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# taz.de -- Kollektive Arbeit: Sozialismus ohne Klassenkampf
> Auf dem Wohnungsmarkt, in der Landwirtschaft, im Netz: überall
> Kollektive. Wie daran gearbeitet wird, den Kapitalismus zu überwinden.
Bild: Markus Poland (links) und Juliette Lahaine (rechts) gründeten eine Solid…
Berlin/Klein Trebbow taz | Ein Innenhof, umsäumt von Backsteinbauten. Man
hört Vogelgezwitscher, der Lärm Berlins scheint hier verbannt, dabei
donnert die U-Bahn, oberirdisch, nur ein paar Meter entfernt die
Schönhauser Allee entlang. Die Bremer Höhe, ein historisches
Gebäudeensemble im Bezirk Prenzlauer Berg, ist das, wovon viele Großstädter
träumen: sanierter Altbau, idyllisch und doch zentral. Und bezahlbar. Die
Kaltmiete pro Quadratmeter liegt unter 6 Euro.
Ulf Heitmann blickt aus seinem Bürofenster in den Innenhof und sagt: „All
das würde heute längst einem Immobilienkonzern gehören.“
Heitmann, ein nüchterner Jurist, und ein paar MitstreiterInnen bekamen 1999
Wind davon, dass Berlin den Gebäudekomplex mit ein paar Hundert Wohnungen
verkaufen wollte. Sie gründeten eine Genossenschaft und kauften die Bremer
Höhe. Hätte damals die Deutsche Wohnen oder ein anderer Konzern zugegriffen
– die Wohnungen wären wohl längst Eigentum von Gutverdienern, oder die
Mieter müssten ein Vielfaches zahlen.
Im Zentrum der Hauptstadt zu wohnen, zumal in angesagten Vierteln wie
Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, ist für die Mittelschicht, für LehrerInnen,
Angestellte oder Krankenpfleger, kaum mehr möglich. In manchen Quartieren
in Berlin-Mitte geben Mieter 48 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus.
Die soziale Mischung verschwindet. Wer wenig Geld hat, wird an die
Peripherie verdrängt.
Wer in der Bremer Höhe leben will, braucht einen Wohnberechtigungsschein,
das heißt, er muss ein geringes Einkommen nachweisen können. Wie lange
müsste eine Familie mit zwei Kindern heute warten, um hier eine Wohnung zu
bekommen? Heitmann schüttelt den Kopf. „Es wird mal eine Einraumwohnung im
Erdgeschoss frei. Ansonsten keine Chance.“
12 Prozent der Wohnungen in Berlin sind genossenschaftlich, zusammen mit
den kommunalen Gesellschaften ist ein knappes Drittel der Eigentümer also
nicht auf Rendite aus. Ohne Genossenschaften wäre der Wohnungsmarkt in der
Hauptstadt noch irrer.
## Das Vertrauen in die Marktwirtschaft schwindet
Die Preise sind explodiert, weil Berlin jedes Jahr um knapp 40.000 Menschen
wächst: Mehr Nachfrage – die Marktlogik treibt die Mieten in die Höhe. Noch
gravierender: Global ist, auch wegen der niedrigen Zinsen, extrem viel
Kapital auf der Suche nach Anlagen. „Wir wirken als Mietpreisbremse“, sagt
Heitmann. Manchmal, erzählt er, kommen Regierungsdelegationen aus Asien,
Israel und Osteuropa in die Bremer Höhe und lassen sich erklären, wie die
Genossenschaft funktioniert: ohne Profitstreben. „Minister aus Osteuropa
halten Genossenschaften eher für ein Überbleibsel des Kommunismus.“
Das Thema Eigentum, vor 15 Jahren noch etwas für Altlinke, ist wieder
aktuell. Rot-Rot-Grün hat in Berlin einen Mietenstopp für fünf Jahre
angeordnet. Eine Basisinitiative will per Volksentscheid gleich alle großen
Wohnungsbaugesellschaften enteignen.
Ist der Kapitalismus nicht in der Lage, das elementare Bedürfnis nach
Wohnen zu befriedigen? Brauchen wir nicht ohnehin längst ein anderes
Wirtschaftssystem?
Eine Allensbach-Umfrage vom Januar 2019 ergab, dass das Vertrauen in die
Marktwirtschaft schwindet. Auch im Digitalen scheinen die Märkte nicht zu
funktionieren: Datenkonzerne wie Google und Facebook sind faktisch
konkurrenzlos. In der Landwirtschaft hinterlässt die Ideologie des
Immer-mehr kaputte Böden und Tiere.
