| # taz.de -- Theater in Sachsen: So ein Drama | |
| > Der Regisseur Georg Genoux glaubt, dass Theater heilen kann. Jetzt | |
| > versucht er es in Sachsen, in der Lausitz. Wird er scheitern? | |
| Bild: Ali Ahmadi erzählt auf der Bühne aus seinem Leben in Sachsen. Georg Gen… | |
| Zittau/Hagenwerder taz | Der Mann, der Sachsen auf die Bühne bringen will, | |
| sitzt am Tag nach der Premiere auf dem Zittauer Marktplatz und beißt zu. | |
| Georg Genoux. 39, rotblonder Schopf und graublonder Bart, ist ein Typ, dem | |
| man ansieht, dass er zum späten Frühstück gerne Schnitzel mit Spiegelei auf | |
| Brot isst. Große Sonnenschirme bieten im Café am Zittauer Markt Schatten | |
| gegen die knallende Sonne, die Einheimischen halten mit und verschlingen | |
| Eisbecher in XL-Größe mit viel roter oder schokoladiger Sauce. | |
| Genoux hat in Moskau Regie gelernt und macht Dokumentartheater. Er hat | |
| lange in Russland gearbeitet, an einem Off-Theater, das schnell in die | |
| Schusslinie geriet. Er zog in die Ukraine um, wo er mit traumatisierten | |
| Soldaten und Schulkindern ihre Kriegserlebnisse verarbeitete. Die taz | |
| berichtete darüber (taz vom 16. 05. 2015). Jetzt kommt er mit seinem | |
| Theaterprojekt nach Deutschland, nach Sachsen. Ausgerechnet. | |
| Seit fünf Monaten arbeitet er in Zittau, die taz hat ihn dabei begleitet. | |
| „Das Dokumentarische inszenieren: einen größeren Gegensatz gibt es kaum“, | |
| sagt Genoux auf dem Marktplatz. Er versucht etwas aus der Wirklichkeit auf | |
| die Bühne zu holen, etwas sichtbar zu machen, das man im Alltag nicht | |
| sieht. Der Regisseur legt die Sonnenbrille mit sehr kleinen Gläsern vor | |
| sich auf den Tisch. Es geht ihm um Verletzungen, beschädigte Biografien und | |
| unbeschädigte Träume. „Die Wirklichkeit noch wirklicher machen“, nennt er | |
| es. „Ich weiß, dass das angreifbar ist.“ | |
| Genoux ist überzeugt, „dass Theater heilen kann“. Man kann seinen Ansatz | |
| naiv finden. Aber Genoux’ Theater ist nicht didaktisch, kein Lehrstück, das | |
| die Zuschauer aufklären will und in dem die Leute hinter der Bühne immer | |
| schon Bescheid wissen. Im normalen Theater langweilt sich Genoux, „ich | |
| fühle mich da oft eher manipuliert“. | |
| Genoux erhebt sich. Nach der Premiere geht es für ihn weiter. Gleich ist er | |
| mit dem Seniorentheater der Stadt verabredet, später mit den Rentnerinnen | |
| von Hagenwerder. Was er in Russland und dann in der Ukraine versucht hat, | |
| das will er jetzt in Sachsen versuchen. Kann das funktionieren? | |
| ## Noch fünf Monate bis zur Premiere | |
| Ende April 2018 reist Genoux das erste Mal nach Zittau, bleibt einen Monat. | |
| Er läuft wie doof durch die Gegend, quatscht Menschen an, niemand will sich | |
| mit ihm einlassen. Jedem stellt er sich mit den Worten vor: „Ich heiße | |
| Georg, ich mache für das Theater in Zittau ein Stück über Sachsen. Ich | |
| fahre viel rum, spreche mit Menschen. Hätten Sie auch mal Zeit, mir etwas | |
| über den Ort zu erzählen?“ | |
| Ein Gefühl, als läge eine Glocke über der Stadt, sagt er. Freundliche | |
| Reserviertheit, Misstrauen. Denken nicht eh alle, Sachsen wäre das Land, wo | |
| Rechtsextreme Brandanschläge auf Flüchtlingsheime verüben, wo die Nazis | |
| aufmarschieren, wo Fremde, vor allem Menschen anderer Hautfarbe, aus | |
| anderen Kulturkreisen nicht willkommen sind? | |
| „Gut so, dann kommen wenigstens nicht so viele zu uns.“ Das hört er hier | |
| öfter. Eine Mischung aus Trotz, Beleidigtsein, Bestätigung. Er würde gerne | |
| dahinterkommen, warum sie so denken. | |
