7. Geisterstunde – Die Rückkehr des tollen Junkers“ auf … | |
Waldbühne, die zum Zittauer Theater gehört. „Da kommen viele Leute“, sagt | |
Ahmadi. Er ist 19, anerkannter Flüchtling aus Afghanistan. Schmal, nicht | |
sehr groß, mit einer kecken dunklen Locke auf der Stirn. | |
Ahmadi kam 2016 als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland und | |
verbrachte die ersten anderthalb Jahre in einem Heim in Hirschfelde, einem | |
Dorf nahe Zittau. Er gehörte zu den ersten vier Bewohnern dort. Als sein | |
Freund Farid, auch ein Afghane, dort eintraf, begrüßte er ihn mit den | |
Worten „Willkommen in der Hölle“. Die Betreuer warnten sie, alleine | |
rauszugehen. Draußen war ohnehin nie jemand. Ahmadi fing an zu laufen, | |
joggen, frische Luft, Freiheit atmen, die Straße nach Ostritz runter, „drei | |
Minuten: Bäume, zehn Minuten: Bäume, vierzig Minuten: Bäume“. Seine | |
Allein-Zeit-Straße nannte er die Strecke. | |
Wie lange war er auf der Flucht? Ein paar Monate, sagt er. „Aber ich war | |
vorher schon Flüchtling, in Afghanistan.“ Ahmadi ist Hazara, eine ethnische | |
Minderheit in Afghanistan, er spricht Farsi; mit 13 Jahren schickte ihn | |
seine Mutter nach Kabul, sein Vater und sein Bruder waren von Taliban | |
getötet worden. Er schlug sich allein in Kabul durch, aber irgendwann war | |
auch das nicht mehr sicher. Er spricht nicht gern darüber. „Afghanistan, | |
das habe ich alles gelöscht“, sagt er. „Neues Ali geboren.“ Der neue Ali | |
hat in Zittau den Hauptschulabschluss nachgeholt, Jugendtheater gespielt, | |
eine kleine Wohnung gefunden. Über dem Sofa hängt ein Plakat von „Fatima“, | |
dem Stück, das Ali fürs Theater begeistert hat. | |
Seine ersten Sätze kann er heute noch auswendig: „Ich wette, wieder | |
irgendein Araber, der zu spät dran war. Ich setze meine ganzen Ersparnisse | |
darauf. Wer wettet dagegen?“ Ahmadi spielte den Bruder von Fatima, die nach | |
den Ferien plötzlich Kopftuch trägt. Damals konnte er noch gar nicht | |
richtig Deutsch, aber er lernte die Textstellen auswendig. Sein Deutsch ist | |
heute noch nicht perfekt, aber wie bei den Einheimischen hat sich bereits | |
ein „Noh“ statt Ja eingeschlichen. „Und nee heißt Nein“, sagt er und l… | |
Lächeln und Danke sagen, das gefällt den Deutschen. Das hat er Georg Genoux | |
erzählt, der bei ihrer zweiten Verabredung ein Aufnahmegerät mitbringt und | |
daraus einen Text extrahiert. Nie ohne ihn absegnen zu lassen. So sammelt | |
er Material für ein mögliches Stück. | |
Lange ist nicht klar, was für ein Stück das werden könnte. Mit wem | |
überhaupt? Ali Ahmadi jedenfalls ist bereit. | |
## Noch ein Monat bis zur Premiere | |
Hier sind wir alle noch Brüder und Schwestern, hier sind die Nullen ganz | |
unter sich. Hier ist es heute nicht besser als gestern, und ein Morgen gibt | |
es hier nicht. (Gundermann) | |
Georg Genoux ist mittelgroß, stattlich, durch Zittau wandert er wie ein | |
russischer Bär, gemächlich, unaufgeregt, aufmerksam. Seine am Hinterkopf | |
kurz geschorenen blonden Haare fallen ihm in die Stirn, meist ist er in | |
Begleitung seiner russischen Lebensgefährtin Anastasia Tarkhanova, die ihm | |
mit Videos und beim Bühnenbild hilft. Anfang September bezieht das Paar | |
eine Gastwohnung in Zittau. Genoux trifft Leute, er trifft Leute wieder, | |
er trifft eine Entscheidung. So wie er sich das anfangs vorgestellt hat, | |
unterschiedliche Charaktere unterschiedlicher Herkunft unterschiedlicher | |
Gesinnung miteinander übereinander reden zu lassen: Funktioniert nicht. | |