Ulf Heitmann ist skeptisch, was Enteignung auf dem Wohnungsmarkt betrifft.
Sie wäre zu teuer. Allein die Deutsche Wohnen zu entschädigen würde bis zu
36 Milliarden Euro kosten. Auch der generelle Mietenstopp überzeugt ihn
nicht. Beim Treffen Mitte Juni liegen in seinem Büro ein paar Hundert
Briefe – Mieterhöhungsbegehren, die er noch verschicken will, bevor der
Mietenstopp gilt. Die Mieten in der Bremer Höhe sollen von 5,50 auf 5,65
Euro steigen – das Geld braucht die Genossenschaft, um die Gebäude in
Schuss zu halten.
Der Erfolg des Mietenstopps, der für fünf Jahre gelten soll, wird auch
davon abhängen, ob es Rot-Rot-Grün gelingt, Mieten einzufrieren, ohne
Genossenschaften ungewollt in den Ruin zu treiben. Das zeigt, wie schwierig
es ist, entfesselte Märkte wieder zu bändigen.
## Ohne radikale Lösungen geht es nicht
Im Mai hat ein Interview des Juso-Chefs Kevin Kühnert für Aufregung
gesorgt. Einige Jahre zuvor wäre Kühnerts Idee, BMW zu verstaatlichen, wohl
kaum wahrgenommen worden. Doch seit die Mieten in den Metropolen
explodieren, ist auch die Mittelschicht empfänglich für radikalere Ideen.
„Die Debatte über Alternativen zum Kapitalismus wäre ohnehin gekommen“,
sagt Annika Klose in einem Café im Berliner Wedding. Auf dem T-Shirt der
Berliner Juso-Chefin steht „A strong woman never gives up“.
Klose spricht durchdacht, präzise. Die höhnische Kritik von FDP, CSU und
auch Sozialdemokraten wie Peer Steinbrück kümmert sie nicht. „Es ist nicht
die Aufgabe einer linken Partei, Konservativen und Marktliberalen zu
gefallen“, sagt sie. Klar müsse man begreifen, dass es „negative
Erfahrungen mit den Alternativkonzepten zum Kapitalismus“ gibt. Aber mit
dem gescheiterten autoritären Sozialismus à la DDR habe man nichts gemein.
Klose glaubt: Unangenehme Wahrheiten hörten die Menschen immer noch lieber
als die Lüge, dass alles in Ordnung sei. Und eine unangenehme Wahrheit
laute eben: Ohne radikale Lösungen geht es nicht.
Klose findet, dass Genossenschaften „Freiräume im Kapitalismus“ schaffen.
Aber auch, dass das nicht reicht. Die Jusos arbeiten deshalb an dem
„Projekt Sozialismus“, sie suchen nach Ideen, die über die kapitalistische
Logik hinausweisen, und erkunden, das ist der Anspruch, wie der
demokratische Sozialismus 2019 aussehen könnte.
„Unser Ansatzpunkt ist die Demokratisierung aller Lebensbereiche, allen
voran der Wirtschaft“, sagt Klose. Und: „Wir als Gesellschaft sollten
demokratisch entscheiden dürfen, wie wir unsere ökologischen Ressourcen
einsetzen.“
Die Jusos wollen den Kapitalismus überwinden. Ein Hirngespinst? Sollte
Kevin Kühnert als SPD-Vorsitzender kandidieren, bekäme das Projekt einen
ganz neuen Stellenwert. „Kevin steht voll dahinter“, sagt Klose.
## Funktionieren Kollektive in allen Branchen?
Nicht nur innerhalb der Parteien, überall in der Gesellschaft stellt man
sich alte Fragen: Wie viel Kollektiv brauchen wir? Wie funktioniert
Gemeinsinn in einer individualisierten Gesellschaft? Eine neue Frage kommt
hinzu: Bietet die digitale Revolution die Chance, den Kapitalismus durch
eine gerechtere Wirtschaftsform zu ersetzen?
Der Soziologe Heinz Bude sagt: „Viele 20- bis 40-Jährigen haben erkannt,
dass der Neoliberalismus eine existenzielle Lüge ist.“ Weil er die Illusion
schüre, dass der Einzelne allein am stärksten sei. Bude hat kürzlich einen
Essay über Solidarität verfasst und meist ein feines Gespür für politische
Wetterwechsel. Was, glaubt er, kommt nun?
