Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sahra Wagenkecht und die Linkspartei: Kurz vor dem Absprung
> Sahra Wagenknecht hat die Linkspartei abgeschrieben und plant die
> Gründung einer neuen Partei. Fragen und Antworten zu einem
> Trennungsprozess.
Bild: Warten auf Sahra: Wann genau Wagenknecht ihre Partei aus der Taufe hebt, …
Wird sich Sahra Wagenknecht von der Linkspartei abspalten und eine eigene
Partei gründen?
Sie selbst hat angekündigt, sich bis zum Ende des Jahres zu entscheiden.
Viel spricht aber dafür, dass die Entscheidung bereits gefallen ist. Ihre
politischen Vertrauten sind jedenfalls schon kräftig dabei, hinter den
Kulissen die organisatorischen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Es geht
inzwischen nicht mehr darum, ob eine neue Partei gegründet wird, sondern
nur noch, wann es so weit ist.
Und wann wird es so weit sein?
Das ist die spannende Frage. Zur Vorbereitung der neuen Partei soll wohl
erst mal ein eingetragener Verein gegründet werden, möglicherweise noch im
Oktober. Der Vorteil eines Vereins ist, dass mit ihm eine Parallelstruktur
zur Linkspartei aufgebaut werden kann, ohne dass dieser Schritt für sich
genommen schon ein Ausschlussgrund wäre. Zweitens lässt sich die
Mitgliedschaft auf stramme Gefolgsleute beschränken. Denn
Querulant:innen und Wutbürger:innen jedweder Couleur sind zwar als
künftige Wähler:innen herzlich willkommen, gleichwohl machen sich die
Kreise um Wagenknecht aus gutem Grund sehr viele Gedanken, wie diese aus
dem angestrebtem neuen Laden herausgehalten werden können. Eine offizielle
Parteigründung könnte sich jedenfalls noch bis ins nächste Jahr ziehen.
Warum lassen sich Wagenknecht und ihre Entourage so viel Zeit?
Das erste Etappenziel ist die Europawahl, die am 9. Juni 2024 stattfindet,
[1][wie die taz bereits vor einem Jahr berichtete]. Bis zum 18. März 2024
müssen dafür die Wahlvorschläge eingereicht werden. Das ist das
Zeitfenster. Noch gibt es also keinen Zeitdruck. Solange Wagenknecht & Co.
noch formal in der Linkspartei sind, können sie diese weiter von innen
heraus sturmreif schießen, damit möglichst wenig von ihr übrigbleibt.
Außerdem können sie die üppige personelle und finanzielle Infrastruktur der
Linksfraktion im Bundestag für ihr Treiben zu nutzen.
Das heißt, eine Abspaltung von der Linkspartei wird es erst im nächsten
Jahr geben?
Nein, das heißt es keineswegs. Einerseits müssen die Abspalter:innen
zwar schauen, dass sie eine Welle erzeugen, die so weit trägt, dass sie mit
einem guten Ergebnis ins EU-Parlament geschwemmt werden. Je weiter die Wahl
entfernt ist, desto größer ist die Gefahr, dass eine solche Welle zu früh
verebbt. Andererseits ist die Ungeduld ihrer Anhänger:innenschaft
groß. Deswegen ist es durchaus möglich, dass sich Wagenknecht und ihre
Kombattant:innen auch schon in diesem Jahr irgendetwas suchen, um mit
einem lauten Knall ihre Trennung von der Linkspartei zu verkünden. Dafür
gäbe es mehrere denkbare Anlässe. Sie reichen von der Neuwahl des Vorstands
der Linksfraktion im September – was allerdings als zu kurzfristig
erscheint – über die Landtagswahlen im Oktober in Hessen und Bayern, die
für die Linkspartei nicht gerade vorteilhaft ausgehen dürften, bis hin zum
Linken-Parteitag Mitte November. Auf dem Parteitag soll [2][nach dem Willen
der Parteivorsitzenden] Janine Wissler und Martin Schirdewan [3][die
Klimaaktivistin und Seenotretterin Carola Rackete] [4][auf Platz zwei der
Europawahlliste] gewählt werden – wogegen das Wagenknecht-Lager heftig
polemisiert. Nur dass in diesem Jahr bereits eine neue Partei gegründet
wird, ist eben nicht sehr wahrscheinlich.