Was hat in der Ukraine funktioniert, was in Sachsen nicht geht? Immerhin | |
hat Genoux dort vom Krieg versehrte Soldaten und Kinder zum Sprechen | |
bekommen. „Es war auf bestimmte Weise fassbarer“, sagt Genoux. Die | |
Personenkonstellation war klar: Ukrainische und russische Jugendliche, | |
gemeinsam an einer Schule. „Aber dadurch war es nicht einfacher. Wie ein | |
Chirurg konntest du mit einem winzigen Schnitt alles zerstören.“ Ein | |
falsches Wort hätte genügt. | |
Was macht es dann in Sachsen so schwierig? Scheitert Genoux? Er sagt allen | |
ruhig: „Ich mache das nicht zum ersten Mal.“ Er ist doch noch am Anfang, er | |
braucht Zeit. | |
Genoux will kein „Tourismusprojekt“ machen. Mal kurz reinschauen, sich | |
gruseln, wieder abreisen. „Du kannst hier nur etwas erreichen, wenn du | |
langfristig arbeitest.“ Die afrikanischen Jugendlichen sind verschlossen, | |
die Leute im Ort misstrauisch. Wenn die Leute nicht zu ihm auf die Bühne | |
kommen, dann dreht er die Situation halt um. Er wird den Zittauern | |
erzählen, wie es ihm hier geht. Was seine Begegnungen mit ihm machen. „Das | |
ist ehrlicher.“ Das Thema AfD und Chemnitz will er draußen lassen. Seine | |
Bibel des Dokumentartheaters besagt: „Du darfst nicht aus dem | |
Tagespolitischen Kapital schlagen.“ | |
Er wird den Zittauern von Hagenwerder erzählen. | |
„Warum hast du dich in Hagenwerder verliebt?“ – „Weil hier die Zeit ste… | |
geblieben ist.“ – „Wann ist sie stehen geblieben?“ – „1997. Als das | |
Kraftwerk und die Schule schlossen.“ | |
Man könnte sagen: Hagenwerder hat ihn gewurmt. Und vielleicht war | |
Hagenwerder auch fassbarer als Zittau. Der kleine Ort liegt eine halbe | |
Stunde mit dem Zug entfernt. Hier leben Polen und Deutsche einvernehmlich | |
nebeneinander her, Geflüchtete gibt es hier nicht Oberlausitz, Sachsen en | |
miniature. | |
## Hagenwerder | |
Hier kriege ich immer einen halbvollen Teller, an einem runden Tisch. | |
(Gundermann) | |
Die einzige Kneipe von Hagenwerder heißt schlicht „Treff“. Oder Kiosk, | |
Imbiss. Beim ersten Mal traute sich Genoux nicht rein. Zwei etwas finster | |
blickende Typen vor der Tür, in der Straße parkte ein Auto mit der | |
Aufschrift „Lächle du kannst nicht alle töten“. Beim zweiten Mal ist er m… | |
zwei Freundinnen da. Wo kann man hier Zigaretten kaufen? An der Tanke, um | |
die Ecke in Polen. Ein Typ am Tresen, Vorname Udo, sagt: Kein Problem, ich | |
besorg euch welche. Er läuft los und kommt nach zehn Minuten wieder, zwei | |
Päckchen in der Hand. Das Eis ist gebrochen. Der Hackbraten der Wirtin | |
mundet. Man trinkt Bubenschulze, ein dunkles, malziges Bier, und grünen | |
Pfeffi oder selbstgebrannten Schokolikör. | |
Genoux geht jetzt fast täglich hierher, macht Bekanntschaften, schließt | |
erste Freundschaften. Die Sozialarbeiterin, die Rentnerinnen. Der | |
Dissident, der Schäfer, der Dorfpolizist. Der Lackierer, der ehemalige | |
Soldat und die Leute vom Fußballverein ISG Hagenwerder. Und Kalle, der | |
AfD-Wähler, der ihm anderntags stolz die erhaltene Synagoge von Görlitz | |
zeigt. Nicht gleich ausgrenzen, sagt Genoux zu sich selbst. | |
Alle hier haben eine Geschichte mit dem Ort, sie sind ja geblieben. Von | |
3.000 auf knapp 900 Einwohner geschrumpft: Noch da sind Kita, Laden, | |
Kneipe. Die Sparkasse ist geschlossen, kein Bankautomat. Und kein Arzt, | |
keine Schule, kein Krankenhaus, kein Kraftwerk und keine Braunkohle mehr: | |
Hagenwerder ist heute ein ehemaliges Industriedorf, das nach Görlitz | |