| Georg Genoux’ „Multikulti-Ottensen“, wie er den Stadtteil in Hamburg nenn… | |
| in dem er aufwuchs, ist mental wie geografisch weit weg von der | |
| Oberlausitz. Viel weiter weg als Polen oder Tschechien, die sich in | |
| Spuckweite befinden: einmal über die Neiße, bitte. Und mit denen man die | |
| sozialistische Vergangenheit teilt. Und den Kohlestaub, den das Kraftwerk | |
| Turów auf der polnischen Seite nach wie vor in die Luft bläst. Gemein. | |
| Mehr als zwanzig Jahre hat Genoux in Moskau gearbeitet, in Kiew und Sofia | |
| Theater geleitet. Vor zwei Jahren gastierte er mit einer Produktion beim | |
| „Dreiländer-Spiel“. Die Zittauer Intendantin Dorotty Szalma lud ihn ein, | |
| wiederzukommen, Genoux sagte zu. Das Projekt „Das Land, das ich nicht | |
| kenne“ (www.fremdland.org) nahm erste Gestalt an. Zwei Jahre lang will | |
| Genoux durch Sachsen reisen, Kontakt mit den Menschen, ihren Orten, ihrer | |
| Geschichte aufnehmen. Verweilen, Tagebuch führen, kleine Theaterstücke | |
| entwickeln, Jugendliche mit der Videokamera porträtieren, am Ende soll ein | |
| Dokumentarfilm entstehen. | |
| In Zittau fühlt er sich zu Beginn mehr wie ein Stolperstein denn als | |
| Brückenbauer, sagt er. | |
| ## Vorhang auf | |
| Hier bin ich geboren, wo die Kühe mager sind wie das Glück. (Gundermann) | |
| Im Kino läuft er noch, der Film von Andreas Dresen über Gerhard Rüdiger | |
| Gundermann, den Sänger und Baggerführer, Kommunisten und Stasi-Spitzel. Der | |
| nachts in seinem Bagger hoch oben über den Kohlegruben im Wind schaukelte | |
| und melancholische Alltagsbeobachtungen in sein Diktafon sprach. Kühe und | |
| Bagger sind verschwunden, die Reviere weitestgehend renaturiert, die | |
| Grenzen offen; nur das Glück ist mager geblieben in der Oberlausitz. Die | |
| nach der Wende prophezeiten fetten Jahre fielen aus, kamen anderen zugute. | |
| Zumindest sehen das viele Menschen hier so, sie artikulieren ihren Unmut, | |
| sie wählen die etablierten Parteien ab, sie wundern und ärgern sich, dass | |
| Sachsen so einen schlechten Ruf hat. | |
| Hoyerswerda und Umgebung, wo Gundermann bis zu seinem frühen Tod 1998 | |
| lebte, gehören zur Oberlausitz und damit zu Sachsen. Ebenso Zittau, das | |
| noch ein bisschen entlegener, noch ein bisschen versteckter im | |
| südöstlichsten Zipfel des Landes liegt und mit Tschechien und Polen ein | |
| Dreiländereck bildet. Als Sachsen noch planwirtschaftlich regiert war, | |
| befand sich hier der Ruhrpott der DDR, die Wäsche auf den Leinen und die | |
| Schneemänner waren schwarz. Heute glitzern die in den Kohlegruben | |
| entstandenen Seen einsam im Spätsommerlicht und die Ausflugslokale tragen | |
| verheißungsvolle Namen wie „Blaue Lagune“. | |
| Heimat ist etwas, das sich verändert, wie wir uns verändern. Die Heimat | |
| kann einem plötzlich fremd werden. So ergeht es Genoux, als er nach vielen | |
| Jahren nach Deutschland wiederkommt. Und so ergeht es den Lausitzern. | |
| Genoux stolpert also durch die Gegend, im Juli kommt er wieder. Wer | |
| stolpert, stößt Steine an, die wild durch die Gegend kullern. Manche landen | |
| im Aus, manche stoßen andere an und setzen etwas in Bewegung. Genoux lernt | |
| Menschen kennen, die ihm ihre Geschichte erzählen, ihn mit anderen bekannt | |
| machen. Die Glocke über der Stadt lichtet sich. Kreise, die einander nicht | |
| berühren, öffnen sich – oft nur für einen kurzen Moment. | |
| Genoux besucht eine Wohngruppe junger Geflüchteter aus Afrika, trifft sie | |
| auf ihrem Ausflug nach Hamburg. Könnte er die jungen Männer mit dem | |
| Seniorentheater in Tandems zusammenspannen? Er trifft die Skater und | |
