# taz.de -- Wagenknecht versus AfD: Verachtung des Proletariats | |
> Eine Wagenknecht-Partei könnte die AfD schwächen und „Die Linke“ wieder | |
> aufblühen lassen. So zumindest hoffen das manche. Ist das realistisch? | |
Bild: Für die einen ein rotes Tuch, für die anderen eine rote Hoffnung | |
Linke sind voller Krisenbewusstsein. Es gibt ja ein paar Begriffe, die sehr | |
häufig im Zusammenhang mit dem Wort „Krise“ gebraucht werden, und der | |
Begriff „Linke“ ist da top. Wenn die Linke stark ist, aber hinter ihren | |
ambitionierten Zielen zurückbleibt, diskutiert sie „die Krise der Linken“. | |
Ist sie schwach, dann erst recht. Man kommt problemlos durch ein linkes | |
Leben, indem man von Debatte zu Debatte über die „Krise der Linken“ hüpft. | |
Die herkömmliche Linksperson macht dennoch das Beste daraus. Die Krise, so | |
hofft sie, könnte ja der Moment der Genesung sein. | |
Bertolt Brecht wollte einmal eine Zeitschrift gründen, deren erste Nummer | |
„Die Begrüßung der Krise“ als Generalthema haben sollte. Leider war die | |
Krise schneller, und es wurde nichts draus. In der Medizin markiert die | |
Krisis die notwendige Verschärfung der Malaise, auf die, sofern der Sieche | |
sie überlebt, die Heilung folgt. Im Notfall halten wir uns an Hölderlin: | |
„Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ | |
Gefahr ist gerade genug. Die SPD in Umfragen bei 18 Prozent, die Grünen bei | |
14. Die AfD bei 23 Prozent. Die Partei „Die Linke“ im existenzbedrohenden | |
Flügelkampf. In den Ost-Bundesländern könnten die Rechtsextremen stärkste | |
Kraft werden. In Thüringen, wo nächstes Jahr gewählt wird, liegt die | |
Höcke-AfD in einer Umfrage bei 32 Prozent, Bodo Ramelow, immerhin einziger | |
Linke-Ministerpräsident, kommt mit seiner Partei dort auf 22 Prozent | |
(Ramelow selbst hat persönliche Zustimmungswerte von 52 Prozent). Das Land | |
rutscht. | |
Und wo wächst jetzt „das Rettende auch“? | |
Seit Längerem schon geht ein Gespenst durchs Land, [1][das Gespenst einer | |
Sahra-Wagenknecht-Partei]. Ob es eine Wagenknecht-Partei je geben wird, | |
steht in den Sternen, aber schon ist sie Objekt aller möglicher | |
Projektionen. Bei der erwähnten Thüringen-Umfrage wurde auch das Antreten | |
einer Wagenknecht-Partei abgefragt. Stünde sie auf den Zetteln, wäre sie | |
stärkste Partei, würde von allen Seiten gewinnen, 25 Prozent einfahren und | |
die AfD doch noch auf Platz zwei verweisen. Die Daten sind übrigens mit | |
äußerster Vorsicht zu genießen. [2][In einer anderen Umfrage] erreicht eine | |
Wagenknecht-Partei bundesweit nur 2 Prozent. | |
## Kein Erfolgsmodell | |
Da werden auch progressive Linke und Linksliberale schwach: Wenn | |
Wagenknecht und ihre Gefährten ein Parteiprojekt starteten, Rechts-Links, | |
populistisch und ressentimentbewirtschaftend, und so die Rechtsextremen | |
kleinhielten – warum nicht? Wenn es denn dem Antifaschismus dient? So wird | |
Wagenknecht zur Projektionsfläche verzweifelter Hoffnungen. | |
Es gibt nicht wirklich internationale Exempel, die einen die | |
Erfolgsaussichten einer solchen Partei beurteilen lassen. Sie wäre | |
ökonomisch links, würde die Schutzfunktion des Staates für die „kleinen | |
Leute“ betonen, auf linkspopulistische Art „die da unten“ gegen „die | |
Eliten“ stellen. Die Wohlfahrtsstaats-Orientierung hätte starke Elemente | |
eines „Wohlfahrtschauvinismus“ (Geld für „unsere deutschen Rentner“ st… | |
für Flüchtlinge), und in allen gesellschaftspolitischen Fragen würde sie | |
stark auf Kulturkämpfe setzen – und zwar auf der rechten, konservativen | |
Seite der Barrikade. Gegen Gendern, für die „normale Familie“, gegen das | |
Lesben-Schwulen-Regenbogen-Klimbim, gegen Öko und „Klimahysterie“. | |
Faktum ist jedenfalls: Üblicherweise gewinnen linke Parteien mit so einem | |
Programm nicht. Sozialdemokratien sind heute eher dann erfolgreich, wenn | |
sie ökonomisch akzentuiert nach links gehen und gesellschaftspolitisch | |
moderat linksliberal sind. Radikalere Linksparteien wie Syriza oder Podemos | |
