# taz.de -- Konfliktort Eisenhüttenstadt: Es war einmal die Zukunft | |
> Eisenhüttenstadt war mal DDR-Utopie. Heute dominiert der Frust über ein | |
> Asylbewerberheim. Die Stadt radikalisiert sich. | |
Bild: Die Bewohner der zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) leben … | |
„Die Asylbewerber klauen im Marktkauf und keiner unternimmt etwas dagegen.“ | |
Es scheint, als ob jeder, wirklich jeder, mit dem man in Eisenhüttenstadt | |
spricht, einem früher oder später diese Geschichte erzählt. Sie ist einfach | |
und schnell erzählt, aber so stark, dass sie die Eisenhüttenstädter nicht | |
loslässt. Aus „Klauen“ kann auch „Eigentumsdelikt“ werden wie im Fall … | |
AfD-Direktkandidaten des Wahlkreises Oder-Spree II, Wilfried Selenz. | |
Aus „Asylbewerbern“ können auch „Bettelziegen“, „Schmarotzer“, | |
„Zoobewohner“ und „Neger“ werden, wenn der Admin der „Bürgerwehr | |
Eisenhüttenstadt“ auf seiner Facebookseite die Frage stellt: „Kennt jemand | |
die genaue Zahl von den Asylbewerbern die sich momentan in Eisenhüttenstadt | |
aufhalten ???“. Der Tankwart, die Kinder auf dem Spielplatz, der | |
Kfz-Mechaniker, sie alle erzählen die Geschichte vom Marktkauf, dem | |
Supermarkt, dem großen gelben Kasten am Stadtrand. | |
Die Filialleiterin sagt: „Weniger ist es nicht geworden.“ Zahlen und | |
Menschen, alle versuchen „die Wahrheit“ darzustellen. Doch laut Statistik | |
gibt es keinen Anstieg der Fallzahlen, was Diebstähle im Marktkauf | |
betrifft. Die Eisenhüttenstädter glauben, sie dürften ihre Wahrheit nicht | |
sagen. Bei den Brandenburger Landtagswahlen im September wählten viele von | |
ihnen die AfD. Sie warb mit dem sehr simplen Leitspruch: „Mut zur | |
Wahrheit“. Hier in Oder-Spree II erlangte die AfD ihr höchstes Ergebnis: | |
21,3 Prozent. | |
Die Wahrheit ist schwer zu finden in Eisenhüttenstadt, so wie an jedem | |
anderen Ort der Welt. Sie ist sicher keine Freakshow, die frustrierte Nazis | |
in Ostdeutschland zeigt, kein Soziogramm kleingeistiger Kleinstädter, das | |
jeder zu kennen glaubt. Wahr scheint aber, dass sich die Bewohner dieser | |
Gegend, und vor allem die Einwohner Eisenhüttenstadts, von der Politik | |
unverstanden fühlen und vielleicht auch betrogen. Eisenhüttenstadt ist ein | |
Versprechen, das nicht gehalten wurde. Die Stimmung, wenn Vorfreude zu | |
lange gedauert hat und dann vergessen wurde. Auf der Suche nach der | |
Wahrheit radikalisiert sich die Stadt. | |
## Die Statistik nennt es „Sterbeüberschuss“ | |
Eisenhüttenstadt war die erste sozialistische Stadt der DDR, eine Utopie. | |
Hier wurde in die Zukunft gebaut. So aufrichtig, dass man lange nicht daran | |
dachte, dass zu einer Stadt auch ein Friedhof gehört. 1950 begann der Bau | |
des Eisenhüttenkombinats Ost, kurz EKO. Das Stahlwerk mit seinen sechs | |
Hochöfen lockte junge Männer und Frauen in die Wohnstadt, die um das | |
Stahlwerk herum geplant wurde. Arbeiter für die Arbeiterstadt, die sich bis | |
1961 Stalinstadt nannte. Ausgewählt wurden Menschen, die sich für den | |
Sozialismus begeisterten, die konform waren. Sie leben noch immer in | |
Eisenhüttenstadt, zusammen mit ihren Kindern und Enkeln. Wenn die nicht | |