| BMX-Radler an der Halfpipe vor dem örtlichen Kaufland, die „eine kleine | |
| rechte Meinung“ haben. Könnte er sie mit Kunststücken in seine Inszenierung | |
| einbinden? Er lernt einen Kickbox-Trainer kennen, der bei Veranstaltungen | |
| Musik macht und Trompete spielt. Soll er ihn als Bühnenmusiker engagieren? | |
| Er trifft einen Ungarndeutschen und seine aus Schlesien stammende Frau, die | |
| ihm etwas über ihre Zeit in Zittau nach 1945 erzählen. Zwei Drittel der | |
| Bevölkerung waren Vertriebene, Geflüchtete. Könnte er ihre Erfahrungen im | |
| Prolog unterbringen? Er lernt die Schülerin Emma im Zug kennen, die eine | |
| freie Schule besucht, und macht sie mit Alfa bekannt, einem junge Mann aus | |
| Sierra Leone. Beide sind gleich alt, offen, neugierig. Sind sie geeignete | |
| Protagonisten für das Stück, für die Videoporträts? | |
| Genoux sucht und verwirft. Er wird hingehalten und versetzt. Er erntet | |
| irritierte Blicke. Theater? Dokumentartheater? Zwischen Erzählen und | |
| Mitmachen, Auf-der-Bühne-Stehen, ist ein großer Unterschied. Am Abend des | |
| 3. Oktober, Tag der deutschen Einheit, soll schon Premiere sein. Der Titel | |
| steht fest: „Gerechtigkeit für Sachsen“. | |
| Genoux fragt: „Versteht man die Anspielung auf den Handke-Text? | |
| „Gerechtigkeit für Serbien, das war ein sehr wichtiger Text für mich.“ | |
| Versteht man nicht. Ist ziemlich dick aufgetragen. „Alle assoziieren | |
| Dunkeldeutschland mit Sachsen. Ich will ein anderes Bild zeigen. Es ist | |
| wichtig, Menschen nicht in die rechte Ecke zu stellen. Du kriegst sie sonst | |
| nicht wieder raus.“ Und wenn sie das gar nicht wollen? Geschieht vielleicht | |
| trotzdem etwas mit ihnen. | |
| ## Noch drei Monate bis zur Premiere | |
| Hier gab es billigen Fusel auf Marke, und genau so sehen wir heute auch | |
| aus. Hier lässt man Fremde nicht gerne parken, es sei denn, sie geben einen | |
| aus. (Gundermann) | |
| Ali Ahmadi möchte zum Theater. „Ich kann auch Hauptdarsteller“, sagt er im | |
| Juli. Treffpunkt ist die Pasta Fantastica, wo es selbstgemachte Limonade | |
| und Cappuccino gibt. Ahmadi wirkt selbstbewusst, er ist vom Theater | |
| angefixt. Derzeit macht er ein Praktikum im Krankenhaus, abends ist er | |
| Statist in „Die 7. Geisterstunde – Die Rückkehr des tollen Junkers“ auf … | |
| Waldbühne, die zum Zittauer Theater gehört. „Da kommen viele Leute“, sagt | |
| Ahmadi. Er ist 19, anerkannter Flüchtling aus Afghanistan. Schmal, nicht | |
| sehr groß, mit einer kecken dunklen Locke auf der Stirn. | |
| Ahmadi kam 2016 als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland und | |
| verbrachte die ersten anderthalb Jahre in einem Heim in Hirschfelde, einem | |
| Dorf nahe Zittau. Er gehörte zu den ersten vier Bewohnern dort. Als sein | |
| Freund Farid, auch ein Afghane, dort eintraf, begrüßte er ihn mit den | |
| Worten „Willkommen in der Hölle“. Die Betreuer warnten sie, alleine | |
| rauszugehen. Draußen war ohnehin nie jemand. Ahmadi fing an zu laufen, | |
| joggen, frische Luft, Freiheit atmen, die Straße nach Ostritz runter, „drei | |
| Minuten: Bäume, zehn Minuten: Bäume, vierzig Minuten: Bäume“. Seine | |
| Allein-Zeit-Straße nannte er die Strecke. | |
| Wie lange war er auf der Flucht? Ein paar Monate, sagt er. „Aber ich war | |
| vorher schon Flüchtling, in Afghanistan.“ Ahmadi ist Hazara, eine ethnische | |
| Minderheit in Afghanistan, er spricht Farsi; mit 13 Jahren schickte ihn | |
| seine Mutter nach Kabul, sein Vater und sein Bruder waren von Taliban | |
| getötet worden. Er schlug sich allein in Kabul durch, aber irgendwann war | |
