| # taz.de -- Interviewband der Autorin Sibylle Berg: Alles wird anders | |
| > Sibylle Berg hat Interviews mit Wissenschaftler*innen über die Zukunft | |
| > der Welt geführt: „Nerds retten die Welt“ erzählt vom Heute und vom | |
| > Morgen. | |
| Bild: Irgendwer schrieb, Sibylle Bergs Romane seien belletristische Amokläufe.… | |
| BERLIN taz | Der Terminator kommt nicht so schnell. Das ist auch schon | |
| beinah die einzige gute Nachricht, die Sibylle Bergs gerade erschienener | |
| Interviewband „Nerds retten die Welt“ bereithält. Aber wer ausgerechnet | |
| Sibylle Berg in die Erforschung des Zustands der Welt folgt, wird sowieso | |
| nicht von so geringem Verstand sein, die neoliberale Gegenwart für die | |
| beste aller Welten zu halten. | |
| An dieser Stelle verabschieden sich nun alle Wohlfühlapologeten, weil sie | |
| der Meinung sind, wer neoliberal sagt, ist gegen alles und hat keinen Spaß | |
| oder ist zynisch wie Sibylle Berg, die von Männern, die das Leben im | |
| Kapitalismus ganz dufte finden, gerne als erbarmungslos beschrieben wird. | |
| Dabei ist Berg vor allem Realistin. | |
| „Wir ordnen den Scheiß jetzt neu“, sagt Sibylle Berg im Trailer zu ihrem | |
| mittlerweile mehrfach preisgekrönten wilden Roman „GRM“ aus dem letzten | |
| Jahr. Scheiß heißt alles. Die so called Ordnung der Welt. Schauplatz | |
| England, wo Marktdominanz, Privatisierung und Überwachung vielleicht am | |
| weitesten fortgeschritten sind: Auf der Straße nur der Abschaum, total | |
| überwachtes Menschenmaterial in einer total privatisierten Welt. | |
| Bergs Protagonisten: vier Pubertätsjungs aus jenem Abschaum, die nicht | |
| mitmachen wollen. Ihre Weltflucht und ihr politischer Protest ist die Wut | |
| des Grime – eine schnelle, aggressive, sozialkritische Form des Rap. Grime | |
| ist die Allegorie des Klassenschicksals, schrieb Mark Fisher, der wie kaum | |
| ein anderer die Gewalt und Depression der ganzen neugeordneten englischen | |
| Scheiße eindrücklich analysiert hat. | |
| ## Feldforschung in England | |
| Berg hat für ihren Roman „GRM“ Feldforschung in England betrieben: Gangs in | |
| Liverpool oder Manchester, die Grimeszene in London etc. Außerdem hat sie | |
| für den Roman über zwei Jahre hinweg Interviews mit Wissenschaftler*innen | |
| geführt. Menschen aus der Systembiologie, KI-Entwicklung, Soziologie, | |
| Neuropsychologie und so weiter, darunter der Rechtsextremismusforscher | |
| Wilhelm Heitmeyer, die feministische Künstlerin Lynn Hershman Leeson und | |
| der Männlichkeitsforscher Rolf Pohl. | |
| Aus den Gesprächen ist das Buch „Nerds retten die Welt“ entstanden. Es sind | |
| Gespräche, in denen Berg sich nicht bloß das Elend der Welt bestätigen | |
| lässt, sondern Optimismus sucht. | |
| Gejammer und Sprechblasen helfen ja nicht. Berg versucht es mit | |
| (Selbst-)Ironie und Neugierde. Zwei Eigenschaften, auf die man unbedingt | |
| dauernd und besser als aufs Portemonnaie achten sollte. | |
| Rechtsextremismus, Digitalisierung, Klimawandel, Gewalt gegen Frauen, | |
| Künstliche Intelligenz – vieles kommt zur Sprache, nicht immer sind es die | |
| interessantesten Expert*innen auf dem jeweiligen Gebiet, die sie befragt, | |
| manches bleibt unterkomplex, aber das meiste ist interessant. Was vor allem | |
| daher rührt, dass hier in irgendwie alter aufklärerischer Manier | |
| Expertentum heruntergebrochen wird auf „Wissenschaft für alle“. Nicht mit | |
| klugen Fragen brillieren, keine Bezüge zu Ciceros Moralphilosphie | |
| herstellen. Nein, so was dokumentiere schließlich bloß die Fähigkeit der | |
| Fragenden, sich gute Stichworte zu machen, so Berg. | |
| ## Gehirne operieren | |
| Stattdessen kriegen wir bergsche Ironie – bissig, lakonisch und zärtlich | |
| zugleich: „Ihre Doktorarbeit ‚Identification of regulatory mechanisms | |
| controlling signal processing in erythroid progenitor cells using | |
| mathematical modeling‘ lese ich gerade.“ Oder: „Ich träume oft, dass ich, | |
| meiner Neigung folgend, Gehirnoperationen durchführe. Haben Sie jemals Lust | |
| dazu verspürt?“ | |
| Mensch-Maschinen-Assemblagen, Panikmodus und Szenariodenken, Korrelation | |
| statt Kausalität, Technosecurity versus soziale Sicherheit, autokratisches | |
| Denken gegen die Demokratien – die Diagnosen aus den unterschiedlichen | |
| Disziplinen ergeben ein düsteres Bild von der Zukunft. | |
| Es kommt etwas Neues. Das sehen die meisten von Bergs Gesprächspartnern so. | |
| Die Krisen, Konflikte und Identitätsmarker („das Kreuz, die Weißwurst, das | |
| Kopftuch“) deuten darauf hin, dass etwas zu Ende geht. Manch einer sieht | |
| den digitalen Faschismus heraufziehen, ein „beinah perfektes digitales | |
| Gefängnis – eine Kombination aus einer Big-Brother-Welt, Neofeudalismus und | |
| … Institutionen oder Unternehmen, die sich überall einmischen“. | |
| Ein anderer glaubt, noch zu Lebzeiten Kontakt zu anderen Lebewesen da | |
| draußen im Weltall aufnehmen zu können: „Möglicherweise sind wir das | |
| Gespött der fortgeschrittenen Zivilisationen, sollten sie uns beobachten“, | |
| sagt der berühmt gewordene Astrophysiker Avi Loeb. Klingt nerdhaft. Oder | |
| einfach wahrscheinlich, weil nun mal „ein Viertel aller Sterne Planeten mit | |
| ähnlichen Oberflächenbedingungen hat wie die Erde“. | |
| Die Sehnsucht der Menschen auszusterben, sei gigantisch, findet Berg. Dem | |
| berühmten, viel zitierten Satz Fredric Jamesons, dass es einfacher sei, | |
| sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, würde | |
| sie vermutlich zustimmen. In einem TV-Interview sagte sie einmal, es sei | |
| ein Kampf der Reichen gegen die Armen, der vor unseren Augen geführt werde. | |
| Doch auch das: für Sibylle Berg längst kein Grund zur Resignation. | |
| 10 Mar 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Tania Martini | |
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