| # taz.de -- Krise der Linkspartei: Wenn der Vorhang fällt | |
| > Möglich, dass die Linkspartei abtritt von der politischen Bühne. Einige | |
| > ihrer bekanntesten Köpfe verlassen die erste Reihe. Sind sie gescheitert? | |
| Bild: Matthias Höhn, damals noch Bundesgeschäftsführer der Partei, präsenti… | |
| Die Linkspartei taumelt seit Monaten durch die schlimmste Krise ihrer | |
| Geschichte. Vielleicht löst sich ihre Bundestagsfraktion auf – es wäre das | |
| erste Mal seit 1949, dass eine Fraktion sich spaltet. [1][Fraktionschef | |
| Dietmar Bartsch, der bisher als Garant der allerdings recht bleiernen | |
| Stabilität galt], will nicht mehr. Dass Bartsch, der immer an seinem Amt zu | |
| kleben schien, aufgibt, zeigt: Eine [2][Spaltung der Fraktion] scheint | |
| nicht mehr zu verhindern zu sein. | |
| Am kommenden Montag sollte eigentlich eine neue Fraktionsspitze gekürt | |
| werden. Doch die Wahl fällt aus. Sie wird verschoben, auf unbestimmte Zeit. | |
| Weil es niemanden gibt, der den Job machen will. Oder glaubt, eine Mehrheit | |
| zu bekommen. Eine Fraktion am Abgrund. | |
| Eigentlich wäre das der Moment für eine kollektive Anstrengung – den | |
| Versuch, zu retten, was zu retten ist. | |
| Einerseits. | |
| Andererseits gibt es ein erstaunliches Phänomen: den Rückzug von | |
| talentierten, jüngeren Politikern. Fabio de Masi, 43, allgemein anerkannter | |
| Finanzpolitiker, hat vor zwei Jahren das Handtuch geworfen. Mit Stefan | |
| Liebich, 50, der sich 2020 freiwillig aus der Politik verabschiedete, und | |
| Matthias Höhn, 49, verlor die Fraktion die zwei profilierten | |
| Außenpolitiker, die die Brücken zu Rot-Grün hätten begehbar halten können. | |
| Jan Korte, 46, war seit 2017 parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion | |
| – und tritt nicht mehr an. Auch Korte muss wegen der verschobenen Wahl | |
| jetzt erst mal noch im Amt bleiben. | |
| Alle sind zwischen 40 und 50 Jahre alt, ein Alter, in dem für | |
| PolitikerInnen oft der Sprung nach oben folgt. Mit 50 wird man, ausreichend | |
| gestählt durch Machtkämpfe, Fraktionschef, Staatssekretär oder Minister. | |
| Reformer in der Linkspartei wie Liebich haben lange darauf hingearbeitet. | |
| Sie wollten, dass die Partei regierungsfähig und erwachsen wird. | |
| Warum jetzt dieser Rückzug? Aus Enttäuschung über die Partei, die nicht | |
| wurde, was sie versprach? Family values statt Parteisoldatentum? Oder eine | |
| Mixtur aus Selbstverwirklichung und Frust? Sind sie Gescheiterte? | |
| Verlierer, die die Fahne eingerollt haben? | |
| ## Der Ermüdungsbruch | |
| Jan Korte muss jetzt erst mal die Wäsche auf dem Balkon aufhängen. Es ist | |
| ein heißer Julinachmittag in Berlin. Korte, Tattoos auf den Oberarmen, ist | |
| eines der größten kommunikativen Talente der Linkspartei. Er beherrscht die | |
| Abteilung Attacke, den frontalen Angriff auf die Regierung wie kaum einer. | |
| Oft mit Unterhaltungswert. | |
| Oder vielmehr: beherrschte. Er war sechs Jahre parlamentarischer | |
| Geschäftsführer (PGF) der Linksfraktion. Und will hinschmeißen. PGF ist ein | |
| Job, in dem man Strippen ziehen kann. Nicht ganz die erste Reihe, aber sehr | |
| nah dran. Wenn man die Rolle so spielt wie er. Auf seinem Abschiedsfest im | |
| Bundestag waren PolitikerInnen von SPD und Grünen, CSU, CDU. Und auch Marco | |
| Buschmann, FDP-Justizminister. Selbst die miteinander verfeindeten | |
| Grüppchen der Linksfraktion. Korte kann mit fast allen. | |
| Herr Korte, warum hören Sie auf? | |
| Korte macht ein Bier auf und sagt: „Ich habe die Scheiße nicht mehr aus dem | |
