# taz.de -- Das Geschäftsmodell der taz: Ein Wunder | |
> Am 18. November 1991 entschied das Plenum: Die taz wird verkauft – an | |
> ihre LeserInnen. Wie die taz das moderne Crowdfunding erfand. | |
Bild: Die taz in den 80er Jahren in der Wattstraße: Alle dürfen mitreden, abe… | |
Es war ein revolutionärer Einfall: 1992 wurde die taz zu einer | |
Genossenschaft und gehört seither ihren LeserInnen. Man übernahm damit eine | |
Gesellschaftsform, die schon bei den Sozialisten im 19. Jahrhundert sehr | |
beliebt war – und oft gescheitert ist. Die taz hingegen hat überlebt. | |
Warum? | |
Um zunächst bei ihren Vorläufern zu bleiben: Das Wort „Sozialismus“ stammt | |
von „socius“, also Genosse. Viele Arbeiter wollten sich nicht nur politisch | |
in der SPD engagieren, sondern parallel auch eine neue Wirtschaftsform | |
praktizieren. In der Genossenschaft sollten die Beschäftigten ihre eigenen | |
Chefs sein und jeder sollte die gleichen Rechte besitzen. | |
Der Kerngedanke war schlicht: Wozu benötigte man eigentlich Kapitalisten? | |
Die Arbeiter waren doch die Fachleute, während die Unternehmer nur | |
„leiteten“. Die Firmenchefs schienen sich allein dadurch auszuzeichnen, | |
dass sie das nötige Kapital besorgten. Doch Geld konnten auch die Arbeiter | |
beschaffen, wie sich bald zeigte. | |
Kaum eine Genossenschaft ist im 19. Jahrhundert daran gescheitert, dass ihr | |
Kapital gefehlt hätte. Trotzdem gingen viele Genossenschaften schnell | |
wieder ein. Mit der „republikanischen Fabrik“ machte man nur „trübe | |
Erfahrungen“, wie SPD-Vordenker Eduard Bernstein 1899 konstatieren musste. | |
Der europaweite Niedergang der Genossenschaften war so auffällig, dass die | |
britische Soziologin Beatrice Webb schon im 19. Jahrhundert nach den | |
Ursachen suchte. Sie fand heraus, dass vor allem die | |
Produktivgenossenschaften scheiterten – während die Konsumgenossenschaften | |
florierten. | |
Es funktionierte also bestens, wenn sich Arbeiter zusammenschlossen, um | |
gemeinsam Lebensmittel zu kaufen und durch die schiere Menge ihrer | |
Bestellungen die Preise zu drücken. Enorm erfolgreich waren auch alle | |
Varianten der Wohnungsgenossenschaften. Doch sobald sich eine Fabrik als | |
Genossenschaft organisierte, wurde es schwierig. | |
Webb stellte fest, dass die Produktivgenossenschaften scheiterten, weil es | |
ohne Chef nicht ging. Irgendjemand musste Entscheidungen fällen – und sie | |
auch durchsetzen. Führung war aber kaum möglich, weil sich alle Arbeiter | |
als gleichberechtigt betrachteten. | |
Oder wie es Bernstein ausdrückte: „Die Produktivgenossenschaft ist gerade | |
dort, wo die Arbeiter die ausschließlichen Eigentümer sind, in ihrer | |
Verfassung ein lebendiger Widerspruch in sich selbst. Sie unterstellt | |
Gleichheit in der Werkstatt, volle Demokratie, Republik. Sobald sie aber | |
eine gewisse Größe erlangt hat, […] versagt die Gleichheit, weil | |
Differenzierung der Funktionen und damit Unterordnung notwendig wird.“ | |
Bekanntlich ist die taz eine Produktivgenossenschaft: Es soll täglich eine | |
Zeitung hergestellt werden. Nach den Erkenntnissen von Webb und Bernstein | |
hätte die taz-Genossenschaft also scheitern müssen. Trotzdem gedeiht und | |
wächst sie. Das ist ein Wunder. | |
## Mit dem Kapital der Fans | |
Die taz erschien erstmals im September 1978, und zunächst gab es noch keine | |
