Introduction
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# taz.de -- Fremde Tiere und Pflanzen: Invasion der anderen Art
> Durch den Menschen eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten mischen
> Ökosysteme auf, der Klimawandel begünstigt die Ausbreitung noch. Welche
> richten Schaden an?
Bild: Zutrauliche Nutrias in Halle an der Saale scheuen das Blitzlicht nicht
Berlin/Müncheberg taz | Die Eindringlinge haben einen weiten Weg hinter
sich gebracht und machen sich nun heimlich bei uns breit. Werden mehr und
mehr, bedrohen, was wir liebgewonnen haben, zerstören die Umwelt. Klingt
nach AfD und vergifteter Einwanderungsdebatte. Nur sind in dieser Erzählung
Pflanzen und Tiere gemeint.
Ob Japanischer Knöterich, Kaukasischer Bärenklau, Chinesischer Götterbaum
oder die US-Importe Sumpfkrebs, Ochsenfrosch und Waschbär: Sie alle gelten
als gefährliche Fremdlinge. Über diese sogenannten invasiven Arten wird
genauso lange schon gestritten, wie wir Menschen uns die Erde untertan
machen. Erst wird Land erobert und dann verteidigt, gegen alles, was auch
ein bisschen Land wollen könnte.
Laut [1][einer aktuellen Studie] könnten eingeschleppte Tier- und
Pflanzenarten in der EU bis 2040 für Kosten in Höhe von 142,73 Milliarden
Euro sorgen. Grund dafür sind unter anderem [2][Ernteverluste] und
Belastungen des Gesundheitssystems durch neue Krankheiten. Der Klimawandel
beschleunigt diese Entwicklung und heizt auch einen Streit an: zwischen
denen, die die unkontrollierte Verbreitung der Arten verhindern wollen, und
denen, die finden, dass in den Lauf der Dinge nicht eingegriffen werden
sollte.
Im Garten von Robin König fliegt und zirpt und flattert es, wo man nur
hinsieht. Die blauen Hüllblätter des groß gewachsenen Alpenmannstreus –
ursprünglich aus dem Mittelmeerraum und seit dem 16. Jahrhundert auch in
Deutschland kultiviert – sind schon fast abgeblüht. Trotzdem umschwirren
ihn derart viele Wildbienen, Wespen, Hummeln, Käfer und Fliegen, dass die
Augen nur ein diffuses Flimmern zahlloser schwarzer Punkte ausmachen
wollen.
Wie immer in diesen Sommertagen sieht es so aus, als könnte es jeden
Augenblick regnen. Um das kostenlose Wasser direkt dorthin zu leiten, wo es
benötigt wird, nämlich an die Wurzeln des Alpenmannstreus, hat der
24-jährige Hobbygärtner mit dem Spaten rundherum ein Becken ausgestochen.
Dort unten wächst und blüht, was vorher noch schwer zu kämpfen hatte, denn
bei dem Brandenburger Bodenmix aus Sand und Lehm beginnt erst tief die
fruchtbare Erde. Danach will er sich endlich dem Japanischen Knöterich
widmen. Denn: „Wie das Zeug schon wieder eskaliert ist, das ist nicht mehr
feierlich“, sagt er.
In kürzester Zeit hat sich das bambusartige Ungetüm vom Gartenzaun über die
anliegenden Beete erstreckt. Diese Auswüchse müssen weg. „Der Knöterich ist
die wirtschaftlich teuerste Pflanze, die es gibt“, sagt König. Aber einfach
mit der Machete in das Gestrüpp einfallen und die wuchernden Stängel
zurückschneiden, reicht nicht.
Den müsse man „abfolieren“, also schwarze Folie über den Boden legen, dam…
kein Licht mehr rankommt. Sonst gebe die Pflanze wachstumshemmende
Bitterstoffe an ihre Umgebung ab. Das Ding sei „eine ökologische
Katastrophe“ und „echt kein Spielzeug“. König ist sich sicher: Würde er
hier nicht eingreifen, würde gar nichts anderes mehr wachsen.
Der Knöterich ist eine nicht einheimische, eine gebietsfremde Art. Von der
spricht das Bundesnaturschutzgesetz dann, wenn sie weder ursprünglich aus
Mitteleuropa stammt, noch seit über 100 Jahren als verwilderte Art
vorkommt, also quasi eingebürgert ist. Solche Pflanzen werden auch
Neophyten genannt, die tierische Version davon sind Neozoen.