| Kopf gekriegt. Immer erreichbar, immer ansprechbar. Irgendwann kriegst du | |
| einen Akku nicht mehr voll.“ Und dann sagt er noch, dass die Kinder so | |
| schnell groß werden und mehr von ihrem Vater haben sollen. | |
| Gute Gründe. Aber was ist mit Politik? Wagenknecht? Der Spaltung? Immerhin | |
| fiel bei allen Neubesetzungen der Spitze von Fraktion und Partei in den | |
| letzten Jahren stets ein Name: seiner. Er hat es nie versucht. Nicht, weil | |
| es aussichtslos gewesen wäre. Sondern wegen der sauerstoffarmen Höhenluft | |
| ganz oben. „Wer nach ganz oben will, muss die Ellenbogen ausfahren. Es gibt | |
| da eine emotionale Brutalisierung, die ich nicht will“, sagt er. | |
| Sein Rückzug hat auch etwas mit einem Ermüdungsbruch zu tun. Mit Überdruss. | |
| „Ich weiß bei jeder Debatte in der Fraktion oder auf Social Media vorher, | |
| wer was sagt.“ Und alles werde „immer gecheckt – für oder gegen | |
| Wagenknecht“. | |
| Er hat anders als viele andere Reformer Verständnis für die linke | |
| Solospielerin. Er findet, dass die Linkspartei sich besser um | |
| Gewerkschaften und kleine Leute kümmern soll, als auf Klima- und | |
| Refugees-welcome-Bewegung zu setzen. Und dass die Krise der Linkspartei | |
| lange vor Wagenknechts Alleingängen begann und nicht endet, wenn sie weg | |
| ist. „Ich teile einige von Wagenknechts Analysen. Aber nicht das | |
| konservative Tourette, das sie manchmal hat.“ | |
| Sind Sie gescheitert, Herr Korte? | |
| „Ich gehe aus der ersten in die zweite Reihe im Bundestag. Natürlich bin | |
| ich politisch überwiegend gescheitert.“ | |
| Und warum? | |
| Eigentlich, sagt er, waren sie, die Alterskohorte zwischen 40 und 50, sich | |
| kulturell nahe. „Eigentlich hätten wir ein gutes Team sein sollen.“ Aber so | |
| war es nicht. „Streit gibt es in jeder Partei. Aber bei uns gibt es eine | |
| persönliche Unerbittlichkeit.“ Und: „Je geringer der Einfluss der | |
| Linkspartei auf die Gesellschaft wurde, umso härter wurden die Kämpfe innen | |
| ausgetragen. Je geringer die Akzeptanz in der Bevölkerung, umso mehr nimmt | |
| man die eigene Peergroup als Zustimmungsersatz.“ | |
| Das ist eine harte Bilanz. Es ist eigentlich die Beschreibung einer Sekte. | |
| Korte bleibt Abgeordneter und ist Vize der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die | |
| Stiftung als Exit-Option. Wer bei den Grünen aussteigt, kann beim BUND, | |
| Agora Energiewende oder Greenpeace anheuern. Die Linkspartei hat keine | |
| vergleichbaren Vorfeldorganisationen. Nur die Parteistiftung mit ihren | |
| begrenzten Möglichkeiten. | |
| Vielleicht ist das ein Grund, warum die Kämpfe bei den Linken so gnadenlos | |
| sind. Weil es schwierig ist, ohne Status- und Gehaltsverlust die Bühne zu | |
| verlassen. Und auch deshalb lange fast immer alle blieben. | |
| Herr Korte, hat die Linkspartei noch eine Zukunft? | |
| Korte zögert. Es sei ja schlechter Stil, wenn man geht und an der Haustür | |
| noch kurz ansagt, wo es jetzt langgeht. Lieber keinen Ratschlag. Nur den, | |
| ein Zitat von Bruno Kreisky, dem großen österreichischen Sozialdemokraten: | |
| „Man muss die Leute gern haben.“ Ohne Verständnis für die gewöhnlichen | |
| Leute, sagt Korte, gibt es keine linke Politik. | |
| Das richtet sich gegen die hochmoralische Wokenessfraktion in der Partei, | |
| die sich gern vom Normalen abgrenzt. Allerdings ist Leute zu mögen jetzt | |
| auch nicht Wagenknechts Kernkompetenz. | |
| ## Die Glut in der Asche | |
| Matthias Höhn sitzt in seinem Büro im Karl-Liebknecht-Haus, der | |