| auch das nicht mehr sicher. Er spricht nicht gern darüber. „Afghanistan, | |
| das habe ich alles gelöscht“, sagt er. „Neues Ali geboren.“ Der neue Ali | |
| hat in Zittau den Hauptschulabschluss nachgeholt, Jugendtheater gespielt, | |
| eine kleine Wohnung gefunden. Über dem Sofa hängt ein Plakat von „Fatima“, | |
| dem Stück, das Ali fürs Theater begeistert hat. | |
| Seine ersten Sätze kann er heute noch auswendig: „Ich wette, wieder | |
| irgendein Araber, der zu spät dran war. Ich setze meine ganzen Ersparnisse | |
| darauf. Wer wettet dagegen?“ Ahmadi spielte den Bruder von Fatima, die nach | |
| den Ferien plötzlich Kopftuch trägt. Damals konnte er noch gar nicht | |
| richtig Deutsch, aber er lernte die Textstellen auswendig. Sein Deutsch ist | |
| heute noch nicht perfekt, aber wie bei den Einheimischen hat sich bereits | |
| ein „Noh“ statt Ja eingeschlichen. „Und nee heißt Nein“, sagt er und l… | |
| Lächeln und Danke sagen, das gefällt den Deutschen. Das hat er Georg Genoux | |
| erzählt, der bei ihrer zweiten Verabredung ein Aufnahmegerät mitbringt und | |
| daraus einen Text extrahiert. Nie ohne ihn absegnen zu lassen. So sammelt | |
| er Material für ein mögliches Stück. | |
| Lange ist nicht klar, was für ein Stück das werden könnte. Mit wem | |
| überhaupt? Ali Ahmadi jedenfalls ist bereit. | |
| ## Noch ein Monat bis zur Premiere | |
| Hier sind wir alle noch Brüder und Schwestern, hier sind die Nullen ganz | |
| unter sich. Hier ist es heute nicht besser als gestern, und ein Morgen gibt | |
| es hier nicht. (Gundermann) | |
| Georg Genoux ist mittelgroß, stattlich, durch Zittau wandert er wie ein | |
| russischer Bär, gemächlich, unaufgeregt, aufmerksam. Seine am Hinterkopf | |
| kurz geschorenen blonden Haare fallen ihm in die Stirn, meist ist er in | |
| Begleitung seiner russischen Lebensgefährtin Anastasia Tarkhanova, die ihm | |
| mit Videos und beim Bühnenbild hilft. Anfang September bezieht das Paar | |
| eine Gastwohnung in Zittau. Genoux trifft Leute, er trifft Leute wieder, | |
| er trifft eine Entscheidung. So wie er sich das anfangs vorgestellt hat, | |
| unterschiedliche Charaktere unterschiedlicher Herkunft unterschiedlicher | |
| Gesinnung miteinander übereinander reden zu lassen: Funktioniert nicht. | |
| Was hat in der Ukraine funktioniert, was in Sachsen nicht geht? Immerhin | |
| hat Genoux dort vom Krieg versehrte Soldaten und Kinder zum Sprechen | |
| bekommen. „Es war auf bestimmte Weise fassbarer“, sagt Genoux. Die | |
| Personenkonstellation war klar: Ukrainische und russische Jugendliche, | |
| gemeinsam an einer Schule. „Aber dadurch war es nicht einfacher. Wie ein | |
| Chirurg konntest du mit einem winzigen Schnitt alles zerstören.“ Ein | |
| falsches Wort hätte genügt. | |
| Was macht es dann in Sachsen so schwierig? Scheitert Genoux? Er sagt allen | |
| ruhig: „Ich mache das nicht zum ersten Mal.“ Er ist doch noch am Anfang, er | |
| braucht Zeit. | |
| Genoux will kein „Tourismusprojekt“ machen. Mal kurz reinschauen, sich | |
| gruseln, wieder abreisen. „Du kannst hier nur etwas erreichen, wenn du | |
| langfristig arbeitest.“ Die afrikanischen Jugendlichen sind verschlossen, | |
| die Leute im Ort misstrauisch. Wenn die Leute nicht zu ihm auf die Bühne | |
| kommen, dann dreht er die Situation halt um. Er wird den Zittauern | |
| erzählen, wie es ihm hier geht. Was seine Begegnungen mit ihm machen. „Das | |
| ist ehrlicher.“ Das Thema AfD und Chemnitz will er draußen lassen. Seine | |
| Bibel des Dokumentartheaters besagt: „Du darfst nicht aus dem | |
| Tagespolitischen Kapital schlagen.“ | |
