# taz.de -- Polizeikessel in Leipzig: Aufarbeitung im Schneckentempo | |
> Vor einem Jahr kesselte die Polizei in Leipzig mehr als 1.300 | |
> DemonstrantInnen ein. Die Ermittlungen gehen weiter, ebenso die Kritik an | |
> der Polizei. | |
Bild: Ein paar von 4.000 Polizisten am 3. Juni 2023 in Leipzig | |
Die Antwort des Innenministeriums sei ernüchternd, sagt Jule Nagel (Linke). | |
[1][Vor einem Jahr kesselte die Polizei in Leipzig bei einer Versammlung | |
1.324 Personen und hielt sie bis zu elf Stunden fest.] Obwohl die Polizei | |
kurz zuvor zwei Drittel der Demonstrierenden als friedlich kategorisierte, | |
nahm die Staatsanwaltschaft gegen alle Ermittlungen wegen schwerem | |
Landfriedensbruch auf. In einer Kleinen Anfrage im Landtag wollte Nagel nun | |
wissen, wie viele Verfahren die Behörden eingestellt haben. Die Antwort am | |
vergangenen Freitag: Zwei, weil die sich gegen strafunmündige Kinder | |
richteten, die auch im Kessel standen. | |
Dass alle anderen 1.322 Ermittlungen noch laufen, ärgert Nagel. Die | |
Landtagsabgeordnete glaubt zwar auch, dass unter den Eingekesselten 200 bis | |
300 gewaltbereit gewesen seien. Trotzdem sagt sie: „Es war | |
unverhältnismäßig, so viele Menschen so lange festzuhalten, und es ist | |
unverhältnismäßig, weiterhin gegen sie zu ermitteln“. | |
Die Polizei hatte sich monatelang auf den Einsatz an diesem Wochenende vor | |
einem Jahr vorbereitet. Trotzdem, das ist mittlerweile durch interne | |
Dokumente und parlamentarische Anfragen klar, hatten die | |
Sicherheitsbehörden selbst nicht mit einem so großen Kessel gerechnet. | |
Stunden nach der Umschließung vermuteten die Beamten fälschlicherweise nur | |
300 Personen im Kessel – 1.000 weniger als tatsächlich. Inzwischen räumte | |
die Polizei Fehler ein. Der Fall zeigt, wie rigoros der Staat gegen | |
Demonstrationen vorgehen kann. Aber die Aufarbeitung läuft noch immer. | |
Hintergrund der gekesselten Demonstration am 3. Juni vor einem Jahr war das | |
Urteil des Oberlandesgerichtes Dresden gegen die linksradikale Gruppe um | |
die Leipziger Studentin Lina E. Tage zuvor. Wegen Überfällen auf Neonazis | |
wurden sie zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Lina E. bekam fünf Jahre | |
und drei Monate, das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. | |
## Tag X | |
Dass das Wochenende nach dem Urteil von Lina E. eskalieren könnte, war | |
absehbar. Unter dem Slogan „Free Lina“ hatte sich während des Prozesses ein | |
breites Solidaritätsbündnis in der linken Szene geformt. Vor der | |
Urteilsverkündung mobilisierten Unterstützer*innen aus der | |
[2][autonomen Szene] zum „Tag X“ in Leipzig, um ihre Wut über die zu | |
erwartenden Haftstrafen auf die Straße zu tragen. | |
Erste Demonstrationen gab es schon am Tag der Urteilsverkündung in | |
verschiedenen Städten. In Leipzig, Dresden und Bremen flogen Steine, | |
Flaschen und Pyrotechnik auf Polizeibeamte. | |
Für das Wochenende erließ die Stadt Leipzig am 30. Mai eine | |
Allgemeinverfügung, die alle Demonstrationen verbot, die sich auf den | |
Prozess bezogen. Eine erste Gefahrenprognose fertigte die Polizei schon im | |
März an. Demnach waren große Ausschreitungen zu befürchten. Unter anderem | |
verwiesen Stadt und Polizei auf einen anonymen Aufruf bei der linken | |
Plattform Indymedia, für jedes verhängte Haftjahr – 13 waren es insgesamt �… | |
eine Million Euro Sachschaden zu verursachen. | |
Entsprechend groß war auch das Polizeiaufgebot. Am 3. Juni waren in Leipzig | |
laut Innenministerium insgesamt mehr als 4.000 Beamte aus 13 verschiedenen | |
Bundesländern und dem Bund im Einsatz. Zudem 12 Pferde, 17 Wasserwerfer und | |
4 Hubschrauber. Für den Einsatz haben Bund und Länder dem sächsischen | |
Innenministerium bisher rund 1,7 Millionen Euro in Rechnung gestellt. | |
Durch die Verfügung wurden in Leipzig mehr als zehn Versammlungen verboten | |
oder untersagt. Darunter auch die offizielle Demo für den „Tag X“. Unter | |
dem Aufruf „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“ versammelte sich | |
hingegen ein gemischtes Publikum in Leipzigs Südvorstadt. Doch es waren | |
nicht die tausenden gewaltbereiten Autonomen, die die Polizei erwartet | |
