| # taz.de -- Auf und ab in Eisenhüttenstadt: Die Stunde der Wahrheit | |
| > Über die Hälfte der Bevölkerung hat die Stahlstadt seit der Wende | |
| > verloren. Den Wandel der Stadt beleuchtet nun die Ausstellung „Ohne Ende | |
| > Anfang“. | |
| Bild: Die erste Selbstbedienungskaufhalle der DDR von 1960 ist heute ein Ausste… | |
| Eisenhüttenstadt taz | „Von meiner Abschlussklasse sind noch zwei, drei | |
| Leute übrig“, erzählt Thomas Zimmermann, heute 41 Jahre alt, an einer | |
| Hörstation. „So um 2000 war der Punkt gekommen: Gehst du oder bleibst du | |
| und machst als Letzter das Licht aus?“ | |
| Das Licht ausmachen in einer Stadt, in der es erst vor 70 Jahren angegangen | |
| war? Weggehen von dort, wohin alle einmal gekommen waren, in eine Stadt, in | |
| der alles so nach Anfang schmeckte, mit einer Zukunft, die sich nie | |
| verbrauchen würde: [1][Eisenhüttenstadt, dieses utopische Versprechen der | |
| DDR]. | |
| Auf den Fotos und Plänen, die die Ausstellung [2][„Ohne Ende Anfang. Zur | |
| Transformation der sozialistischen Stadt“] vom 4. Juli an im „Museum Utopie | |
| und Alltag“ in Eisenhüttenstadt zeigt, ist viel von diesem Aufbruch zu | |
| spüren. Eines der eindrucksvollsten Objekte ist das Modell eines Eckhauses | |
| im Wohnkomplex II, jenem Teil der Planstadt, der errichtet wurde, nachdem | |
| Ulbricht die schlichten Zeilenbauten im ersten Wohnkomplex kritisiert | |
| hatte. „Diese Architektur kennen wir von der Stalinallee in Berlin“, sagt | |
| Axel Drieschner, der Kurator der Ausstellung. „Der Anfang war fulminant.“ | |
| Und heute? Keine Euphorie, nirgends. „An die Stelle des Aufbaus tritt der | |
| Abriss“, heißt es auf der Texttafel im letzten der sechs Ausstellungsräume. | |
| „Der Verlust positiver Images trägt bis heute zu einer verunsicherten bis | |
| resignativen Grundstimmung in der Stadt bei.“ | |
| ## Die Hälfte ist weg | |
| Statt „Ohne Ende Anfang“ also der Anfang vom bitteren Ende? „Zur Wende | |
| hatte Eisenhüttenstadt 50.000 Einwohner, heute sind es unter 25.000“, sagt | |
| Florentine Nadolni, die Leiterin des Museums Utopie und Alltag, beim | |
| Presserundgang am Donnerstag. Mehr als die Hälfte der Lichter sind also | |
| schon ausgegangen. | |
| Bis 2030 soll die Stadt weitere 4.000 Menschen verlieren, heißt es in einer | |
| Bevölkerungsprognose. Anders als das ebenfalls als sozialistische Stadt | |
| errichtete Nowa Huta, das von der Nähe zu Krakau profitiert, und auch | |
| anders als Schwedt, das den Bevölkerungsschwund stoppen konnte, geht der | |
| Aderlass in Eisenhüttenstadt weiter. | |
| Es ist nicht so, dass die Stadt nicht darauf reagiert hätte. Die | |
| Wohnkomplexe I–IV aus den Jahren 1950 bis 1961 sind vorbildlich saniert, | |
| die in Plattenbauweise errichteten Wohnkomplexe der siebziger und achtziger | |
| Jahre weitgehend abgerissen. | |
| Eisenhüttenstadt konzentriert sich auf seinen Gründungsmythos und hat dafür | |
| auch den [3][Deutschen Städtebaupreis 2018] bekommen. Man kann die | |
| Operationen am Weichbild der Stadt wunderbar nachvollziehen auf einen | |
| großflächigen Plan, auf dem die Bestandsgebäude schwarz, die abgerissenen | |
| rot markiert sind. | |
| Aber Schrumpfen bedeutet nicht automatisch Gesundschrumpfen. Das größte | |
| Flächendenkmal Deutschlands fasziniert Architekten und Touristen aus aller | |
| Welt, hält aber niemanden in der Stadt. „Vor allem die Jungen ziehen weg“, | |
| bestätigt Nadolni. „Man findet heute kaum noch eine Familie, die in dritter | |
| Generation in Eisenhüttenstadt lebt.“ | |
| Von einer „Stunde der Wahrheit“ spricht der Architekturkritiker Wolfgang | |
| Kil im Editorial einer achtseitigen Zeitung, die als Extrablatt zur | |
| Ausstellung erschienen ist. Kil spricht an, was in Eisenhüttenstadt als | |
| „heißes Eisen“ gilt und nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wird. | |
| Was ist, wenn nicht nur die Stadt weiter schrumpft, sondern irgendwann auch | |
| das Stahlwerk schließt? Dreitausend Menschen arbeiten heute bei | |
| ArcelorMittal Eisenhüttenstadt, darauf sind sie stolz, auch weil der | |
| ehemalige Generaldirektor das „Eisenhüttenkombinat Ost“ (EKO) erfolgreich | |