waren in gesellschaftspolitischen Fragen nicht reaktionär, sondern ziemlich | |
progressiv (Syriza) oder sehr progressiv (Podemos). Auch die Kommunistische | |
Partei Österreichs, die in Salzburg unlängst 11 Prozent erreichte, ist | |
primär eine sozialpolitische, linke „Kümmererpartei“, und in | |
gesellschaftspolitischen Fragen maßvoll progressiv, also so etwas wie | |
„gesellschaftsliberal mit Hausverstand“. Ihre Botschaft ist: Man | |
diskriminiert keine Menschen. Inländer gegen Migranten auszuspielen, käme | |
den dortigen Spitzenleuten nicht in den Sinn. Das einzige erfolgreiche | |
Beispiel für eine Rinks-Lechts-Politik wäre die dänische Sozialdemokratie, | |
die mit ihrer rigorosen Anti-Migrationspolitik das „Ausländerthema“ aus den | |
Wahlkämpfen verdrängte. Man könnte auch noch Robert Ficos SMER-Partei in | |
der Slowakei nennen, die aber korrupt und mafiös und heute | |
rechtsautoritärer als Victor Orbán ist. Nicht das beste Vorbild jedenfalls. | |
Eine Wagenknecht-Partei, die der AfD „moderate“ Rechts-Wähler abjagen | |
wollte, müsste wohl deutlich konservativer sein als die dänischen | |
Sozialdemokraten. Sie müsste, wie Wagenknecht das sowieso längst tut, | |
permanent die große Mehrzahl der Linken diskreditieren („abgehobene | |
Lifestyle-Linke“), würde gegen „skurrile Minderheiten“, gegen Flüchtlin… | |
mobil machen müssen, würde dumpfeste antiwestliche Ressentiments schüren, | |
gegen politische Korrektheit polemisieren. Sie würde die | |
identitätspolitischen Kulturkämpfe und Überbietungswettbewerbe weiter | |
befeuern. Sie wäre eine Protestpartei, die einfach immer „dagegen“ ist – | |
worum es auch gehen mag. | |
## Friedrich Merz von links | |
Wagenknecht wäre dann so eine Art Friedrich Merz von links: Die Debatten | |
würden noch mehr in Felder verschoben, die der AfD günstig sind. Alle | |
Erfahrung zeigt: Wer nach rechts rückt, stärkt nicht die Linke, sondern das | |
allgemeine rechte Klima. | |
Äußerst fraglich ist zudem, ob es überhaupt ein nennenswertes Milieu für | |
solch ein Parteiprojekt gibt. Die Wagenknecht-Strategie geht implizit ja | |
von einer männlichen, weißen Arbeiterklasse aus, die sich nicht mehr | |
repräsentiert fühlt, weil sie ökonomisch links ist, aber in Wertefragen | |
rechts, traditionell und konservativ und die gesellschaftlichen | |
Modernisierungen wütend ablehnt. Das ist eine Art von Proletkult, der von | |
Verachtung des Proletariats kaum mehr zu unterscheiden ist. Das | |
Wählerpotential ist chronisch überschätzt, weil medial eine Art Karikatur | |
des Proletariats kursiert, die real existierenden arbeitenden Klassen aber | |
in jeder Hinsicht einfach vielgesichtiger sind. „Wenn linke Parteien in der | |
Geschichte konservative Arbeiterinnen für sich gewannen, taten sie das | |
nicht, indem sie sich kulturell konservative Programmpunkte aneigneten“, | |
[3][schreibt der Sozialwissenschaftler Carsten Braband im linken Magazin | |
Jacob]in. | |
[4][Vor allem aber: Wer soll das Aktivistenmilieu einer solchen Partei | |
sein]? Linke, die immer schon gerne rechts gewesen wären? Rechte, die immer | |
schon gerne linker gewesen wären? Das Potential der Engagierten einer | |
solchen Partei wäre überschaubar. Dafür ist die Gefahr hoch, alle möglichen | |
Spinner, Schrullis und seltsamen Vögel anzuziehen. Der Zyniker würde sagen: | |
Viel Spaß mit denen beim Parteiaufbau. | |
Teile der 70er-Jahre-Linken, die sich der DKP-ähnlichen Linie von | |
Wagenknecht und Co. näher fühlen als dem moderaten Linksliberalismus von | |
SPD und Grünen und die auch mit dem Diversity-Pathos von Junglinken | |
fremdeln, könnten sehr schnell enttäuscht werden. Die Heterogenität des | |
Wählerpotentials würde einen Spagat erfordern, der kaum zu schaffen ist. | |
Bei Anhängern der Partei Die Linke breitet sich noch eine weitere Hoffnung | |
aus: Wenn Wagenknecht und ihre Anhänger endlich weg sind, könnte die Partei | |
wieder auf die Beine kommen. Der Wagenknecht-Flügel ist isoliert, das | |