„Die vergessene Solidarität kehrt als Monster in Form des Rechtspopulismus
wieder. Die Idee, eine Schutzgemeinschaft zu bilden und füreinander
einzustehen, wird von rechts besser gespielt als von links. Gegen dieses
perverse Auftauchen der Solidarität braucht die Linke einen existenziellen
anspruchsvollen Begriff von Solidarität.“
Bude glaubt auch: „Es gibt bei den Millennials die Fähigkeit, den
Sozialismus zu denken.“ Allerdings einen, der nicht viel mit dem
Klassenkampf früherer Zeiten zu tun hat. „Die kompakte
Arbeitnehmergesellschaft der Nachkriegszeit hat einer Gesellschaft der
empfindsamen Selbstverwirklicher Platz gemacht, die nur noch sehr lose
miteinander verbunden sind. Deshalb ist Solidarität nur durch das Nadelöhr
des Ichs zu gewinnen.“ Zum Beispiel mit Genossenschaften – dem freiwilligen
Zusammenschluss von Einzelnen zum Kollektiv.
Tatsächlich sind Genossenschaften durchaus kraftvolle Alternativen zum –
oder genauer im Kapitalismus. Der Bankensektor ist zu einem Drittel in den
Händen von Genossenschaften. Sparkassen und Raiffeisenbanken und die
Dachorganisation DZ-Bank haben die Finanzcrashs besser überstanden als die
private Konkurrenz. Zudem existieren in Deutschland 2 Millionen
Genossenschaftswohnungen. Die taz ist eine Genossenschaft. Warum gibt es
dieses Modell nicht in allen Branchen?
Sven Giegold, früher Attac-Sprecher und seit Langem grüner EU-Abgeordneter,
sagt: „Genossenschaften sind weniger innovativ.“ In Genossenschaften gibt
es keine Unternehmer und Arbeitnehmer, keine strikte Trennung von Kapital
und Arbeit. Daher schlage das Bedürfnis der Arbeitenden nach Stabilität
stärker durch – und das bremse das Gewinnstreben.
## Zweifel an den Grundlagen: Eigentum und Markt
Genossenschaften seien deshalb in der Geschichte „in Branchen mit hohem
Innovationsbedarf fast immer von der Konkurrenz vom Markt verdrängt
worden“. Ausnahmen bestätigen die Regel: Zu der spanischen
Megagenossenschaft Mondragón Corporación Cooperativa, bei der 75.000
Beschäftigte arbeiten, gehören auch Maschinenbau und Automobilindustrie.
Auf dem Wohnungsmarkt könne man „genossenschaftlich effektiv wirtschaften“,
sagt Giegold, weil in der Branche eben nur eine große Innovation – der Bau
– anfalle. Sein Fazit: „Wenn BMW und die anderen Autokonzerne
Genossenschaften wären, würden die Elektroautos der Zukunft nicht in
Deutschland produziert. Privatkapitalistische Unternehmen, die um die beste
Innovation ringen, plus staatliche Rahmensetzung sind das stärkere Modell.“
Vielen denken radikaler und stellen die Grundlagen des Kapitalismus
infrage: Eigentum und Markt.
Fast zwei Stunden braucht man für die 100 Kilometer von Berlin nach Klein
Trebbow. Der Weg führt durch Dörfer, in denen Tempolimit 30 gilt. Oft fährt
man hinter Traktoren. Dann ist da ein See, hingetupft wie ein blaugrauer
Fleck auf einem grünen Gemälde. Juliette Lahaine hat hier mit Markus Poland
vor anderthalb Jahren eine Solidarische Landwirtschaft gegründet.
Poland hat konventionelle Landwirtschaft studiert und den kleinen Betrieb
seines Vaters ausgebaut. Er hielt Rinder, Schweine, Schafe und Hühner,
pachtete Land, produzierte Milch, Fleisch, Käse. Und stand dann vor der
Entscheidung, vor der so viele Bauern irgendwann stehen: „Ich hätte mich
spezialisieren müssen, um am Markt zu bestehen“, sagt er. „Die Vielfalt,
die ich an meinem Beruf liebe, hätte ich damit verloren.“ Juliette Lahaine
arbeitete anfangs als konventionelle Obstgärtnerin. „Ich habe viel gesehen,
was nicht gut ist“, sagt sie und streicht sich mit etwas schmutzigen Händen
die Haare aus dem Gesicht. „Viele Menschen haben den Bezug zur Natur
verloren. Sie konsumieren Lebensmittel, ohne irgendetwas davon zu
verstehen.“
## Einmal die Woche ist Verteiltag
Poland lächelt, als hätte er gewusst, dass sie das sagen würde, und fügt
hinzu: „Ich wollte nicht so ein Hippie-Ding, das ich mir unter
Solidarischer Landwirtschaft vorgestellt habe.“ Manche hätten ihm
abgeraten, weil sie glaubten, der Hof würde ohne einen Chef nicht laufen.