| in die Marktwirtschaft geführt hat. „Aber wenn die Symbiosen zwischen Werk | |
| und Stadt derart eng sind – was geschieht, wenn die Gesellschaft sich | |
| ändert, die ökonomischen Verhältnisse, die Produktionsweisen, die Rolle der | |
| Arbeit generell?“ | |
| Das Schicksal einer sozialistischen Stadt, ist Kil überzeugt, „wird sich | |
| also nicht am Formenreichtum ihrer Architektur entscheiden, sondern daran, | |
| wie unsere Gesellschaft als Ganzes den anstehenden Epochenwandel | |
| bewältigt“. Zu diesem Wandel gehört auch die Umstellung der | |
| Stahlproduktion. Grüner Stahl ist in aller Munde, doch die Umstellung ist | |
| teuer, so teuer, dass ArcelorMittal Poland im vergangenen Jahr den Hochofen | |
| in Nowa Huta geschlossen hat. Was in Nowa Huta durch die Symbiose mit | |
| Krakau kompensiert werden konnte, wäre für Eisenhüttenstadt die nächste | |
| Hiobsbotschaft. | |
| ## Die Zukunft als Blackbox | |
| Doch der Epochenwandel in der Region ist längst im Gange. In der | |
| Tesla-Fabrik in Grünheide sollen einmal so viele Menschen arbeiten wie | |
| einst im EKO – ohne dass dafür eigens eine Werksstadt gebaut wird. Schon | |
| heute bemüht sich der Oberbürgermeister von Eisenhüttenstadt um die neuen | |
| Arbeitskräfte von Tesla, wirbt mit dem vielen Grün in den Höfen, den | |
| großzügigen Wohnungen, der städtischen Umgebung. | |
| Oder soll „Hüttenstadt“ Filmstadt werden oder Gesundheitsstadt? | |
| Museumsleiterin Nadolni und Kurator Drieschner haben im letzten Raum der | |
| Ausstellung eine Art „Wünsch dir was“ inszeniert. Nicht nur Ideen für den | |
| Zentralen Platz, der seit der Gründung der Stadt noch immer leer ist und | |
| heute als Parkplatz dient, können dort eingebracht werden, sondern auch die | |
| Wünsche an die Zukunft. | |
| Einer könnte lauten, dass der Epochenwandel in Eisenhüttenstadt auch mit | |
| den Geldern für den Strukturwandel der Lausitz unterstützt werden muss. Die | |
| Stadt steht auf historischem Gebiet der Niederlausitz, es gibt keinen | |
| Grund, warum das berlinnahe Wildau die Gründung einer [4][Außenstelle des | |
| Robert-Koch-Instituts] finanziert bekommt, aber die „Transformation der | |
| sozialistischen Stadt“ alleine Thema eines Museums sein sollte. | |
| Und das Stahlwerk? In der Hörstation heißt es: „Das ist so ein Geist, der | |
| über der Stadt schwebt: Die Stadt macht das Leben abhängig vom Werk, obwohl | |
| ich meine, dass die Stadt das Werk gar nicht braucht. Die hat eine eigene | |
| Identität.“ | |
| 3 Jul 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /70-Jahre-Eisenhuettenstadt/!5702360 | |
| [2] https://www.utopieundalltag.de/ohne-ende-anfang-zur-transformation-der-sozi… | |
| [3] https://staedtebaupreis.de/wp-content/uploads/2018/09/14-B-SP-Eisenh%C3%BCt… | |
| [4] https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/2021/03/rki-corona-wildau-for… | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Rada | |
| ## TAGS | |
| Eisenhüttenstadt | |
| Schrumpfung | |
| Stahlindustrie | |
| Brandenburg | |
| Lausitz | |
| Brandenburg | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Schwerpunkt AfD | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Podcast über Eisenhüttenstadt: Sie ist ein Modell | |
| Für einen Podcast kehrt der Performer Friedrich Liechtenstein in seine alte | |
| Heimat zurück. Das wirft ein neues Licht auf diesen utopischen Ort. | |
| Die Innovationsachse Berlin–Lausitz: Die Achse des Bauens | |
| Von Berlin über den Spreewald nach Cottbus: Was der Strukturwandel der | |
| Braunkohleregion mit dem Wissenschaftsstandort Berlin zu tun hat. | |
| Wohnen in Brandenburg: Noch kein Tesla-Effekt | |
| Bei Mieten und Wohnungsleerstand geht die Schere zwischen Speckgürtel und | |
| Peripherie in Brandenburg weiter auseinander. | |
| 70 Jahre Eisenhüttenstadt: Wo der Stahl brüchig wird | |
| Stalinstadt war bei der Gründung ihr Name. Heute gilt Eisenhüttenstadt als | |
| vorbildlich saniert – und trotzdem ergreifen die Einwohner die Flucht. | |
| Konfliktort Eisenhüttenstadt: Es war einmal die Zukunft | |
| Eisenhüttenstadt war mal DDR-Utopie. Heute dominiert der Frust über ein | |
| Asylbewerberheim. Die Stadt radikalisiert sich. |