| Er wird den Zittauern von Hagenwerder erzählen. | |
| „Warum hast du dich in Hagenwerder verliebt?“ – „Weil hier die Zeit ste… | |
| geblieben ist.“ – „Wann ist sie stehen geblieben?“ – „1997. Als das | |
| Kraftwerk und die Schule schlossen.“ | |
| Man könnte sagen: Hagenwerder hat ihn gewurmt. Und vielleicht war | |
| Hagenwerder auch fassbarer als Zittau. Der kleine Ort liegt eine halbe | |
| Stunde mit dem Zug entfernt. Hier leben Polen und Deutsche einvernehmlich | |
| nebeneinander her, Geflüchtete gibt es hier nicht Oberlausitz, Sachsen en | |
| miniature. | |
| ## Hagenwerder | |
| Hier kriege ich immer einen halbvollen Teller, an einem runden Tisch. | |
| (Gundermann) | |
| Die einzige Kneipe von Hagenwerder heißt schlicht „Treff“. Oder Kiosk, | |
| Imbiss. Beim ersten Mal traute sich Genoux nicht rein. Zwei etwas finster | |
| blickende Typen vor der Tür, in der Straße parkte ein Auto mit der | |
| Aufschrift „Lächle du kannst nicht alle töten“. Beim zweiten Mal ist er m… | |
| zwei Freundinnen da. Wo kann man hier Zigaretten kaufen? An der Tanke, um | |
| die Ecke in Polen. Ein Typ am Tresen, Vorname Udo, sagt: Kein Problem, ich | |
| besorg euch welche. Er läuft los und kommt nach zehn Minuten wieder, zwei | |
| Päckchen in der Hand. Das Eis ist gebrochen. Der Hackbraten der Wirtin | |
| mundet. Man trinkt Bubenschulze, ein dunkles, malziges Bier, und grünen | |
| Pfeffi oder selbstgebrannten Schokolikör. | |
| Genoux geht jetzt fast täglich hierher, macht Bekanntschaften, schließt | |
| erste Freundschaften. Die Sozialarbeiterin, die Rentnerinnen. Der | |
| Dissident, der Schäfer, der Dorfpolizist. Der Lackierer, der ehemalige | |
| Soldat und die Leute vom Fußballverein ISG Hagenwerder. Und Kalle, der | |
| AfD-Wähler, der ihm anderntags stolz die erhaltene Synagoge von Görlitz | |
| zeigt. Nicht gleich ausgrenzen, sagt Genoux zu sich selbst. | |
| Alle hier haben eine Geschichte mit dem Ort, sie sind ja geblieben. Von | |
| 3.000 auf knapp 900 Einwohner geschrumpft: Noch da sind Kita, Laden, | |
| Kneipe. Die Sparkasse ist geschlossen, kein Bankautomat. Und kein Arzt, | |
| keine Schule, kein Krankenhaus, kein Kraftwerk und keine Braunkohle mehr: | |
| Hagenwerder ist heute ein ehemaliges Industriedorf, das nach Görlitz | |
| eingemeindet worden ist. Bei der Oderflut 2010 sind sie abgesoffen. Die | |
| Hilfsgelder landeten in Görlitz, sagen sie. „Wir waren schon immer ein | |
| bisschen vernachlässigt, Randlage eben.“ Abends spaziert Genoux über die | |
| Dorfstraße und wundert sich: Nur ein Fenster beleuchtet. Was tun die Leute | |
| hier? | |
| Die Rentnerinnen spielen Rommé, immer donnerstags in der Kneipe. Frau Z. | |
| ist misstrauisch, ihren Namen will sie nicht preisgeben. „Wir hatten hier | |
| alles, als es das Kraftwerk noch gab“, erzählen die Damen. – „Dreckiger | |
| war’s schon.“ – „Genau, deswegen sind wir nie krank geworden.“ – �… | |
| sich politisch nicht befasst hat, dann hatte man ein gutes Leben.“ – | |
| „Hagenwerder ist nicht schlecht. Wir haben doch uns.“ Die Dorfgemeinschaft | |
| ist zusammengerückt. Wir sind Kumpel wie Sau, sagen die Männer dort. Fremde | |
| passen da nicht rein. Besucher werden geduldet. Und manchmal holt man ihnen | |
| sogar Zigaretten. | |
| „Was werden Sie denken, wenn Sie zurückfahren?“, fragt Frau Z. die | |
| Journalistin. | |
| Die Damen schlecken ihren Schokolikör aus. Elisabeth Wolnik, 88 Jahre alt, | |
| 1966 aus dem schlesischen Teil Polens zugezogen, sie unterhält die Runde | |
| mit ihren Sprüchen: „Gott erschuf die Menschen und ließ sie wachsen. Dann | |