Von den unzähligen Arten fremder Tiere und Pflanzen, die seit Jahrhunderten
über Kontinente hinweg als Samen oder Eier im Ballastwasser der Schiffe, in
Lebensmittelkisten oder unter Schuhsohlen eingeschleppt werden,
verschwinden die meisten einfach wieder. Sie keimen oder schlüpfen, fühlen
sich dann in ihrer Umgebung nicht wohl und gehen schließlich ein oder
werden gefressen.
Ein paar Arten aber bleiben. Manche nicht heimische Bäume halten die
Trockenheit besser aus, manche Larven mögen die aufgewärmten Gewässer. Die
Stare, die einst als kleine Gruppe im Central Park von New York City
freigelassen wurden, bilden heute die zahlenmäßig stärkste Vogelgruppe
Amerikas und werden von den meisten Menschen so geschätzt wie hierzulande
der kunterbunte Bienenfresser an den Steilufern und Abbruchkanten in
Sachsen-Anhalt oder der aus den Vogelkäfigen geflohene Halsbandsittich in
der Rheinebene.
Etwa fünf Prozent aller fremden Arten bereiten laut Bundesamt für
Naturschutz „naturschutzfachliche Probleme“ und gelten als invasiv. Sie
breiten sich zu stark aus, schädigen Biotope und gefährden die biologische
Vielfalt. Sie konkurrieren mit heimischen Arten um Nistplätze oder Nahrung,
übertragen Krankheiten oder lösen Allergien aus, sind giftig oder vermiesen
Landwirten die Ernte.
Europaweit werden aktuell 88 Tier- und Pflanzenarten als invasiv gelistet.
Mindestens 46 dieser Arten kommen auch in Deutschland vor: Das Drüsige
Springkraut überwuchert die Flussufer, die Wasserpest lässt Tümpel kippen,
die Asiatische Hornisse jagt unsere Honigbienen, der Höckerflohkrebs frisst
die Flüsse leer, und was Bisamratten und Nilgänse angeht – die kann sowieso
niemand leiden.
Wo die Pflanzen in seinem Garten ursprünglich herkommen, ist Robin König
eigentlich egal. „Mir geht es ausschließlich um die ökologische
Verschränkung“, erklärt er und streichelt seine Armenische
Traubenhyazinthe. „Die kam vom Balkan, hat sich sofort ins Ökosystem
eingegliedert und leistet ihren Beitrag.“ König meint damit, dass die
Pflanzen und Tiere eine lebhafte Wechselwirkung miteinander eingehen
sollen: sich also gegenseitig Lebensraum und Nahrung liefern. Der Knöterich
hingegen war ein ungebetener Gast in seinem Garten, verschränke sich nicht
und nerve bloß.
Ingo Kowarik ist Professor für Pflanzenökologie an der Technischen
Universität Berlin. Als er während seines Studiums zu städtischen
Ökosystemen zu forschen begann, war noch gar nicht so klar, wie leicht sich
fremde Arten an neuen Orten ansiedeln können. „In den Siebzigern haben wir
erstmals in Berlin Brachflächen inspiziert und waren erstaunt von der
Andersartigkeit der natürlichen Prozesse mitten in der Stadt“, erzählt der
68-Jährige.
Damals war der Japanische Staudenknöterich auf Privatgrundstücken gerade
als Sichtschutz angesagt. Das Gewächs war schon Hunderte Jahre zuvor als
Futter- und Zierpflanze nach Europa gekommen. Wurde er zu groß, flog er auf
den Kompost, um sich dort erst so richtig zu entfalten – und mit ihm all
die anderen achtlos ausgesetzten Zierpflanzen aus dem Gewächshaus.
Von nun an bedeckte der Knöterich Böschungen, Brachen und Halden, weil er
sich kein bisschen an den Schwermetallen im Boden störte. „Anfangs waren
meine Kommilitonen und ich noch überrascht, wie schnell und dynamisch
Wildnis ist“, sagt Kowarik. Umso wilder kämpften GartenbesitzerInnen damals
zunächst gegen jedes Unkraut an, das sie nicht selbst in ihr Beet gepflanzt
hatten. Inzwischen sei es anerkannter Mainstream, ein bisschen Natur
unberührt zu lassen. Auch die nicht einheimischen Arten. „Es rührt mich,
dass die Leute ein Herz für wilde Arten haben“, sagt er.
