# taz.de -- Gesuchte Linksautonome über Verfolgung: „Die Strategie wird nich… | |
> 2023 sollen Autonome bei einem Nazi-Marsch in Ungarn rechte Teilnehmer | |
> attackiert haben. Warum sie sich nicht stellen, sagt eine von ihnen im | |
> Gespräch. | |
Bild: „Free Hanna“: Wenige Tage nach der Festnahme von Hanna S. am 6. Mai k… | |
Sie sind weg: Seit über einem Jahr sind zehn Antifaschist*innen auf | |
der Flucht. Die ungarische Justiz wirft ihnen vor, 2023 gezielt | |
[1][Rechtsextreme] am Rande eines von diesen organisierten Gedenkmarschs in | |
Budapest angegriffen und verletzt zu haben. Ihnen droht die Auslieferung | |
nach Ungarn. Auch der sich im Untergrund befindlichen Aktivistin Lena Berg | |
(Name geändert). Die 22-Jährige sprach mit der taz. | |
taz: Frau Berg, Sie werden seit über einem Jahr gesucht. Wann wollen Sie | |
sich stellen? | |
Lena Berg: Unser gewohntes Leben hinter uns zu lassen und in die | |
Illegalität oder ins Exil zu gehen ist nichts, wofür wir uns leichtfertig | |
entschieden haben. Aber mit der Perspektive eines Schauprozesses in Ungarn | |
unter Orbán, wo Justiz und Medien politisch gesteuert sind, Geflüchteten | |
und Oppositionellen das Leben zur Hölle gemacht wird, erschien diese | |
Entscheidung unumgänglich. Von den dortigen Haftbedingungen ganz zu | |
schweigen. | |
[2][Am 7. Mai wurde in Nürnberg die gesuchte Hanna S. festgenommen]. Machen | |
Sie sich Sorgen, dass Sie sich auf Dauer einem Verfahren nicht entziehen | |
werden können? | |
Hanna hat überhaupt nicht versucht, sich einem Verfahren zu entziehen. Sie | |
wohnte ganz normal an ihrer Meldeadresse, ging arbeiten und studierte. | |
Trotz eines vollkommen geregelten Lebens mit festem sozialen und familiären | |
Umfeld wurde bei ihr nun eine Fluchtgefahr konstruiert, um sie in U-Haft zu | |
nehmen. | |
[3][Seit März hat die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernommen]. | |
Besteht weiterhin die Möglichkeit einer Auslieferung nach Ungarn? | |
Die Behörden spielen gezielt mit der Möglichkeit einer Auslieferung, um | |
Druck auf uns auszuüben. Ob dahinter die Hoffnung auf einen Kronzeugen | |
steht oder es den Ermittlern lediglich darum geht, Härte zu zeigen, wissen | |
wir nicht. Das Vorgehen zeigt aber, wie ernst Teile der Behörden ihre | |
eigene Definition eines Rechtsstaats nehmen: Wenn es ihnen nützt, sehen sie | |
kein Problem darin, Antifaschist:innen an ein Land auszuliefern, das | |
selbst vom EU-Parlament als Autokratie betrachtet wird. | |
Die Bilder von der italienischen Aktivistin Ilaria Salis, die ebenfalls an | |
dem Angriff beteiligt gewesen sein soll, gingen um die Welt. In Ketten saß | |
Sie in einem ungarischen Gerichtssaal. Jetzt wurde sie gegen eine Kaution | |
auf freien Fuß gesetzt und tritt als Kandidatin fürs Europaparlament an. | |
Haben Sie Zweifel, dass Sie in Budapest ein neutrales Verfahren erwarten | |
können? | |
Die ungarischen Medien und die Regierung haben den Kontext der Vorwürfe | |
gezielt entpolitisiert: In ihrer Darstellung sind wir von Brüssel entsandte | |
Hooligans, die unbescholtene Wanderer angegriffen haben sollen. Anstatt | |
darüber zu reden, wie es sein kann, dass, 79 Jahre nachdem weit über eine | |
halbe Million Juden, Sinti und Roma auch mithilfe der ungarischen | |
Bevölkerung ermordet wurden, massenhaft Neonazis durch Budapest ziehen, um | |
diese Verbrechen zu glorifizieren, werden die Organisatoren mit riesigen | |
Summen staatlich gefördert und bekommen das ungarische Ehrenkreuz | |
angesteckt. | |
Welches Strafmaß erwartet Sie? Die Eltern einer Gesuchten sprachen | |
gegenüber der taz von einer angedrohten Haft von 24 Jahren. | |
Das Strafmaß, das uns droht, beträgt bis zu 24 Jahre im sogenannten | |
„Zuchthaus“, der härtesten ungarischen Strafvollzugsform. Für Ilaria wurd… | |
16 Jahre gefordert, bereits vor Monaten erklärte der ungarische | |
Außenminister sie in Interviews für schuldig. Währenddessen wurden 2023 | |