eingemeindet worden ist. Bei der Oderflut 2010 sind sie abgesoffen. Die | |
Hilfsgelder landeten in Görlitz, sagen sie. „Wir waren schon immer ein | |
bisschen vernachlässigt, Randlage eben.“ Abends spaziert Genoux über die | |
Dorfstraße und wundert sich: Nur ein Fenster beleuchtet. Was tun die Leute | |
hier? | |
Die Rentnerinnen spielen Rommé, immer donnerstags in der Kneipe. Frau Z. | |
ist misstrauisch, ihren Namen will sie nicht preisgeben. „Wir hatten hier | |
alles, als es das Kraftwerk noch gab“, erzählen die Damen. – „Dreckiger | |
war’s schon.“ – „Genau, deswegen sind wir nie krank geworden.“ – �… | |
sich politisch nicht befasst hat, dann hatte man ein gutes Leben.“ – | |
„Hagenwerder ist nicht schlecht. Wir haben doch uns.“ Die Dorfgemeinschaft | |
ist zusammengerückt. Wir sind Kumpel wie Sau, sagen die Männer dort. Fremde | |
passen da nicht rein. Besucher werden geduldet. Und manchmal holt man ihnen | |
sogar Zigaretten. | |
„Was werden Sie denken, wenn Sie zurückfahren?“, fragt Frau Z. die | |
Journalistin. | |
Die Damen schlecken ihren Schokolikör aus. Elisabeth Wolnik, 88 Jahre alt, | |
1966 aus dem schlesischen Teil Polens zugezogen, sie unterhält die Runde | |
mit ihren Sprüchen: „Gott erschuf die Menschen und ließ sie wachsen. Dann | |
kam der Teufel und schuf die Sachsen.“ | |
Längst ist Genoux in Hagenwerder kein Fremder mehr, eher ein Kuriosum. Die | |
Leute können ihn nicht verorten: Mit seiner Freundin spricht er Russisch, | |
er isst Hackbraten und trinkt Pfeffi wie ein Einheimischer. Genoux sagt: | |
„Ich habe in Sachsen keine Rassisten getroffen. Ich habe nur Menschen | |
getroffen, die Angst haben vor Fremden.“ Vor Fremden oder Fremdem? – | |
„Beides.“ Viele hätten noch nie mit einem Geflüchteten geredet, glaubt er. | |
„Man bekommt Hilfsbereitschaft nicht hin, indem man mit dem Finger auf | |
Leute zeigt.“ Und hilfsbereit sind die Leute, darauf schwört er. | |
Aber dass die Rentnerinnen beim Theaterabend mitwirken – nicht daran zu | |
denken. Aus ihrem vertrauten Umfeld sind sie nicht wegzulocken. Ein Abend | |
über Hagenwerder, ohne die Hagenwerder? „Ich werde sie einladen“, sagt | |
Genoux, „ich hoffe, sie werden kommen.“ Sie bekommen einen Ehrenplatz, am | |
Rand der Bühne. Aber auf der Bühne. | |
## Drei Tage vor der Premiere | |
Ali Ahmadi macht seit September eine Ausbildung zum Metalltechniker, vom | |
Jobcenter finanziert. Die Krankenpflegeschule, das hat nicht geklappt, sein | |
Zeugnis kam zu spät. Auf seinen Hauptschulabschluss ist er trotzdem stolz. | |
„Mein erstes Zeugnis überhaupt“, sagt er. „Das bedeutet mir viel mehr als | |
anderen.“ Ahmadi träumt weiter vom Theater. Etwas mit Menschen zu tun | |
haben, reden können. Keine Allein-Zeit mehr. | |
Ahmadi sitzt auf dem ausladenden Sofa, die Musterung ein Geschenk der 80er | |
Jahre und seiner Vermieterin. Er fühlt sich wohl im Haus, hält sich an die | |
Hausordnung. Keine Störung der Nachtruhe nach 22 Uhr. „Ich weiß, in | |
Deutschland springt niemand über das Gesetz.“ | |
Zweieinhalb Seiten lang ist das Skript, das ihm Georg Genoux in die Hand | |
gedrückt hat. Ein Konzentrat der Dinge, die Ali erzählt hat und die er | |
preiszugeben bereit ist. Am Wochenende war er mit dem Regisseur und seiner | |
Freundin zum ersten Mal in Hagenwerder. Sie sitzen im Treff, Ahmadi erzählt | |
von seiner Ausbildung, und die an diesem Samstagabend kaum gefüllte Kneipe | |
nimmt von ihm anscheinend keine Notiz. Der erwartete Showdown fällt aus. | |