Poland aber, mit einem guten Ruf und vielen Beziehungen im Dorf, hörte auf
Lahaine. Heute sind beide gleichberechtigte Geschäftsführer des Vereins,
mit dem sie ihre Solidarische Landwirtschaft betreiben.
Das Prinzip: Ein Ökosystem ernährt die umliegende Gemeinschaft. Bei ihnen
umfasst sie 30 Kilometer. Poland und Lahaine wirtschaften in drei Zweigen:
Fleisch, Molkerei und Gartenbau. Mitglieder sind mindestens ein Jahr dabei,
sie zahlen einen monatlichen Beitrag und erhalten dafür einen Ernteanteil.
Die „Mitbauern“, wie sie hier genannt werden, können auf dem Hof helfen und
mitentscheiden, was der Verein macht. Einmal pro Woche ist Verteiltag, an
dem sie ihre Ernte abholen. Das Produktionsrisiko tragen alle gemeinsam.
Überschüsse gehen an Restaurants in der Umgebung.
Auf dem Weg zu den Freilandschweinen sagt Markus Poland: „Ich will, dass
die Menschen ihr Essen von Anfang bis Ende in der Hand haben. Nichts wird
besser, wenn es erst durch Deutschland oder halb Europa transportiert
wird.“
Poland und Lahaine glauben, dass die Umwelt in kleinen Ökosystemen
funktioniert, die das große Ganze stabilisieren. Regionale Kreisläufe
müssten also gefördert werden, Lebensmittel gehören nicht an die Börse.
Kleine und mittelständische Unternehmen oder eben Kooperativen, die ihr
Umfeld versorgen und nichts mit dem Weltmarkt zu tun haben – so stellen sie
sich Landwirtschaft vor.
Das Grundstück für den Ausbau des Hofs haben sie von der
Kulturlandgenossenschaft bekommen. Die kauft Land aus
privatwirtschaftlicher und oft spekulativer Nutzung und bringt es an
Menschen, die ökologische Landwirtschaft betreiben wollen. Die Solidarische
Landwirtschaft Klein Trebbow muss 360.000 Euro über Genossenschaftsanteile
anwerben, noch fehlen 90.000. Trotzdem hat sie die 30 Hektar Land schon
bekommen.
Kann, was in Klein Trebbow funktioniert, auch global funktionieren? Ist
Biolandwirtschaft produktiv genug, um die Menschheit zu ernähren?
## Homo oeconomicus oder Homo cooperativius
Eine 2017 unter anderem von der Welternährungsorganisation erstellte Studie
ergab: Das kann funktionieren. Ökologische Landwirtschaft wäre 2050
durchaus in der Lage, mehr als 9 Milliarden Menschen zu ernähren.
Vorausgesetzt, der Fleischkonsum würde sinken und die Flächen, die jetzt
von Tieren genutzt werden, stünden frei.
„Damit die Menschen anfangen, etwas zu verändern, müssen sie Alternativen
kennenlernen“, sagt Juliette Lahaine. Alternativen wie die Solidarische
Landwirtschaft.
Der Überbegriff für solche Modelle sind die sogenannten Commons. Im
Deutschen gibt es keine korrekte Übersetzung, „Gemeingut“ oder „Allmende…
trift es nicht. Der Grundgedanke: Man entzieht dem Markt Boden, Arbeit,
Wissen, aber auch weitere Ressourcen und schafft so ein Wirtschaften, bei
dem es nicht nur um Wachstum und Effizienz geht.
In der Welt der Commons handelt nicht der Homo oeconomicus als
individueller Nutzenmaximierer, sondern der Homo cooperativius, der Mensch
als soziales Beziehungswesen.