permanente Schlechtmachen der eigenen Genossinnen und Genossen und das | |
parteischädigende Verhalten kam selbst bei jenen nicht gut an, die | |
teilweise ihre Positionen teilen. | |
## Wagenknecht weg, Problem weg? | |
Mit Wagenknechts Abgang wäre die Identitätskrise der Partei aber nicht | |
gelöst. Sie besteht aus jungen Basisaktivist*innen in den Städten, | |
aus Bewegungslinken mit ihren je sehr speziellen Hauptanliegen, aus der | |
Reformergeneration der PDS-Ära und aus normalen Sozialdemokraten aus dem | |
kleinstädtischen Bereich. Dazu Gewerkschafterinnen und Rentner in | |
Westdeutschland, die die SPD verlassen haben. Sie ist immer noch | |
Ost-Partei, den Unique Selling Point als Anwalt ostdeutscher Anliegen und | |
Fürsprecher der gekränkten ostdeutschen Seele hat sie aber auch verloren. | |
Wagenknecht weg, Problem weg? Wenn es nur so einfach wäre. | |
„Machen Sie es, Frau Wagenknecht!“, rief Severin Weiland im Spiegel gerade | |
der möglichen, zaudernden Parteiführerin zu. Mit einer neuen Partei könnte | |
sie „der AfD schaden und der Demokratie nutzen“. | |
Es ist natürlich nicht unmöglich. Aber die Wahrscheinlichkeit ist deutlich | |
geringer, als manche hoffen. | |
11 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Krise-der-Linkspartei/!5952542 | |
[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article246541374/Sahra-Wagenknecht-… | |
[3] https://jacobin.de/artikel/wo-liegt-das-potenzial-einer-wagenknecht-partei-… | |
[4] /Rueckzug-der-Links-Fraktionschefin-Ali/!5949208 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
## TAGS | |
Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) | |
Die Linke | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
wochentaz | |
GNS | |
Tag der Arbeit, Tag der Proteste | |
Die Linke | |
Die Linke | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
Die Linke | |
Arbeiterklasse | |
Türkei | |
Die Linke | |
Amira Mohamed Ali | |
Die Linke | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Parteiausschlussantrag gegen Wagenknecht: „Es braucht jetzt eine Klärung“ | |
Die Bremer Fraktionschefin Sofia Leonidakis hat den Ausschluss von Sahra | |
Wagenknecht beantragt. Mehr als 50 Linke stehen hinter der Forderung. | |
Absetzbewegungen von der Linkspartei: Linken-Katharsis in Bochum | |
Nach dem Austritt von Wagenknechtanhängerinnen gibt es in der | |
Ruhrgebietsstadt keine Linksfraktion mehr. Das hat wohl auch profane | |
finanzielle Gründe. | |
Durchlauferhitzer für die AfD: Der berühmte Elefant im Raum | |
„Früher“ war es anders, die Gegenwart macht vielen Angst. In manchen | |
Gesprächen steht dabei gleich die AfD als brauner Elefant breitbeinig im | |
Raum. | |
Sahra Wagenkecht und die Linkspartei: Kurz vor dem Absprung | |
Sahra Wagenknecht hat die Linkspartei abgeschrieben und plant die Gründung | |
einer neuen Partei. Fragen und Antworten zu einem Trennungsprozess. | |
Pläne für neue Partei von Wagenknecht: Gründet euch endlich! | |
Die Linkspartei ist in der Krise. Doch was zählt, ist die Auszehrung der | |
AfD – und die gelingt nur mit einer Parteineugründung durch den Flügel um | |
Sahra Wagenknecht. | |
Bundestagsabgeordnete festgenommen: Kurzhaft in der Türkei | |
Gökay Akbulut (Linke) wollte ihre Familie besuchen, stattdessen kommt sie | |
fast vor einen Haftrichter. Ihren Urlaub verbringt sie im Nachbarland. | |
Zukunft der Linkspartei: Das Charisma-Problem | |
Brauchen wir die Linkspartei? Und wenn ja, wie viele? Eine | |
Wagenknecht-Partei wäre für die Bundesrepublik jedenfalls etwas | |
revolutionär Neues. | |
Krise der Linkspartei: Vorstand erwägt Konvent | |
Linkenchefin Janine Wissler greift den Vorschlag eines Abgeordneten für | |
einen Konvent auf. Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch warnt vor dem Ende der | |
Fraktion. | |
Rückzug der Links-Fraktionschefin Ali: Wie eine kaputte Ehe | |
Sahra Wagenknecht zögert bei der Gründung einer neuen populistischen | |
Partei. Die Zeit dafür ist eigentlich günstig. Doch etwas Entscheidendes | |
fehlt. |