Die Verbreitung der Arten, sie ist eine Konsequenz aus Kolonialismus,
Migrationsbewegungen und Globalisierung. Los ging es mit dem Start des
Anthropozäns im 17. Jahrhundert. Erst schleppten Amerikas Pilgerväter
Krankheiten aus Europa in die für sie Neue Welt und verantworteten damit
ein Massensterben der indigenen Bevölkerung. Dann wurden die Kartoffeln aus
den Anden nach Europa geholt und der Mais aus Mittelamerika und sehr viel
früher die Äpfel und Birnen aus China, Zentralasien und dem Kaukasus und
der Weizen aus dem Nahen Osten – denn ohne all diese Importe gäbe es
hierzulande nicht viel mehr zu essen als Kraut und Rüben.
Im Anschluss machten es sich die Kolonialisten auf allen Kontinenten
bequem. Von James Cooks Schiffen gingen Dingos, Schafe und Kaninchen von
Bord, um das wilde Australien etwas europäischer zu machen. Mit fatalen
Folgen: Die Schafe traten mit ihren Klauen die Böden kaputt, die Kaninchen
mümmelten die übrigen Triebe weg und die Dingos fraßen die vom Hunger
geschwächten heimischen Tiere.
Beutellöwen, Riesenemus, gestachelte Ameisenbären und Schnabeltiere fielen
dieser „tierischen Europäisierung“ zum Opfer. In den freigewordenen Nischen
des australischen Lebensraums siedelten sich Amseln und Tauben, Mäuse und
Ratten, Forellen und Lachse, Rotwild und Frettchen sowie Hunde und Katzen
an. Das tragische Ende einer einmaligen Artenvielfalt.
Im 20. Jahrhundert begann mit manchen Plagen auch ein Umdenken und man
versuchte, die selbst verschuldete Auslöschung zu bremsen. Und zwar durch
Ausrottung. Füchse, Katzen und eingeschlepptes Unkraut bedrohen in
Australien beispielsweise die heimisch-ursprüngliche
Barrington-Breitzahnratte, ein drolliges kleines, wühlmausähnliches Ding.
Also werden die Invasoren erschossen und vergiftet. Neuseeland will sich
wiederum bis 2050 aller [3][nicht einheimischen Ratten] entledigen. Denn
die gefährden die einheimischen Vögel und Reptilien, heißt es.
Die US-Amerikaner sind ebenfalls nicht zimperlich. An der Ostküste wird die
Bevölkerung aktuell ermutigt, fleißig alle gepunkteten
Laternenträgerzikaden zu zerlatschen. In Florida soll die Burmesische
Python dafür verantwortlich sein, dass bis zu 90 Prozent der Säugetiere aus
den Sümpfen verschwinden könnten. Also schreibt man Kopfgeld auf die
Würgeschlange aus. Gerade gewann ein 19-Jähriger bei einem Wettbewerb
10.000 US-Dollar, weil er 28 von ihnen erlegte.
Deutschland meuchelt da verhaltener. Früher erschlug man noch das ein oder
andere dunkle Eichhörnchen in dem Glauben, es sei ein eingewandertes
Grauhörnchen. Mittlerweile hat sich aber herumgesprochen, dass die Nager
immer noch nicht bei uns angekommen sind. Dafür erlegen wir Nutrias und
essen Sumpfkrebse, die sich in den Gewässern breitmachen. Die wohl
hitzigsten Diskussionen aber werden um den [4][Waschbären] geführt.
Die Kleinbären büxten nach dem Krieg aus Pelzfarmen aus und haben sich
seitdem prächtig bei uns eingelebt. Weil die gefräßigen Tiere Nester und
Brutkästen plündern, gelten sie als invasive Art – und gleichzeitig als
Internetstars, weil sie doch so furchtbar knuffig dabei aussehen, wie sie
unsere Mülltonnen ausräumen und Dachböden ruinieren. Dadurch hat der
Waschbär eine starke Lobby.
Während JägerInnen sich also auf den Naturschutz berufen und jedes Jahr
neue Schießrekorde erzielen, argumentieren [5][WaschbärfreundInnen]
ebenfalls mit dem Naturschutz. Sie behaupten: Wer Waschbären schießen will,
komme mit dem Schießen nicht hinterher. Denn Weibchen reagieren auf
Verluste mit verstärkter Fortpflanzung. Je mehr Abschuss, desto mehr
Nachwuchs also. Im Gegensatz dazu bringen Waschbären weniger Junge auf die
Welt, wenn sich ihre Lebensbedingungen grundlegend verschlechtern.