Warum nicht?
Weil das ökonomisch höchst unklug wäre. Ein Erfolg bei der EU-Wahl soll
Wagenknecht & Co. ja nicht nur politischen, sondern gerade auch
finanziellen Schwung für die Bundestagswahl 2025 bringen. Nun haben zwar
alle Parteien und sonstigen politischen Vereinigungen, die mindestens 0,5
Prozent der Stimmen erhalten, einen Anspruch auf staatliche Finanzmittel.
Aber nur bis zur Höhe der von ihnen selbst erwirtschafteten Einnahmen, was
vor allem Mitglieds- und Mandatsträgerbeiträge sowie Spenden meint.
Entscheidend dafür sind die Zahlen aus dem Vorjahr – außer bei Parteien
oder Listen, die erst im Wahljahr neu gegründet werden.
Was bürokratisch klingt, kann handfeste Auswirkungen haben: Würde sich eine
Wagenknecht-Partei noch im Herbst oder Winter dieses Jahres gründen, dürfte
das dazu führen, dass sie einen Großteil der zu erwartenden
Wahlkampfkostenrückerstattung nicht wird kassieren können, weil die Zeit
für ausreichende Eigeneinnahmen zu kurz wäre. Warnendes Beispiel ist das
„Team Todenhöfer“, das auf einige Staatsknete verzichten musste, weil es
sich nicht erst im Wahljahr 2021, sondern schon im November 2020 gegründet
hatte.
Was wird aus der Linksfraktion im Bundestag?
Die Linksfraktion dürfte schon bald Geschichte sein. Derzeit gehören ihr 39
Abgeordnete an. Verliert sie nur drei Mitglieder, ist der Fraktionsstatus
futsch. Neben Wagenknecht werden sich wohl zwischen sieben und elf
Abgeordnete an einem „linkskonservativen“ Abspaltungsprojekt beteiligen.
Das würde also reichen. Sobald Wagenknecht öffentlich verkündet,
tatsächlich eine neue Partei gründen zu wollen, gibt es zwei Möglichkeiten:
Wagenknecht und ihre Anhängerschaft treten aus der Fraktion aus – oder sie
werden von einer Zweidrittelmehrheit aus der Fraktion ausgeschlossen. Kommt
es weder zu dem einen noch dem anderen, kommt das Ende spätestens dann,
wenn die neue Wagenknecht-Partei tatsächlich gegründet ist. Denn eine der
Voraussetzungen für eine Bundestagsfraktion ist laut Geschäftsordnung, dass
deren Mitglieder „derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die auf
Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im
Wettbewerb stehen“. Das wäre dann eindeutig nicht mehr der Fall.
Was passiert, wenn es die Linksfraktion nicht mehr gibt?
In der Geschäftsordnung des Bundestags ist festgelegt, dass Mitglieder, die
sich zusammenschließen wollen, ohne die Fraktionsmindeststärke zu
erreichen, als Gruppe anerkannt werden können. Beispiele für solche Gruppen
sind Bündnis 90/Die Grünen in den Jahren von 1990 bis 1994 oder die PDS
zwischen 1990 und 1998. Es gibt also Präzedenzfälle. Wenn die Linksfraktion
auseinanderfällt, können die über das Ticket der Linkspartei gewählten
Abgeordneten versuchen, eine oder mehrere Gruppen zu bilden. Als
Voraussetzung gilt dabei, dass in der jeweiligen Gruppe mindestens fünf
Abgeordnete sind.
Aber was ist, wenn der Bundestag einer solchen Gruppe die Anerkennung
verweigert?