Noch befinden sich die Commons im toten Winkel der öffentlichen
Wahrnehmung. Wohl weil dieses Wirtschaften sehr kleinteilig und
anspruchsvoll sein kann. Und weil das Konzept nicht in plakative Formeln
passt. Es darf nicht mit der Sharing-Ökonomie verwechselt werden, die zwar
von der Idee des Teilens inspiriert ist, aber, zumindest wenn sie
kapitalistisch organisiert ist, das Gegenteil der Commons ist: Alles wird
zur Ware, so wie die eigene Wohnung bei Airbnb – ein Triumph des Homo
oeconomicus.
Die Grundidee der Commons ist sehr alt – und in harter Realität erprobt.
Das haben die Arbeiten der Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom gezeigt,
die 2009 als erste Frau den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften
erhielt.
## Picknick-Ökonomie
Ostrom analysierte weltweit mehr als 1.000 Beispiele gemeinschaftlicher
Nutzung – in der Fischerei, bei der Bewässerung, in Wald- und
Weidewirtschaft. Sie widerlegte das Vorurteil der
Wirtschaftswissenschaften, dass Gemeingüter wegen der Neigung zur
Übernutzung nichts taugen. Ihr Fazit: Weil die Menschen vor Ort selbst am
besten wissen, was gut für sie ist, gibt es so viele funktionierende
Beispiele. So existiert etwa die venezolanische Kooperative Cecosesola
schon seit fast 50 Jahren – ein Netzwerk von etwa 60 Genossenschaften und
Basisorganisationen mit 20.000 Mitgliedern. Sie versorgen sich und viele
Großstadtbewohner*innen mit Lebensmitteln, betreiben ein
Gesundheitszentrum, ein Beerdigungsinstitut und organisieren Kredite.
Schon bevor Ostrom den Nobelpreis erhielt, las die Publizistin Silke
Helfrich Ostroms Schriften. Ein Foto, das Helfrichs Elternhaus zeigt, zeigt
auch die Grenze zwischen BRD und DDR. Auf der DDR-Seite wuchs Helfrich auf,
sie sagt: „Ich kannte immer nur die Gegensätze, Ideologie gewordene
Systeme: Kapitalismus versus Sozialismus, Privateigentum versus
Volkseigentum. Da muss es doch noch mehr geben, habe ich gedacht.“ Heute
ist Helfrich die Commons-Theoretikerin Deutschlands, hat mehrere Bücher
geschrieben und ist überzeugt: „Commons verändern uns.“ Wer selbst erfahr…
habe, „dass es eine Ökonomie gibt, in der nicht alles vom Geldbeutel oder
der eigenen Leistungsfähigkeit abhängt“, gewinne Sicherheit.
Commons sind, global betrachtet, weder eine neue Hipster-Idee noch eine
alte Hippie-Idee, sondern zentral für die Ernährung der Menschheit.
Weltweit bewirtschaften bis zu 2,5 Milliarden Menschen rund 8 Milliarden
Hektar Land in gemeinschaftlichen Strukturen – unabhängig von Monsanto und
Nestlé. Taugen Commons auch für westliche Metropolen, für hoch
arbeitsteilige und extrem produktive Gesellschaften? Oder sind sie dort,
wie die Solidarische Landwirtschaft, doch nur Modellversuche, die in
Nischen überlebensfähig sind?
Am Tempelhofer Ufer in Berlin-Kreuzberg führen helle Flure in das Büro von
Abraham Taherivand. In einem langen Regal schmiegen sich dicke Bücher
aneinander – die Encyclopædia Britannica: Die Vergangenheit des globalen
Wissens schaut hier gewissermaßen in ihre eigene Zukunft. Taherivand ist
Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland, einem Verein, der die deutsche
Schreibommunity von Wikipedia fördert.
„Was die Prinzipien angeht, funktionieren wir als Commons“, sagt
Taherivand. Denn Wikipedia lebt von dem kollaborativen Zusammentragen von
recherchierten und überprüften Informationen, die für alle frei zugänglich
sind. Auf Deutsch gibt es mehr als 2 Millionen Artikel.
Wissen wird, anders als eine Flasche Riesling oder ein Kuchen, bei Gebrauch
nicht weniger. Je mehr Menschen sich an Wikipedia beteiligen, desto mehr
Wissen entsteht, Fehler werden gefunden und korrigiert. Intern funktioniert
Wikipedia nach einem einfachen Prinzip: Je aktiver man ist, desto mehr
Rechte erhält man. Die Plattform ist, so der Anspruch, transparent. Wer
will, kann exakt nachvollziehen, wie und von wem Texte geändert wurden.