durch die ungarische Staatspräsidentin mehrere Rechtsterroristen begnadigt. | |
Das ist sinnbildlich für die politischen Verhältnisse in Ungarn. | |
Ein Mitarbeiter des Ungarischen Helsinki-Komitees, einer | |
Menschenrechtsorganisation, die sich für die Hilfe von Geflüchteten und | |
Häftlingen einsetzt, bewertet die Haftbedingungen als eine | |
Grundrechtsverletzung. | |
Dass Gefangene in Ungarn aus Angst vor Konsequenzen häufig gar nicht oder | |
erst nach ihrer Entlassung von den Zuständen in Haft berichten, spricht | |
schon für sich. Die deutschen Behörden nutzen die harten Haftbedingungen | |
gezielt als Druckmittel. Zum Beispiel wurde Tobi (ein bereits in Ungarn im | |
Zusammenhang mit dem Angrif verurteilter Aktivist; d. Red.) „Zeugenschutz“ | |
angeboten und gesagt, man könne ihm „helfen“, wenn er mit dem LKA | |
kooperiert. Er hat dieses perfide Angebot entschieden abgelehnt. Übrigens | |
hat die italienische Justiz die Auslieferung von einem italienischen | |
Antifaschisten auch wegen der ungarischen Haftbedingungen verweigert. | |
Hat Ihnen die Bundesanwaltschaft eine Option angeboten, sich zu stellen? | |
Viele von uns haben signalisiert, sich zu stellen, wenn es keine | |
Auslieferungen gibt. Darauf gab es bisher keine Reaktion. Wir haben deshalb | |
den Eindruck, die Bundesanwaltschaft hat gar kein Interesse daran, dass | |
sich Leute stellen. Im Gegenteil, sie hat sehr deutlich gemacht, dass sie | |
dem Willen der ungarischen Behörden nicht im Weg stehen will und einer | |
Auslieferung aus ihrer Sicht stattgegeben werden könne. Das Narrativ von | |
„gefährlichen Linksextremen im Untergrund“ eignet sich bestens für eine | |
mediale Stimmungsmache und Diffamierung gegen Antifaschist:innen. Dabei | |
fallen vor allem zwei Erzählungen auf, die ständig wiederholt werden. | |
Welche sind das? | |
Die große Gefahr für die Gesellschaft, die von uns ausgehe, sowie die | |
Behauptung einer angeblichen Gewaltspirale, welche durch militanten | |
Antifaschismus befeuert werde. Der sächsische Innenminister ging sogar so | |
weit, uns mit dem NSU oder den Tätern des Anschlags vom 11. September zu | |
vergleichen. Mit der demonstrativen Härte gegen uns wird auch versucht, | |
allgemein von antifaschistischer Praxis abzuschrecken. Antifaschismus | |
derart zu delegitimieren ist immer auch ein Mittel, um der anderen Seite – | |
ob gewollt oder ungewollt – politisch den Rücken zu stärken. | |
Ist es richtig, dass Ihnen signalisiert wurde, mit einem Geständnis eine | |
Auslieferung vermeiden zu können? | |
Diesen Vorschlag hatte die ursprünglich ermittelnde Staatsanwaltschaft | |
gemacht, mittlerweile hat aber die Bundesanwaltschaft das Verfahren | |
übernommen. Dass wir Antifaschist:innen sind, gestehen wir gerne an | |
dieser Stelle – allerdings ist das vermutlich nicht, was sich die Behörden | |
vorgestellt haben. | |
Wie stark ist der Druck der deutschen Behörden gegen Ihre Familien und | |
Freunde? | |
Es gab circa 20 Hausdurchsuchungen, mehrere SEK-Einsätze und zahlreiche | |
Observationen, etliche geöffnete Briefe und abgehörte Telefonate. Die | |
letzten Monate über haben unsere Familien und Freund:innen unzählige Male | |
unerwünschten Besuch von Polizei und Verfassungsschutz bekommen. In all den | |
Anquatschversuchen wurde unseren Angehörigen deutlich gemacht, dass sie | |
beziehungsweise wir doch mit den Behörden kooperieren sollten, um nicht | |
nach Ungarn ausgeliefert zu werden. Doch die Strategie der Behörden, uns zu | |
spalten und zu isolieren, wird nicht aufgehen. Egal, ob mit Auslieferung | |
oder ohne, ob in Haft oder Illegalität. Wir möchten die Gelegenheit noch | |
nutzen, um Danke zu sagen. Für all die Unterstützung und Solidarität, die | |
uns in den letzten Monaten erreicht hat. Und an alle Menschen, die diesen | |
Weg mit uns gemeinsam gehen. | |
30 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Speit | |
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