| kam der Teufel und schuf die Sachsen.“ | |
| Längst ist Genoux in Hagenwerder kein Fremder mehr, eher ein Kuriosum. Die | |
| Leute können ihn nicht verorten: Mit seiner Freundin spricht er Russisch, | |
| er isst Hackbraten und trinkt Pfeffi wie ein Einheimischer. Genoux sagt: | |
| „Ich habe in Sachsen keine Rassisten getroffen. Ich habe nur Menschen | |
| getroffen, die Angst haben vor Fremden.“ Vor Fremden oder Fremdem? – | |
| „Beides.“ Viele hätten noch nie mit einem Geflüchteten geredet, glaubt er. | |
| „Man bekommt Hilfsbereitschaft nicht hin, indem man mit dem Finger auf | |
| Leute zeigt.“ Und hilfsbereit sind die Leute, darauf schwört er. | |
| Aber dass die Rentnerinnen beim Theaterabend mitwirken – nicht daran zu | |
| denken. Aus ihrem vertrauten Umfeld sind sie nicht wegzulocken. Ein Abend | |
| über Hagenwerder, ohne die Hagenwerder? „Ich werde sie einladen“, sagt | |
| Genoux, „ich hoffe, sie werden kommen.“ Sie bekommen einen Ehrenplatz, am | |
| Rand der Bühne. Aber auf der Bühne. | |
| ## Drei Tage vor der Premiere | |
| Ali Ahmadi macht seit September eine Ausbildung zum Metalltechniker, vom | |
| Jobcenter finanziert. Die Krankenpflegeschule, das hat nicht geklappt, sein | |
| Zeugnis kam zu spät. Auf seinen Hauptschulabschluss ist er trotzdem stolz. | |
| „Mein erstes Zeugnis überhaupt“, sagt er. „Das bedeutet mir viel mehr als | |
| anderen.“ Ahmadi träumt weiter vom Theater. Etwas mit Menschen zu tun | |
| haben, reden können. Keine Allein-Zeit mehr. | |
| Ahmadi sitzt auf dem ausladenden Sofa, die Musterung ein Geschenk der 80er | |
| Jahre und seiner Vermieterin. Er fühlt sich wohl im Haus, hält sich an die | |
| Hausordnung. Keine Störung der Nachtruhe nach 22 Uhr. „Ich weiß, in | |
| Deutschland springt niemand über das Gesetz.“ | |
| Zweieinhalb Seiten lang ist das Skript, das ihm Georg Genoux in die Hand | |
| gedrückt hat. Ein Konzentrat der Dinge, die Ali erzählt hat und die er | |
| preiszugeben bereit ist. Am Wochenende war er mit dem Regisseur und seiner | |
| Freundin zum ersten Mal in Hagenwerder. Sie sitzen im Treff, Ahmadi erzählt | |
| von seiner Ausbildung, und die an diesem Samstagabend kaum gefüllte Kneipe | |
| nimmt von ihm anscheinend keine Notiz. Der erwartete Showdown fällt aus. | |
| Später dreht Ahmadi mit dem Regisseur noch eine Runde durchs Dorf. | |
| „Guten Abend. Mein Name ist Ali. Ich war in Ihrer Stadt.“ So fängt Ahmadis | |
| Beschreibung von Hagenwerder an, das ihm an diesem Abend dunkel und etwas | |
| unheimlich erschien. Er soll den Text am Premierenabend vortragen. | |
| Hagenwerder erinnert Ahmadi an seine Zeit im Jugendwohnheim für | |
| unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Hirschfelde. Keine Leute dort, | |
| schon gar keine jungen. Er bedauert die Menschen in Hagenwerder. „Sie haben | |
| keinen Ort, wo sie hingehen können.“ | |
| Ali Ahmadi ist nervös, diese Art von Theater kennt er nicht. „Ich hatte | |
| immer eine feste Rolle“, sagt Ahmadi. „Diesmal muss ich lesen oder etwas | |
| erzählen.“ In eine andere Person zu schlüpfen sei viel einfacher, als etwas | |
| von sich zu erzählen. Über sein Leben in Hirschfelde, seine Ankunft in | |
| Deutschland. Neben Genoux und dem Musiker ist er der Einzige, der sich | |
| mitzuspielen traut. Der Regisseur will nicht, dass er seinen Text auswendig | |
| lernt oder vorliest. Da gehe viel verloren an Intensität, Spontaneität. Er | |
| wird ihm Stichworte geben, Fragen stellen. | |
| Hast du Angst auf die Bühne zu gehen? – „Herzklopfen: auf jeden Fall. Aber | |
| das Adrenalin liebe ich.“ Ahmadi wird vor Aufregung einige Textstellen | |