| Parteizentrale. Vierter Stock. Ein kleines Büro. Ein ordentlicher | |
| Schreibtisch, ein Computer, zwei Grünpflanzen. Aufgeräumt, etwas steril. | |
| Höhn verwaltet die Immobilien der Partei. Es sind nicht allzu viele. „Ich | |
| habe Ferien, freie Wochenenden und freie Abende.“ | |
| Er hat 20 Jahre lang professionell Politik gemacht. Als Landespolitiker in | |
| Sachsen-Anhalt, später im Bundestag und in der Parteiführung. 2021 hat sein | |
| Listenplatz nicht für den Bundestag gereicht. Jetzt sitzt er in seinem Büro | |
| in der Parteizentrale ein paar Meter entfernt von dem Spitzenduo Janine | |
| Wissler und Martin Schirdewan. Und doch ist er dem Politgeschäft sehr fern. | |
| „Ich bin mit mir im Reinen“, sagt Höhn. Er hat alles versucht, die Partei | |
| regierungsfähig zu machen. Als er in Sachsen-Anhalt Landeschef war, hat die | |
| Partei zweimal blendend abgeschnitten. Aber „die SPD wollte zweimal nicht | |
| mit mir verhandeln“. | |
| In der Bundespartei hat er als Geschäftsführer vor der Wahl 2017 die | |
| Linkspartei für ein Bündnis mit SPD und Grünen zu öffnen versucht. Und | |
| verloren. Wegen der Fundis. Und weil er alleine im Regen stand und keiner | |
| von denen, die eigentlich offen für Rot-Grün-Rot waren, keine Katja | |
| Kipping, kein Dietmar Bartsch, einen Schirm aufspannen wollte. | |
| Der Hauptfehler, sagt er, war, dass „die Reformer es nicht geschafft haben, | |
| die Kluft zwischen Ländern und Bund zu schließen“. In den Ländern, in | |
| Berlin, Thüringen, Bremen, regiert man mit. Doch im Bund „haben wir es nie | |
| geschafft, eine Regierungsperspektive zu eröffnen“. | |
| Höhn hat es probiert, offen wie sonst kaum jemand. Vor der Wahl 2021 hat er | |
| versucht, mit einem Papier über Außenpolitik die Fixierung der Partei auf | |
| Russland zu lockern. Er wollte ein Ja zu Blauhelm-Einsätzen der Bundeswehr, | |
| eine Debatte über eine europäische Armee und, dass die Partei ihr | |
| Fundi-Nein zur Bundeswehr durch realistische Abrüstungspolitik ersetzt. | |
| Es gab einen Shitstorm gegen ihn, Fraktions- und Parteispitze versenkten | |
| seinen Vorstoß in seltener Einmütigkeit. Er hat gebohrt, wo es nötig war. | |
| Und ist auf Granit gestoßen. Zwei Dutzend Genossen beantragten 2021 wegen | |
| des Papiers ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn. Wegen Kriegstreiberei. | |
| Er hatte vorgeschlagen, 1 Prozent vom BIP für die Bundeswehr, 1 Prozent für | |
| zivile Konfliktprävention auszugeben. | |
| Den Ausschlussantrag gegen ihn hat die Schiedskommission vor ein paar | |
| Wochen als unbegründet abgewiesen. Immerhin. | |
| Nach dem gescheiterten Versuch, die gusseiserne Außenpolitik der Partei | |
| aufzulockern, wollte er Vizeparteichef werden. Und verlor gegen Tobias | |
| Pflüger, einen „Raus aus der Nato“-Mann. 42 Prozent hatten für Höhn | |
| gestimmt. Das zeige doch, dass es „ein Bedürfnis nach der Debatte über die | |
| Außenpolitik in der Partei gab“, sagt er. Man kann es auch anders | |
| formulieren: Höhn hat eine beeindruckende Art, die Glut in der Asche zu | |
| sehen. | |
| Er blickt auf eine imposante Reihe politischer Niederlagen zurück. Er kann | |
| en detail nachzeichnen, warum es so kam, wie es kam. Es gab immer | |
| komplizierte Gründe, die außerhalb der Linkspartei kaum jemand verstanden | |
| hat. Das Ergebnis war: Auch die, die sich in der politischen Kernfrage – | |
| Regieren im Bund – nahe waren, haben sich lieber gegenseitig bekämpft. | |
| Herr Höhn, hat die Linkspartei noch eine Zukunft? | |