Das wäre keine gute Idee der Parlamentsmehrheit. Denn das würde aller
Wahrscheinlichkeit nach eine heftige Klatsche vom Bundesverfassungsgericht
nach sich ziehen, da die Richter:innen dies wohl als eine
Willkürentscheidung bewerten dürfte.
Was ist der Unterschied zwischen einer Fraktion und einer Gruppe?
Der Hauptunterschied ist ein finanzieller: Auch eine Gruppe erhält zwar für
ihre parlamentarische Arbeit eine finanzielle, technische und personelle
Unterstützung – aber nur die Hälfte des Grundbetrags einer Fraktion. Falls
sich die 39 Abgeordneten in zwei Gruppen aufteilen sollten, würden sie
entsprechend zusammengerechnet wesentlich weniger bekommen als bisher. Wie
eine Fraktion erhält aber auch eine Gruppe darüber hinaus noch Zuschläge
entsprechend ihrer Stärke. Dazu gehören – solange sie nicht an der
Regierung beteiligt ist – besondere Zuschläge für die Opposition.
Aber ihre Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten wären eingeschränkt, oder?
Entscheidend ist, dass auch eine Gruppe das Recht hat, Reden zu halten und
Gesetzentwürfe, Anträge, Entschließungsanträge sowie Große und Kleine
Anfragen einzubringen. Da besteht also kein fundamentaler Unterschied
zwischen einer Fraktion und einer Gruppe. Und was die reduzierten Mittel
anbetrifft: Da könnten sich die Abgeordneten aus der Not heraus die Partij
van de Arbeid in Belgien oder [5][die KPÖ in Graz und Salzburg] zum Vorbild
nehmen. Nicht unmaßgeblich für deren gegenwärtigen Erfolg ist, dass sich
ihre Mandatsträger:innen auf einen durchschnittlichen
Facharbeiter:innenlohn beschränken. In Österreich sind das übrigens
2.300 Euro netto. Würden das auch die Linkspartei-Abgeordneten so halten,
könnten sie im Falle der Spaltung auf eine Reduzierung ihres
Mitarbeiter:innenstabs weitgehend verzichten. Und sie würden auch
noch ihre Glaubwürdigkeit erhöhen.
Welche Erfolgsaussichten hätte eine neue Wagenknecht-Partei?
Bei der EU-Wahl eine ziemlich gute. Da gibt es noch den Reiz des Neuen, der
auch deswegen auf Wähler:innen attraktiv wirken könnte, weil diese Wahl
als nicht so relevant wie eine Landtags- oder Bundestagswahl gilt. Die
entsprechend niedrigere Wahlbeteiligung ist auch von Vorteil. Nur was kommt
dann? Die Aussichten, dass das Ganze so endet wie bei der Piratenpartei,
die nach einem kurzen Aufschwung längst wieder in der Versenkung
verschwunden ist, sind groß.
Was ist das Problem?
Perspektivisch wird die Strahlkraft Wagenknechts alleine nicht reichen, um
[6][ihre neue „linkskonservative“ Partei] zu tragen. Neben den enormen
organisatorischen Herausforderungen ist das größte Problem, dass sie eine
Projektionsfläche darstellt, in die unterschiedlichste Erwartungen gesetzt
werden. Denn es gibt eine beträchtliche Differenz zwischen Wagenknechts
Fangemeinde innerhalb und außerhalb der Linkspartei. Die einen halten sich
für die wahren Linken, die anderen hassen alles Linke. In der Anfangsphase
kann es reichen, gemeinsam Klimaschutz blöd, Impfen doof, Gendern schlimm,
die EU bekloppt, die USA schrecklich, Geflüchtete noch schrecklicher,
Wladimir Putins Russland töfte und die deutsche Nation toll zu finden. Doch
wenn den einen irgendetwas zwischen SPD/ML und DKP 2.0 vorschwebt, während
die anderen sich eine etwas andere AfD wünschen, dann dürfte das nicht sehr
lange gut gehen.