| vergessen – aber er wird es hinkriegen. | |
| ## Noch zwei Stunden bis zur Premiere | |
| Seit Tagen bastelt Anastasia Tarkhanova in ihrer Wohnung im Pfarrhaus am | |
| Bühnenbild. Hagenwerder als Miniatur, Sachsen als Miniatur. Im Döner-Imbiss | |
| haben sie Pappkartons besorgt, in Görlitz Bastelutensilien. Aus den | |
| Kartons hat Tarkhanova Häuser geschnitten, Plattenbauästhetik der 50er | |
| Jahre, der Kneipe hat sie bunte Fenstertapeten verpasst, bis zwei Stunden | |
| vor der Premiere malt sie noch schwarze Tupfer auf die Fenster der | |
| Wohnhäuser. Die hellen Papphäuschen werden in der Mitte der Bühne stehen, | |
| die man wie einen Tisch umrunden kann. | |
| Das Theater Zittau überlässt Genoux die Hinterbühne und stellt die | |
| Logistik: Licht, Ton, Bühnentechnik. Ein Honorar wollte er nicht, weil | |
| später der Film entstehen soll. Nächstes Jahr will er mit seinem | |
| Sachsen-Projekt Geld verdienen, neue Förderanträge stellen. Beim | |
| Sozialministerium hatte er Gelder beantragt, ohne Erfolg. Am Premierenabend | |
| wird die Zittauer Intendantin kommen, ebenso Vertreter der Theater in | |
| Bautzen und Dresden. Der Chefdramaturg soll die Publikumsdiskussion | |
| moderieren. Die sächsische Zeitung hat einen großen Vorbericht gebracht. | |
| „Nervös?“ – „Nö.“ | |
| Georg Genoux wird den Erzähler machen, frei sprechen, zwei Tage hat er sich | |
| zurückgezogen und vorbereitet. Einzig die Frage, ob Leute aus Hagenwerder | |
| kommen, treibt ihn um. | |
| Sie kommen. | |
| Vorsorglich hat Genoux am Rand der Bühne vier Stühle aufstellen lassen. Es | |
| sind drei Herren aus Hagenwerder, die gebeten werden, dort Platz zu nehmen. | |
| Udo, Sebastian, Mike, so stellt Genoux sie dem Publikum vor. Zur Begrüßung | |
| drückt er ihnen ein Bier in die Hand. Wie schafft man es, dass sich die | |
| Menschen aus Hagenwerder nicht vorgeführt fühlen? Dass sich Ali Ahmadi | |
| nicht vorgeführt fühlt? Ist das Gerechtigkeit für Sachsen? | |
| Man muss es gut machen, sagt Genoux. | |
| Er macht es gut. | |
| „Haben Sie Hagenwerder wiedererkannt?“, fragt der Moderator beim | |
| Publikumsgespräch. Etwa 50 Zuschauer sitzen im Saal. „Zum großen Teil“, | |
| antwortet Mike. „Was mich sehr berührt hat, ist das mit unserem | |
| Zusammenhalt.“ | |
| Mit Handschlag bedanken sich die drei Männer bei Genoux, Ahmadi und dem | |
| Musiker, der mit der Trompete das Schlesien-Lied gespielt hat. Denn | |
| Hagenwerder war schlesisch und damit preußisch, während Zittau zu Sachsen | |
| gehörte. Aber beides ist die Oberlausitz, wo das Glück stets mager ist und | |
| der Teller halbvoll. | |
| Das Schlesien-Lied ist für Kalle, den AfDler, den Genoux im Hagenwerder | |
| Treff kennengelernt hat und mit dem er gemeinsam in Görlitz die Synagoge | |
| besichtigt hat. Heute ist Kalle beim Schlesien-Tag in Breslau, er hat sich | |
| entschuldigt. | |
| Genoux widmet der Begegnung mit Kalle eine ganze Szene. Zwei Schnapsgläser | |
| stehen in einem der Papphäuschen, das eine ist grün und das andere braun | |
| gefüllt. Grün steht für Pfefferminzlikör, braun für Kräuterlikör. Ein | |
| Wetttrinken begann, erzählt Genoux da auf der Bühne, zwischen ihm, der sich | |
| stets als Grüner verstanden hat und Pfeffi trank, und Kalle, dem | |
| AfD-Wähler, der beim Kräuterlikör blieb. | |
| Wer lange in Russland gelebt hat, kann beim Trinken mithalten. Derbe, | |
| rassistische Sprüche seien gefallen. „Merkel, die Sau.“ – „Noch von | |
| Honecker geschult und hier eingeschleust, um alles zu zerschlagen.“ – | |
| „Dieses Gesocks, was 2015 zu uns rübergekommen ist, die halten sich nicht | |