| Er wählt seine Worte mit Bedacht, er redet ja über seinen Arbeitgeber. Die | |
| Ukrainepolitik – Sanktionen ja, Waffen nein – sei zu unentschlossen. Mit | |
| dieser Unentschiedenheit bediene man weder die Pro-Russland- noch die | |
| Pro-Ukraine-Klientel. Er selbst ist da entschieden: „Ein Land, dass sich | |
| gegen einen Aggressor verteidigt, benötigt dafür Waffen.“ | |
| Trotz alledem sei aber eine Rettung für die Partei noch möglich. Die | |
| Linkspartei liegt zurzeit in Umfragen bei 4 Prozent. „Es kann eigentlich | |
| nicht viel schlimmer werden. In den 4 Prozent ist der Abgang von | |
| Wagenknecht schon weitgehend eingepreist.“ Angesichts der Schwächen der | |
| Ampel sei „es drin, 2 Prozent enttäuschte Wähler von Grünen oder SPD 2025 | |
| zur Linkspartei zu ziehen“. | |
| Regieren ist seit dem 24. Februar 2022 Asche. Das, was Höhn immer wollte, | |
| existiert nicht mehr. Noch nicht mal mehr als Illusion. | |
| ## Das zweite Leben | |
| Stefan Liebich sitzt in einem Café in Berlin-Pankow. Es ist ein Heimspiel | |
| für ihn. Hier in Pankow hat er 2009, 2013 und 2017 das Direktmandat für den | |
| Bundestag gewonnen. Liebich ist braun gebrannt, wirkt aufgeräumt und | |
| schwärmt von Billy Joels Konzerten im Madison Square Garden. Er kommt | |
| gerade aus New York, seiner neuen Heimat. Dort wird er das Büro der | |
| Rosa-Luxemburg-Stiftung leiten. Die Stiftung als Exit-Option. Also nicht | |
| völlig weg von der Partei. Und doch sehr weit. Er hat eine US-Journalistin | |
| geheiratet. Ein zweites Leben. | |
| Im Februar 2020 hat er erklärt, dass er nicht mehr für den Bundestag | |
| kandidiert. Kurz vor Corona. Damals stand die Linkspartei bei 8 Prozent. | |
| Liebich betont das zwei Mal. Nicht dass jemand denkt, dass er von einem | |
| sinkenden Schiff desertiert wäre. | |
| 2020 hat er seinen Facebook-Account als Bundestagsabgeordneter gelöscht. | |
| Der Entzug von der Droge Aufmerksamkeit verlief gut. Es war ein geplanter, | |
| kontrollierter Abschied aus der Welt der Wichtigen. Liebich wirkt überhaupt | |
| kontrolliert. Als Politiker schien er oft schmerzfrei zu sein. Das braucht | |
| man, gerade als Linke-Politiker. Wegen der Angriffe von außen. Und von | |
| innen. | |
| Er war unter den linken Außenpolitikern ein Einzelkämpfer, der für eine | |
| realistische, weniger russlandaffine Politik warb. Geduldig und unbeirrbar. | |
| In der Außenpolitik hatten und haben Steinzeitantiimperialisten und | |
| Anti-Nato-Kämpfer wie Sevim Dağdelen und Andrej Hunko die Mehrheit. „Im | |
| Großen und Ganzen bin ich dankbar für die Zeit im Bundestag. Aber ich muss | |
| es nicht noch mal machen“, sagt Liebich. | |
| Er hat gute, einleuchtende Gründe, warum er die Politik endgültig an den | |
| Nagel gehängt hat. Er war schon mit 22 Jahren Parlamentarier im Berliner | |
| Abgeordnetenhaus. „Ein Vierteljahrhundert Berufspolitiker reicht“, sagt er. | |
| Herr Liebich, sind Sie gescheitert? | |
| „Klar wäre es gut gewesen, wenn wir weiter gekommen wären“, sagt er. Aber | |
| er sieht sich nicht als Verlierer. Man müsse sich vorstellen, „wie die | |
| Debatten um Europa und Regierungsbeteiligungen ohne Leute wie die Reformer | |
| aus dem Osten gelaufen wären“. Außerdem habe die Linkspartei doch auch als | |
| Opposition eine wichtige Rolle gespielt, zum Beispiel beim Mindestlohn. Auf | |
| dem Parteitag 2018 sei es gelungen, einen prorussischen Antrag abzulehnen | |
| und Russlands Agieren in Syriens Krieg zu verurteilen. | |
| Das stimmt alles, segelt aber am Kern vorbei. Die Linkspartei wankt gerade | |