Später dreht Ahmadi mit dem Regisseur noch eine Runde durchs Dorf. | |
„Guten Abend. Mein Name ist Ali. Ich war in Ihrer Stadt.“ So fängt Ahmadis | |
Beschreibung von Hagenwerder an, das ihm an diesem Abend dunkel und etwas | |
unheimlich erschien. Er soll den Text am Premierenabend vortragen. | |
Hagenwerder erinnert Ahmadi an seine Zeit im Jugendwohnheim für | |
unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Hirschfelde. Keine Leute dort, | |
schon gar keine jungen. Er bedauert die Menschen in Hagenwerder. „Sie haben | |
keinen Ort, wo sie hingehen können.“ | |
Ali Ahmadi ist nervös, diese Art von Theater kennt er nicht. „Ich hatte | |
immer eine feste Rolle“, sagt Ahmadi. „Diesmal muss ich lesen oder etwas | |
erzählen.“ In eine andere Person zu schlüpfen sei viel einfacher, als etwas | |
von sich zu erzählen. Über sein Leben in Hirschfelde, seine Ankunft in | |
Deutschland. Neben Genoux und dem Musiker ist er der Einzige, der sich | |
mitzuspielen traut. Der Regisseur will nicht, dass er seinen Text auswendig | |
lernt oder vorliest. Da gehe viel verloren an Intensität, Spontaneität. Er | |
wird ihm Stichworte geben, Fragen stellen. | |
Hast du Angst auf die Bühne zu gehen? – „Herzklopfen: auf jeden Fall. Aber | |
das Adrenalin liebe ich.“ Ahmadi wird vor Aufregung einige Textstellen | |
vergessen – aber er wird es hinkriegen. | |
## Noch zwei Stunden bis zur Premiere | |
Seit Tagen bastelt Anastasia Tarkhanova in ihrer Wohnung im Pfarrhaus am | |
Bühnenbild. Hagenwerder als Miniatur, Sachsen als Miniatur. Im Döner-Imbiss | |
haben sie Pappkartons besorgt, in Görlitz Bastelutensilien. Aus den | |
Kartons hat Tarkhanova Häuser geschnitten, Plattenbauästhetik der 50er | |
Jahre, der Kneipe hat sie bunte Fenstertapeten verpasst, bis zwei Stunden | |
vor der Premiere malt sie noch schwarze Tupfer auf die Fenster der | |
Wohnhäuser. Die hellen Papphäuschen werden in der Mitte der Bühne stehen, | |
die man wie einen Tisch umrunden kann. | |
Das Theater Zittau überlässt Genoux die Hinterbühne und stellt die | |
Logistik: Licht, Ton, Bühnentechnik. Ein Honorar wollte er nicht, weil | |
später der Film entstehen soll. Nächstes Jahr will er mit seinem | |
Sachsen-Projekt Geld verdienen, neue Förderanträge stellen. Beim | |
Sozialministerium hatte er Gelder beantragt, ohne Erfolg. Am Premierenabend | |
wird die Zittauer Intendantin kommen, ebenso Vertreter der Theater in | |
Bautzen und Dresden. Der Chefdramaturg soll die Publikumsdiskussion | |
moderieren. Die sächsische Zeitung hat einen großen Vorbericht gebracht. | |
„Nervös?“ – „Nö.“ | |
Georg Genoux wird den Erzähler machen, frei sprechen, zwei Tage hat er sich | |
zurückgezogen und vorbereitet. Einzig die Frage, ob Leute aus Hagenwerder | |
kommen, treibt ihn um. | |
Sie kommen. | |
Vorsorglich hat Genoux am Rand der Bühne vier Stühle aufstellen lassen. Es | |
sind drei Herren aus Hagenwerder, die gebeten werden, dort Platz zu nehmen. | |
Udo, Sebastian, Mike, so stellt Genoux sie dem Publikum vor. Zur Begrüßung | |
drückt er ihnen ein Bier in die Hand. Wie schafft man es, dass sich die | |
Menschen aus Hagenwerder nicht vorgeführt fühlen? Dass sich Ali Ahmadi | |
nicht vorgeführt fühlt? Ist das Gerechtigkeit für Sachsen? | |
Man muss es gut machen, sagt Genoux. | |
Er macht es gut. | |
„Haben Sie Hagenwerder wiedererkannt?“, fragt der Moderator beim | |
Publikumsgespräch. Etwa 50 Zuschauer sitzen im Saal. „Zum großen Teil“, | |
antwortet Mike. „Was mich sehr berührt hat, ist das mit unserem | |