weggezogen sind. | |
Heute ist nur noch ein Hochofen in Betrieb, er gehört dem größten | |
Stahlkonzern der Welt: ArcelorMittal. Einst arbeiteten dort 12.000 | |
Menschen, jetzt sind es rund 2.000. Die Stadt wird von ihren Bewohnern im | |
Niedergang begriffen: Überalterung, Rückbau, Arbeitslosigkeit und das, was | |
die Statistik „Sterbeüberschuss“ nennt. Die Einwohnerzahl hat sich seit den | |
1990er Jahren halbiert auf etwa 25.000. Wenn die Stadt Einwohner verliert, | |
wird auch das Geld gekürzt. | |
Zu den Einwohnern Eisenhüttenstadts werden auch die Bewohner der zentralen | |
Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) gezählt. Alle Flüchtlinge, die in | |
Brandenburg ankommen, müssen hierher, bevor sie auf andere Heime verteilt | |
werden oder in Abschiebehaft kommen. Sie leben eingeengt, von Nato-Zaun | |
umgeben. ZASt klingt nicht umsonst wie Knast. Das Heim liegt am Stadtrand, | |
nur wenige Minuten vom Marktkauf entfernt. Der Weg ist hoch frequentiert: | |
Frauen mit Kopftüchern tragen Einkaufstüten nach Hause, ein Vater und sein | |
Sohn brechen auf, um Couscous zu kaufen. | |
## „Die sehen sich ja nur im Supermarkt“ | |
Also muss es auch andere Geschichten über diesen Supermarkt geben. Welche, | |
nach denen selten gefragt wird. Es gibt sie, ein junger Mann aus Kamerun, | |
der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, erzählt sie. Die erste | |
ist: Selbstverständlich gehen wir hier einkaufen, der Marktkauf ist so nah. | |
Die zweite: Es ist so langweilig hier. Wenn wir nicht wissen, wohin, gehen | |
wir zum Marktkauf. Und schließlich die dritte: Uns wurde gesagt, im Zentrum | |
gibt es viele Nazis. Also bleiben wir hier. | |
Im Marktkauf treffen Geschichten aufeinander. Die von Flucht und | |
Vertreibung, von Langeweile, von Misstrauen und Neid, die vom | |
unvergleichbaren Alltag der anderen und von der Politik, die nichts für die | |
Menschen tut. „Der Marktkauf ist die einzige Schnittstelle zwischen den | |
Asylbewerbern und den Eisenhüttenstädtern. Die sehen sich ja nur im | |
Supermarkt“, sagt der Stadtsoziologe Ben Kaden, ein Eisenhüttenstädter, der | |
inzwischen in Berlin wohnt. Er betreibt seit vielen Jahren ein Blog und | |
schreibt dort unregelmäßig über seinen Heimatort. Der große gelbe Kasten | |
namens Marktkauf, der mit seinen viel zu vielen Parkplätzen so unbedeutend | |
aussieht, ist ein Ort des Konflikts. | |
Die Geschichte, die die Eisenhüttenstädter erzählen, besteht nicht nur aus | |
dem einen Teil – die Asylbewerber klauen im Marktkauf –, sondern auch aus | |
einem zweiten: Keiner tut etwas dagegen. Um den zweiten Teil will sich | |
Wilfried Selenz kümmern, der Direktkandidat der AfD im Landkreis Oder-Spree | |
II, zu dem auch Eisenhüttenstadt gehört. „Schwierig wird es, wenn ein | |
Asylant gut gekleidet mit zwei Handys nach außen tritt“, sagt Selenz. „Da | |
ist doch Überfluss da.“ | |
Selenz wohnt in Mixdorf und arbeitet in Müllrose, etwa 20 Kilometer von | |
Eisenhüttenstadt entfernt. Der 53-Jährige leitet das Gut Zeisigberg, eine | |
idyllische Sozialeinrichtung für Senioren und Kinder. 18,5 Prozent der | |