Dass es Konflikte gibt, gehört dazu. Commons-Expertin Silke Helfrich sagt:
„Man darf sich die Commons-Welt nicht vorstellen wie ein Schlaraffenland,
sondern wie ein Picknick, zu dem alle etwas beitragen.“
## Kapitalismus in der Nische
Zehntausende schreiben und korrigieren Texte auf Wikipedia, ohne damit Geld
oder symbolisches Kapital zu verdienen. Es steht noch nicht mal der Name
des Autors über dem Text. Das Geben selbst ist der Lohn. Für den EU-Grünen
Sven Giegold beweist Wikipedia deshalb die intellektuelle Beschränktheit
des Neoliberalismus. Denn der könne schlicht nicht erklären, „warum
Menschen etwas tun, wofür sie kein Geld bekommen, obwohl sie dies könnten“.
.Als profitorientiertes Unternehmen hätte Wikipedia Schätzungen zufolge
einen Jahresumsatz von 3 Milliarden Euro.
Giegold sieht auch das pragmatisch. Man könne das Beispiel Wikipedia nicht
verallgemeinern. Für die digitale Infrastruktur, ein schnelles, überall
zugängliches Internet, braucht man extrem viel Geld. Das sei „nur mit
staatlichen Großinvestitionen oder privatkapitalistischem Anreiz“ machbar.
Ein Common wie Wikipedia könne „nie leisten“.
Und doch beflügeln digitale Projekte wie Wikipedia den Traum, dass es mit
dem Kapitalismus bald vorbei sein könnte. Auch weil sich digitales Wissen
kostenlos reproduzieren lässt, sei es ein Popsong oder ein Betriebssystem.
Wo das Angebot unendlich ist, fällt der Preis auf null. Der US-
Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin hat 2014 prognostiziert, dass die
Zukunft deshalb den digitalen Commons gehören wird und der Kapitalismus nur
in Nischen überlebt.
Denn das Internet funktioniert kapitalistisch, es hebelt Marktgesetze aber
auch aus. So konkurrieren Konzerne wie Google, Amazon und Facebook nicht
wie im Industriekapitalismus auf Märkten mit anderen Unternehmen – sie
besitzen vielmehr Märkte. Alternativen zu Monopolen wären auch hier
Genossenschaften.
In Datengenossenschaften, so die Idee, gehört die Plattform denen, die die
Daten liefern – den Benutzern, uns allen. Ein Vorteil: Die Nutzer*innen
können selbst kontrollieren, was mit ihren Daten passiert – und nicht bloß
Häkchen bei den AGB machen.
## Utopie und Dystopie sind sich ganz nah
Soziologe Heinz Bude sagt: „Der Kampf um die Daten ist die eigentliche
Aufgabe eines renovierten Sozialismus.“ Es ist dringlicher,
Datenmonopolisten zu entmachten als Wohnungskonzerne oder BMW.
Das neue Interesse an Kollektiven sei, so Bude, ein Lebenszeichen der
Gesellschaft. „Wir sind in Deutschland gerade in einer bedrückenden
endzeitlichen Stimmung. Alles geht den Bach runter, aber niemand macht
etwas. So ist es nicht. Das zeigen die Commons, die Genossenschaften und
das neue Denken der Solidarität.“
Wikimedia-Chef Taherivand sagt, Open Content, Open Data oder das freie
Betriebssystem Linux seien Beispiele für ein anderes Wirtschaften. „Im
Digitalen müssen einige Paradigmen aus dem Industriezeitalter einfach
verschwinden.“ Selbst im Umgang mit Patenten ändern sich Grundprinzipien.
„Jüngere Hersteller haben auch in der Autobranche längst den Schritt
gewagt, ihre Patente zu veröffentlichen“, sagt Taherivand. Auch Elon Musk,
Pionier für Elektroautos, hat das beim Tesla so gehandhabt. Geschadet hat
es ihm nicht, zu einem antikapitalistisch wirtschaftenden Commoner hat es
ihn allerdings auch nicht gemacht.
In der digitalen Ökonomie sind sich Utopie und Dystopie ganz nah: die
Alternativen zum ewigen Profitstreben und eine von Konzernen regierte
Überwachungsgesellschaft.
Common-Expertin Silke Helfrich sagt: „Wir können nicht zulassen, dass die
produktivsten Mittel der Gegenwart, das Wissen und das Digitale, genauso in
Besitz genommen werden wie früher Grund und Boden.“
3 Aug 2019
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Hanna Voß
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