Und was wird aus der Linkspartei?
Für die Linkspartei wird es sehr schwer. Unklar, ob sie in ihrer
existenziellen Krise auch noch eine Abspaltung verkraften kann, die sie
erstmal weitere Mitglieder und Stimmen kosten wird. Andererseits steht
außer Frage, dass diese Trennung überfällig ist. Sie bietet also auch die
Chance auf einen Neuanfang. Dass es nicht mit Wagenknecht geht, steht
längst fest – auch wenn es viele allzu lange nicht haben wahrhaben wollen.
Ob die Linke jedoch ohne Wagenknecht kann, ist eine Frage, die derzeit noch
unbeantwortet bleiben muss.
21 Aug 2023
## LINKS
[1] /Abspaltungstendenzen-von-der-Linkspartei/!5877416
[2] /Aktivistin-als-EU-Spitzenkandidatin/!5944965
[3] /Carola-Rackete-ueber-ihre-EU-Kandidatur/!5945305
[4] /Carola-Rackete-und-die-Linke/!5946753
[5] /KPOe-gewinnt-in-Salzburg/!5927404
[6] /Wagenknecht-versus-AfD/!5949654
## AUTOREN
Pascal Beucker
## TAGS
Europawahl
Die Linke
Sahra Wagenknecht
Die Linke
Janine Wissler
Sevim Dagdelen
Lesestück Recherche und Reportage
Longread
Die Linke
Bundestag
Die Linke
Schwerpunkt AfD
## ARTIKEL ZUM THEMA
Parteiausschlussantrag gegen Wagenknecht: „Es braucht jetzt eine Klärung“
Die Bremer Fraktionschefin Sofia Leonidakis hat den Ausschluss von Sahra
Wagenknecht beantragt. Mehr als 50 Linke stehen hinter der Forderung.
Bitterer Wahlabend für die Linkspartei: Wenn nur noch Pathos übrig bleibt
In Hessen aus dem Landtag geflogen, in Bayern unter der
Wahrnehmungsschwelle: Für die Linkspartei enden die Landtagswahlen mit
einem Desaster.
Absetzbewegungen von der Linkspartei: Linken-Katharsis in Bochum
Nach dem Austritt von Wagenknechtanhängerinnen gibt es in der
Ruhrgebietsstadt keine Linksfraktion mehr. Das hat wohl auch profane
finanzielle Gründe.
Neue Partei: Wer würde sie wählen?
Sahra Wagenknecht findet Zustimmung auch unter Menschen, die bisher Linke,
SPD oder Grüne gewählt haben. Was sind die Gründe dafür, was bewegt sie?
Krise der Linkspartei: Wenn der Vorhang fällt
Möglich, dass die Linkspartei abtritt von der politischen Bühne. Einige
ihrer bekanntesten Köpfe verlassen die erste Reihe. Sind sie gescheitert?
Linke sucht nach neuer Fraktionsspitze: Trümmerhaufen sucht Nachfolger
Die Linke verschiebt die Wahl ihrer neuen Fraktionsspitze. Ein neuer Termin
ist nicht bekannt. Mohamed Ali und Bartsch bleiben nun vorerst im Amt.
Rückzug des Linken-Fraktionschefs: Übrig bleibt ein Scherbenhaufen
Dietmar Bartsch hat angekündigt, nicht mehr für den Fraktionsvorsitz der
Linken im Bundestag zu kandidieren. Ein Abgang, der viel zu spät kommt.
Linken-Fraktionschef tritt nicht mehr an: Dietmar Bartsch reicht es
Der Fraktionschef der Linken wird bei der Vorstandswahl nicht erneut
kandidieren. Ohnehin ist fraglich, wie lange es die Linksfraktion noch
gibt.
Wagenknecht versus AfD: Verachtung des Proletariats
Eine Wagenknecht-Partei könnte die AfD schwächen und „Die Linke“ wieder
aufblühen lassen. So zumindest hoffen das manche. Ist das realistisch?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.