Erststimmen in seinem Wahlkreis gingen an ihn. Wie seine Partei will Selenz | |
vor allem pragmatisch sein. Die Asylpolitik sei nicht seine Thematik, sagt | |
er, aber er verstehe die Sorgen der Eisenhüttenstädter: „Sie fragen sich, | |
ob die Gastfreundschaft nicht missbraucht wird.“ | |
## Die neue Bürgerwehr: keine „Maulkorbträger“ | |
Die direkte Demokratie, das unmittelbare Zuhören, ist ihm das Wichtigste. | |
Er will keine Denkverbote, sondern eine Politik des gesunden | |
Menschenverstandes. Was das sein soll, wissen die Bürger selbst, man muss | |
sie nur mitreden lassen. Selenz, rundes Gesicht, eine tiefe Falte zwischen | |
den Brauen, gibt eine Führung auf dem Gelände des Guts. Hirsche, | |
Wildschweine, schönster Brandenburger Wald. „Wenn Menschen sich | |
vernachlässigt fühlen, wählen sie Randparteien. Alle haben die AfD | |
unterschätzt.“ | |
Keiner tut etwas – aus diesem Gedanken heraus gründete sich auch die | |
Bürgerwehr Eisenhüttenstadt. Bis vor Kurzem patrouillierte eine Gruppe von | |
fünf bis zehn Männer nachts, um die Stadt vor Dieben zu schützen. Ihnen | |
ging es vor allem um die organisierte Kriminalität, die ein Problem in der | |
Region an der polnischen Grenze ist. Gegen die Asylbewerber könnten sie als | |
Bürgerwehr nichts ausrichten, die seien nun mal da, sagten die beiden | |
Organisatoren der Gruppe, Benjamin Rudolph und Sebastian Knof. | |
Nach einem [1][Artikel in der taz] wurde ihnen auf Facebook vorgeworfen, | |
die Wahrheit nicht ausgesprochen zu haben. Sie sollten doch gleich | |
Wahlkampf für die SPD machen. Keiner der rund 600 Mitglieder der | |
Facebook-Gruppe hat sie verteidigt, dann sind sie rausgeflogen. Jetzt wird | |
die Gruppe von zwei jungen Männer geführt, die keine „Maulkorbträger“ se… | |
wollen. Der eine trägt „Final Solution“ – Endlösung – auf seinem Rüc… | |
tätowiert, der andere meint, eine gute Frage für gute Journalisten ist: | |
„Wie lange muss Deutschland noch bluten?“ Das sagt ihm sein gesunder | |
Menschenverstand. | |
Auf Facebook wird die kurze Geschichte vom Marktkauf ausgeführt. „Ich | |
musste früher Sternburg trinken die saufen teures Bier und weil sie so Arm | |
sind pissen sie überall hin vor Traurigkeit“, schreibt „Don Szett“, ein | |
Organisator der neuen Bürgerwehrgruppe. Wenn sie betrunken sind, müssten | |
sie „schnell eine weiße vergewaltigen um rein zu werden“. | |
„Es fehlt der Aufbruchsgeist“, sagt der Stadtsoziologe Kaden. „Der | |
Unterschied zu der Zeit vor 1990 ist, dass es nichts gibt, worauf die | |
Eisenhüttenstädter hinarbeiten können.“ Sie wollen Ruhe und Ordnung, die | |
Deutungshoheit über eine Geschichte. Und sie wollen nichts abgeben müssen – | |
so wie in jeder Kleinstadt. Aber die Eisenhüttenstädter wollen nicht nur | |
nichts abgeben, sie wollen etwas zurück: eine einfache Wahrheit und einen | |
organisierten Traum, in dem sie geführt werden, und zwar in eine gute Welt. | |
Ihr Traum ist nie ersetzt worden und im Marktkauf finden sie keinen neuen. | |
16 Oct 2014 | |
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## AUTOREN | |
Viktoria Morasch | |
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