Zusammenhalt.“ | |
Mit Handschlag bedanken sich die drei Männer bei Genoux, Ahmadi und dem | |
Musiker, der mit der Trompete das Schlesien-Lied gespielt hat. Denn | |
Hagenwerder war schlesisch und damit preußisch, während Zittau zu Sachsen | |
gehörte. Aber beides ist die Oberlausitz, wo das Glück stets mager ist und | |
der Teller halbvoll. | |
Das Schlesien-Lied ist für Kalle, den AfDler, den Genoux im Hagenwerder | |
Treff kennengelernt hat und mit dem er gemeinsam in Görlitz die Synagoge | |
besichtigt hat. Heute ist Kalle beim Schlesien-Tag in Breslau, er hat sich | |
entschuldigt. | |
Genoux widmet der Begegnung mit Kalle eine ganze Szene. Zwei Schnapsgläser | |
stehen in einem der Papphäuschen, das eine ist grün und das andere braun | |
gefüllt. Grün steht für Pfefferminzlikör, braun für Kräuterlikör. Ein | |
Wetttrinken begann, erzählt Genoux da auf der Bühne, zwischen ihm, der sich | |
stets als Grüner verstanden hat und Pfeffi trank, und Kalle, dem | |
AfD-Wähler, der beim Kräuterlikör blieb. | |
Wer lange in Russland gelebt hat, kann beim Trinken mithalten. Derbe, | |
rassistische Sprüche seien gefallen. „Merkel, die Sau.“ – „Noch von | |
Honecker geschult und hier eingeschleust, um alles zu zerschlagen.“ – | |
„Dieses Gesocks, was 2015 zu uns rübergekommen ist, die halten sich nicht | |
an unsere Ordnung. Aber der Deutsche braucht Ordnung. So wie diese | |
Tischdecke hier.“ Abwechselnd habe Kalle auf den Tisch gehauen und die | |
Tischdecke gerade gezogen. „Ich weiß nicht“, zitiert Genoux am Ende Kalle, | |
„wann ich zum letzten Mal einen Grünen umarmt habe.“ | |
## Der Vorhang zu, die Fragen offen | |
„Wir müssen uns dieser Denkweise, dieser Gefühlsweise stellen“, sagt Geno… | |
auf dem Zittauer Marktplatz am Tag nach der Premiere. Das Schnitzel ist | |
verspeist, der Kaffee trotz Sonne kalt geworden. „Verstehen heißt ja nicht | |
gutheißen. Man muss zunächst mal akzeptieren, dass nicht alle hier | |
Demokraten sind.“ Muss man das wirklich? Wird man damit Sachsen gerecht? | |
„Das Wort Gerechtigkeit gilt natürlich auch für Ali Ahmadi“, antwortet | |
Genoux. „Man widerspricht sich bei diesem Thema ständig“, sagt er und | |
lacht. „In 30 Jahren wird das hier ganz anders aussehen. Ali ist näher dran | |
an Hagenwerder, als die denken.“ | |
Auf dem großen Platz von Zittau nahe der Kirche St. Johannis haben | |
Namenlose ein Bild des in Kandel ermordeten Mädchens aufgestellt. Der Text | |
dazu lautet: „Die 15-jährige Mia wurde am 27.12.2017 in Kandel von ihrem | |
afghanischen Ex-Freund, der sie zuvor mehrmals bedrängte und ihr | |
nachstellte, erstochen.“ Was hat Kandel mit Zittau zu tun? | |
Genoux wird weiter durch Sachsen reisen. In Zittau fortführen, was er | |
begonnen hat. Im Februar wird der Regisseur mit fünf afrikanischen | |
Jugendlichen ein Stück über ihr Leben in Deutschland erarbeiten, dann das | |
Seniorentheater dazuholen. Zwei der Jungs waren bei der Premiere am 3. | |
Oktober dabei, fühlen sich durch Ahmadis Auftritt ermutigt. | |
Wie Ali Ahmadi die Aufführung gefallen hat? „Es war alles neu für mich“, | |
sagt er. „Ich habe so etwas noch nie gesehen, noch nie gemacht. Aber dass | |
man eine Stadt als Beispiel für alle nimmt, finde ich gut.“ | |
Genoux will das Stück gerne noch einmal in Hagenwerder im Gemeindesaal | |
aufführen, mit Ali Ahmadi. Dann kommen vielleicht mehr als drei aus dem | |
Ort. | |
27 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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