| am Rand des Untergangs entlang. Keine Selbstkritik? Kein Gefühlsrest – du | |
| hättest doch bleiben sollen? | |
| Eher nein. Liebichs Antwort hat mit der DDR zu tun. Mit einer | |
| Desillusionierung. Oder Befreiung. Je nachdem. | |
| Er war ein DDR-Kind. Pioniere, FDJ, die Eltern waren in der SED. Als die | |
| Mauer fiel, war er 16. Die PDS war für ihn, wie für viele, eine Art | |
| Ersatzheimat. Bis zum Bruch. 2001. Da hatte Liebich in Berlin geholfen, | |
| die erste rot-rote Regierung zu zimmern. In der Stadt, in der zwölf Jahre | |
| zuvor noch die Mauer stand. Es war der erste große Schritt der Verwandlung | |
| der PDS von einer Partei der Ausgegrenzten in eine etablierte, gestaltende | |
| Kraft. | |
| 2002 flog die PDS aus dem Bundestag. Eine existenzielle Krise so wie jetzt. | |
| Viele GenossInnen waren der Ansicht, dass regieren falsch ist. „Wir | |
| Reformer, die offen fürs Regieren waren, waren damals an allem schuld“, | |
| sagt Liebich. „Bis dahin hatte ich eine sehr emotionale Verbindung zur | |
| Partei. Das hat sich 2002 normalisiert.“ | |
| Damals hat die Partei aufgehört, für ihn Familie und Heimat zu sein. Und | |
| wurde eine Organisation, die Interessen vertritt. Nichts Wärmendes, eher | |
| etwas Neutrales. | |
| Liebich hat Wagenknecht kritisiert. Nicht alle Reformer haben das getan. | |
| Viele hielten das 2013 geschlossene Bündnis von Dietmar Bartsch und Sahra | |
| Wagenknecht, das sogenannte Hufeisen, lange für sakrosankt. Liebich hält | |
| das für falsch, heute mehr als früher. „In der Außenwahrnehmung war die | |
| Linkspartei keine zuverlässige Kraft an der Seite der Geflüchteten mehr. | |
| Das hätten wir nicht zulassen dürfen.“ Und: „Wir hätten früher und | |
| deutlicher Stoppzeichen setzen müssen. Das werfe ich mir selber vor.“ | |
| Die Linke war ein Bündnis aus sehr verschiedenen Gruppen. Aus Fundis und | |
| Pragmatikern, altlinken Ideologen und sozialen Bewegungen, | |
| Ex-Sozialdemokraten und Ex-SEDlern. Aus Leuten, die regieren für Verrat | |
| hielten, und solchen wie Liebich, die gestalten wollten. | |
| Aber die Linkspartei war gut eineinhalb Jahrzehnte stabil – der Preis dafür | |
| war es, existenzielle Fragen wie die nach dem Regieren und dem Verhältnis | |
| zur Nato mit Formelkompromissen zuzuschütten. | |
| War das falsch, Herr Liebich? Hätten die Reformer, statt sich auf das | |
| Regieren in den Bundesländern zu verlegen, eine Entscheidungsschlacht in | |
| der Bundespartei anzetteln müssen? | |
| „Was wäre gewonnen gewesen, eine klare Entscheidung zu treffen und danach | |
| keine wirksame Organisation mehr zu haben?“, fragt Liebich zurück. Hätte | |
| man wegen der Ukraine- und Außenpolitik, die in der Partei bis zum 24. | |
| Februar 2022 nur wenige wirklich brennend interessierte, den Laden in die | |
| Luft jagen sollen? | |
| Vielleicht hätte kein Weg zum Ziel geführt. Nicht das Verdrängen aller | |
| Konflikte, die Methode Bartsch. Aber auch nicht Entscheidung, | |
| Entschlossenheit, Abspaltung. | |
| Jetzt steht die Abspaltung des Wagenknecht-Lagers bevor. Der Untergang der | |
| Linkspartei als parlamentarischer Kraft ist so nah wie nie seit 2002. | |
| „Es mag abgedroschen klingen“, sagt Liebich vorsichtig. Aber die | |
| Linkspartei werde noch gebraucht – weil sie „manchmal als einzige Kraft für | |
| Umverteilung streitet“. | |
| Das ist der einzige Konsens in der zerbröckelnden Linkspartei: dass einem | |
| Bundestag ohne sie etwas fehlen würde. Reicht das? | |
| 3 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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