Was also bringt es, die einen zu töten, um die anderen zu retten? „Gar
nichts, man muss keine Arten bekämpfen“, findet Denise Ritter vom
[6][Deutschen Tierschutzbund]. „Prävention ist die Lösung.“ Es sei sehr
viel sinnvoller, die Eintragungswege invasiver Arten strenger zu
kontrollieren und den Wildtierhandel einzudämmen. „Prävention bedeutet aber
auch, dass man Mensch-Tier-Konflikte von vornherein vermeidet“, sagt die
33-Jährige. Zum Beispiel indem wilde Tiere nicht angefüttert, Mülltonnen
besser versiegelt und Ausweichflächen geschaffen werden. Also Orte, die als
Lebensraum, Nist- und Futterplatz für die Tiere attraktiver sind als unsere
Parks, Freibäder und Gärten.
Neben dem Waschbären hat in den vergangenen Jahren noch ein weiteres Tier
für Aufregung gesorgt: die Nutria, ein biberähnlicher, bisamrattenartiger
Nager aus Südamerika. Die Nutria wurde hundert Jahre zuvor ebenfalls wegen
des Fells eingeschleppt und in Farmen eingesperrt, bis sich erste
Populationen im Spreewald und an der Elbe ausbreiteten. Zu den Städten mit
Nutriaproblem gehört beispielsweise Bonn. Weil die Nager die Ufer der
Rheinaue kaputtnagen, werden die Tiere gefangen und getötet.
Denise Ritter plädiert hingegen für Einfangen und Sterilisieren. Die Zahl
der Nutrias würde so sehr viel schneller sinken, erklärt die
Tierschützerin. Das Töten von Tieren solle als allerletztes Mittel in
Erwägung gezogen werden. Die Stadt hat den Vorschlag abgelehnt. Dieser
Kampf der unterschiedlichen Naturschutzinteressen wirft entscheidende
Fragen auf: Wie sehr bedrohen invasive Arten die heimischen tatsächlich?
In einem begrenzten Bereich können Invasoren wirklich gefährlich werden.
Wenn der Waschbär auf einer bestimmten Fläche sämtliche Bodenbrüter wie
Schnepfe und Kiebitz frisst, hat er die Art dort vernichtet. Aber damit ist
das Raubtier noch keine Gefahr für die gesamte Population. Und sind Nutrias
wirklich so problematisch, wenn sie nur eine begrenzte Anzahl an Deichen
und Röhrichten kaputtmachen?
Der Einfluss auf einzelne Arten kann gravierend sein, das allgemeine
Artensterben hat aber andere Gründe. Oft besetzen invasive Spezies eine
ökologische Nische, wenn die heimische Art zuvor schon durch den Menschen
schwer beeinträchtigt wurde.
So konnte sich der Nerz erst dann in Europa ausbreiten, als die Population
der Otter mangels Futter drastisch eingebrochen war. Soll man also jede
neue Art erst einmal machen lassen und schauen, ob sie wirklich alle
anderen Arten verdrängt? Und was dann?
In der Landwirtschaft, im Forst oder der Wasserversorgung kann man nicht
einfach in Ruhe abwarten – da stört die Wildnis. Ihre Gefahren müssen
rechtzeitig erkannt, eingeschätzt und abgewendet werden. Wenn sich
eingewanderte Nager oder Heuschrecken ohne Fressfeinde über die Ernte
hermachen, eine neue Käferart das Nutzholz im Wirtschaftswald durchlöchert,
die Larven der Quagga-Muscheln in die Wasserleitungen schwimmen und die
Förderanlagen verstopfen und der Knöterich das Treibgut festhält, dann wird
das teuer.
Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung hat kürzlich eine ungeheure
Summe genannt. [7][In ihrer Studie] zu weltweiten Folgeschäden durch
invasive Arten kam sie auf Gesamtkosten von fast 1 Billion Euro seit 1960.
Allein Wanderratte und Wildkaninchen sollen eine Ernte im Wert von
insgesamt über 100 Milliarden Euro von den Feldern weggefressen haben. Sind
solche Beträge nicht Grund zum Handeln?
Das Bundesumweltministerium findet: ja. Es hat nach einer entsprechenden
[8][EU-Verordnung] 2015 einen [9][Aktionsplan] für den Umgang mit invasiven
Arten entwickelt, überlässt aber den einzelnen Ländern das Management.