| an unsere Ordnung. Aber der Deutsche braucht Ordnung. So wie diese | |
| Tischdecke hier.“ Abwechselnd habe Kalle auf den Tisch gehauen und die | |
| Tischdecke gerade gezogen. „Ich weiß nicht“, zitiert Genoux am Ende Kalle, | |
| „wann ich zum letzten Mal einen Grünen umarmt habe.“ | |
| ## Der Vorhang zu, die Fragen offen | |
| „Wir müssen uns dieser Denkweise, dieser Gefühlsweise stellen“, sagt Geno… | |
| auf dem Zittauer Marktplatz am Tag nach der Premiere. Das Schnitzel ist | |
| verspeist, der Kaffee trotz Sonne kalt geworden. „Verstehen heißt ja nicht | |
| gutheißen. Man muss zunächst mal akzeptieren, dass nicht alle hier | |
| Demokraten sind.“ Muss man das wirklich? Wird man damit Sachsen gerecht? | |
| „Das Wort Gerechtigkeit gilt natürlich auch für Ali Ahmadi“, antwortet | |
| Genoux. „Man widerspricht sich bei diesem Thema ständig“, sagt er und | |
| lacht. „In 30 Jahren wird das hier ganz anders aussehen. Ali ist näher dran | |
| an Hagenwerder, als die denken.“ | |
| Auf dem großen Platz von Zittau nahe der Kirche St. Johannis haben | |
| Namenlose ein Bild des in Kandel ermordeten Mädchens aufgestellt. Der Text | |
| dazu lautet: „Die 15-jährige Mia wurde am 27.12.2017 in Kandel von ihrem | |
| afghanischen Ex-Freund, der sie zuvor mehrmals bedrängte und ihr | |
| nachstellte, erstochen.“ Was hat Kandel mit Zittau zu tun? | |
| Genoux wird weiter durch Sachsen reisen. In Zittau fortführen, was er | |
| begonnen hat. Im Februar wird der Regisseur mit fünf afrikanischen | |
| Jugendlichen ein Stück über ihr Leben in Deutschland erarbeiten, dann das | |
| Seniorentheater dazuholen. Zwei der Jungs waren bei der Premiere am 3. | |
| Oktober dabei, fühlen sich durch Ahmadis Auftritt ermutigt. | |
| Wie Ali Ahmadi die Aufführung gefallen hat? „Es war alles neu für mich“, | |
| sagt er. „Ich habe so etwas noch nie gesehen, noch nie gemacht. Aber dass | |
| man eine Stadt als Beispiel für alle nimmt, finde ich gut.“ | |
| Genoux will das Stück gerne noch einmal in Hagenwerder im Gemeindesaal | |
| aufführen, mit Ali Ahmadi. Dann kommen vielleicht mehr als drei aus dem | |
| Ort. | |
| 27 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Seifert | |
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| berührenden Begegnungen mit Seniorinnen und Recherchen über rechte | |
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| Verfilmung von „Adam und Evelyn“: Vorsichtige Ostdeutsche | |
| Andreas Goldstein hat den Wenderoman „Adam und Evelyn“ von Ingo Schulze | |
| verfilmt. Die Protagonisten wälzen sich hitzegeschwängert voran. | |
| Theaterstück „Soul Almanya“ in Celle: Kulturbrezeln für alle | |
| In „Soul Almanya“ lässt das Schlosstheater Celle Ensemble und Geflüchtete | |
| eine „Band für die neue deutsche Gesellschaft“ gründen. | |
| Junge Geflüchtete verlassen Sachsen: Zufluchtsort Bremen | |
| Zwei junge Geflüchtete flohen vor den Anfeindungen in ihrem sächsischen | |
| Wohnort nach Bremen. Nun mussten sie gegen ihren Willen zurück. | |
| Film über Liedermacher Gundermann: Die können lügen, aber leben nie | |
| Kann man verzeihen? Andreas Dresen hat einen Film über den DDR-Liedermacher | |
| Gerhard Gundermann gedreht. Eine filmische Heldenreise. | |
| Theater im Krieg: Mein Nikolajewka | |
| Zwischen Krieg und Frieden versuchen Jugendliche im Osten der Ukraine mit | |
| dem Leben dort fertig zu werden - indem sie es spielen | |
| In der Hochburg der AfD: Frust in der Oberlausitz | |
| 8,2 Prozent bei der letzten Bundestagswahl. Nirgendwo ist die Alternative | |
| für Deutschland so beliebt wie im Landkreis Görlitz. Ein Besuch. |