hatte. Auf einem grünbewachsenen Platz an der Karl-Liebknecht-Straße waren | |
anfangs Familien mit Kinderwägen und die „Omas gegen Rechts“. Erst später, | |
ab etwa 17 Uhr, zunehmend auch Vermummte. | |
## Im Kessel auch Minderjährige | |
Ihretwegen verweigerte die Polizei, die um den ganzen Platz präsent war, | |
den etwa 2.000 Teilnehmenden der Demo, zu laufen. Dann ging alles ganz | |
schnell. Eine kleine Gruppe brach aus der Demo heraus. Es kam zu Stein- und | |
Flaschenwürfen, lila und schwarzer Rauch hing über der Straße. Nach | |
Polizeiangaben soll auch ein Brandsatz geflogen sein, weshalb sie später | |
wegen versuchten Totschlags ermittelte. Die Polizei ging sofort dazwischen. | |
Sie zog mit Wasserwerfern auf, trieb die Autonomen zurück auf den Platz und | |
kesselte sie, aber auch viele weitere Teilnehmende, ein. | |
Unter den Bäumen und zwischen den Büschen des Platzes verblieben die | |
DemonstrantInnen im Kessel dort, am Rand des Platzes, bis tief in die | |
Nacht. Einzeln zog die Polizei die DemonstrantInnen aus dem Kessel, um ihre | |
Personalien aufzunehmen. Allen wurde schwerer Landfriedensbruch | |
vorgeworfen. Der taz erzählte später einer der Eingekesselten: „Man kam | |
sich vor wie Tiere, die im Stall eingepfercht waren.“ | |
Im Kessel standen mehr auch als 100 Minderjährige, deren Eltern nicht zu | |
ihnen gelassen wurden. Anfangs fehlten sanitäre Einrichtungen, später auch | |
Verpflegung und warme Decken. In Solidarität blieben auch viele andere | |
Teilnehmende vor Ort. | |
Auf Anfrage der taz heißt es vom Innenministerium, die Polizei Leipzig habe | |
in einer Arbeitsgruppe bis Ende September 2023 den Kessel nachbearbeitet | |
und dabei auch das eigene Verhalten erörtert: die Kommunikation im Kessel, | |
die Sicherung der Grundbedürfnisse und die Zusammenarbeit mit Sanitätern, | |
die Demonstrierenden helfen wollten. Zu konkreter Kritik äußert sich das | |
Ministerium nicht. | |
Doch interne Dokumente, die mittlerweile öffentlich sind, und | |
parlamentarische Anfragen zeigen noch weitere Probleme auf. Die Polizei | |
hatte vor Ort lange Zeit keinen Überblick und korrigierte selbst nach knapp | |
einem Jahr noch Angaben. | |
Zudem stimmen die Angaben vom Innenministerium an manchen Stellen nicht | |
überein mit dem Einsatzprotokoll der Polizei. [3][Das Protokoll hat das | |
Informationsfreiheits-Portal „Frag den Staat“ per Transparenzgesetz | |
bekommen und veröffentlicht.] Während Innenminister Armin Schuster (CDU) | |
auf eine Große Anfrage der Linken antwortete, vor der Kesselung um 18:28 | |
Uhr habe die Polizei Unbeteiligte aufgefordert, zu gehen und sie auch gehen | |
lassen, ordnet der zuständige Polizeiführer laut Protokoll um 17:24 Uhr an, | |
dass die Teilnehmenden „nicht unkontrolliert ablaufen dürfen.“ Sie sollten | |
einer Identitätsfeststellung unterzogen werden. | |
Aktuell klagt Frag den Staat noch gegen den sächsischen Verfassungsschutz. | |
Der Geheimdienst will nicht sagen, ob Daten der eingekesselten Personen | |
auch im System der deutschen Verfassungsschutzbehörden erfasst wurden. Das | |
würde Rückschlüsse auf seine Arbeitsweisen ermöglichen, argumentiert der | |
Verfassungsschutz. Noch hat das Verwaltungsgericht darüber nicht geurteilt. | |
Einzelne Abfragen von Personen aus dem Kessel ergaben laut Frag den Staat | |
allerdings, dass diese in der Datenbank auftauchten. Das betreffe auch | |
Jugendliche. | |
Die linke Landtagsabgeordnete Jule Nagel kritisiert zudem die | |
Gefahrenprognose. Die Polizei sei von tausenden Demonstrierenden, einem | |
Millionen-Sachschaden und Plünderungen ausgegangen – auf der Grundlage von | |
anonymen Posts im Internet. Das sei bei weitem nicht eingetreten. „Wie kann | |
es sein, dass so viele Versammlungen präventiv verboten und untersagt | |
wurden?“, fragt Nagel. Das gelte es weiter aufzuarbeiten. | |
3 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Tag-X-Demonstration-in-Leipzig/!5938323 | |
[2] /Gesuchte-Linksautonome-ueber-Verfolgung/!6010605 | |
[3] https://fragdenstaat.de/blog/2024/02/13/chaos-und-widerspruche-zum-leipzige… | |
## AUTOREN | |
David Muschenich | |
Adefunmi Olanigan | |
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