Genossenschaft, sondern es entschied ein „Nationales Plenum“, dem sämtliche | |
Mitarbeiter angehörten. Alle waren für alles zuständig. Ex-tazler Jörg | |
Magenau beschreibt in seinem taz-Buch anschaulich, wie anstrengend diese | |
„basisdemokratische Gesamtverantwortung“ war: Die taz-Journalisten | |
schrieben nicht nur Artikel, sondern mussten sich auch „mit dem Dreck auf | |
den Fluren, mit fehlendem Klopapier und dem finanziellen Desaster | |
befassen“. So schön Demokratie war – sie konnte nerven. | |
Dieser basisdemokratische Zustand währte mehr als ein Jahrzehnt – bis die | |
taz direkt auf die Pleite zusteuerte. Denn nach der Einheit fiel plötzlich | |
die Berlinzulage weg, die alle Betriebe in der Inselstadt üppig | |
subventioniert hatte. Zudem wurde die Konkurrenz härter, weil nun 16 | |
Zeitungen an den Berliner Kiosken auslagen. Gleichzeitig stiegen die | |
Mieten, sodass es schwierig wurde, mit dem taz-Einheitslohn von 1.550 Mark | |
über die Runden zu kommen. | |
Die Journalisten in der taz hätten die Zeitung gern an einen potenten | |
Kapitalgeber verkauft; man träumte intensiv vom Spiegel. Doch die | |
Mitarbeiter in der Technik und im Verlag favorisierten den Plan von Kalle | |
Ruch, dass man doch eine Genossenschaft gründen könnte. Die taz war mehr | |
als nur eine linke Zeitung – sie war ein linkes Projekt. Form und Inhalt | |
mussten zusammenpassen. Die taz konnte nur überleben, wenn sie eine | |
alternative Wirtschaftsform vorlebte. | |
Die taz stellte sich also bewusst in die Tradition der Arbeiterbewegung – | |
und versuchte es erneut mit einer Produktivgenossenschaft. Am 18. November | |
1991 entschied das Nationale Plenum: „Die taz wird verkauft. An ihre | |
LeserInnen.“ | |
Der Plan ging auf, ein Million DM Kapital bei den eigenen Fans | |
einzusammeln. Die taz ist die Erfinderin des modernen Crowdfundings. Doch | |
Geld allein hat noch keine Genossenschaft gerettet. | |
Die taz hat überlebt, weil sie die organisatorischen Fehler der | |
Arbeiterbewegung vermied. Zwar sind alle Mitarbeiter Genossen – aber sie | |
sind nicht alle gleich. Mit der Genossenschaft wurden nämlich auch | |
„Geschäftsführer“ eingesetzt, die seither die Verantwortung tragen und die | |
kaufmännischen Entscheidungen allein fällen. Es gibt zwar auch einen | |
Vorstand und einen Aufsichtsrat, die die Geschäftsführer jederzeit | |
abberufen können. Doch dies blieb Theorie. | |
Über Kalle Ruch wurde zwar manchmal gelästert und geschimpft, aber alle | |
wussten, dass es keiner besser konnte. Die taz hat ihrem ersten | |
Geschäftsführer sehr viel, wenn nicht gar alles zu verdanken. Dennoch lag | |
es nicht allein an Kalles Statur, dass inmitten von scheinbar Gleichen eine | |
Hierarchie entstand. Schon Bernstein hatte beobachtet, dass | |
Produktivgenossenschaften nur überleben, wenn sich eine „Oligarchie“ | |
herausbildet. | |
Die meisten tazler hatten gegen diese neue Oligarchie nichts einzuwenden. | |
Denn vorher hatte die taz auch Hierarchien gekannt – nur dass sich die | |
Machtzentren bisher rein informell gebildet hatten. Seitdem es die taz gab, | |
wurden „Klüngeleien“ beklagt, Seilschaften und geheime Absprachen. Nun gab | |
es eine offizielle Hierarchie. Mit Kalle an der Spitze. Das war eine | |
revolutionäre Idee. | |
15 Dec 2019 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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