Innerhalb der Länder sind die Interessen unterschiedlich verteilt und der
Plan ist nicht immer klar. Denn die Landesregierungen arbeiten mit
unvollständigen Listen – invasive Tiere und Pflanzen sind in Deutschland
nur unzureichend erfasst. Über manche Arten weiß man, wie großflächig sie
für Probleme sorgen, über andere nicht. Für manche Arten gibt es effektive
Sofortmaßnahmen, für viele andere nicht.
So existieren neben einer [10][Unionsliste], die die invasiven Arten für
den gesamten EU-Raum umfasst, noch eine lokale Aktionsliste, eine
Handlungsliste, eine Beobachtungsliste und eine Managementliste. Die kann
man dann für jedes Bundesland herunterladen oder in seiner
Kleingartenordnung nachlesen, konkrete Handlungsanweisungen gibt es kaum.
Die eine Gartenbesitzerin wütet dann eben halbherzig gegen die eigene
invasive Wildnis an, der andere macht sich die Mühe nicht. Wer den Deich
unverbuscht halten will, gräbt die Traubenkirsche aus. Wer den Buchsbaum
mag, setzt dem Buchsbaumzünsler ein Ende. Und wem die Nase juckt, der reißt
die Beifußambrosie aus. Denn, und auch das ist ein Faktor, die
Eindringlinge können für allergische Reaktionen sorgen – und im schlimmsten
Fall für Krankheit.
Im Büro bei Doreen Werner vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung
in Müncheberg warten schon wieder Dutzende neue Umschläge. Jeden Tag ist
die Postkiste voll. Ihr Inhalt sind tote Mücken. Jahrzehntelang hat sich
die Forschung nicht für Mücken interessiert. Von ihnen ging keine Gefahr
mehr aus, in Deutschland gab es seit den Fünfzigerjahren keinen
einheimischen Malariafall mehr. Durch die invasiven Arten hat sich das
mittlerweile geändert.
„Seit 2011 erfassen wir die Einsendungen in einem Mückenatlas“, erklärt
Werner. Die HobbyjägerInnen sollen dazu Mücken mit einem Glas oder Becher
einfangen, unversehrt im Gefrierfach ins Jenseits und anschließend zum
Leibniz-Zentrum nach Müncheberg befördern. „Diese Daten sind unheimlich
wertvoll für uns“, sagt Doreen Werner. „Ohne die Citizen Science hätten w…
die nicht.“
Das Institut hat die Daten, Doreen Werner hat die Arbeit. Sie bestimmt die
Stechmücken, Kriebelmücken und Gnitzen unter dem Mikroskop. „Mit bloßem
Auge ist das unmöglich“, sagt sie. „Die Muster, die Punkte auf den Flügel…
die Größe, es gibt so viele Merkmale, die man genau unterscheiden muss.“
Niemand im Institut kennt die so genau wie Doreen Werner. Damit ist sie
eine ständig gefragte Expertin, sowohl bei den KollegInnen als auch in den
Medien. Und die wollen seit Jahren nur eines wissen: Wie gefährlich ist die
[11][Asiatische Tigermücke]?
Die gestreifte Nervensäge ist nicht halb so groß wie unsere Hausmücke, aber
doppelt so lästig. „Die heimischen Mücken fliegen schüchtern und summend
an“, erklärt Doreen Werner. „Die Tigermücke hört man erst gar nicht. Sie
verfolgt ihr Ziel penetrant.“ Die Biologin hat den Blutsauger im Visier,
weil er etliche Viren übertragen kann, darunter das Dengue-, West-Nil- und
Zika-Virus.
Spätestens seit dem Zika-Sommer 2016 seien die Leute verunsichert, sagt
Doreen Werner. Die Tigermücke wird als genauso gefährlich angesehen wie
damals der Pestfloh, und viele Menschen glauben, schon einmal von einer
Tigermücke gestochen worden zu sein. Tatsächlich aber landen nur wenige
echte Exemplare dieser Art unter dem Mikroskop der Expertin.
In fast allen Ländern Europas gilt die Tigermücke als etabliert. In
Deutschland tritt sie regelmäßig auf. Nachdem seit 2007 über Jahre hinweg
nur Einzelexemplare gefunden wurden, haben Doreen Werner und ihr Institut
inzwischen auch größere Populationen nachgewiesen: in Bayern,
Baden-Württemberg und Berlin.
So geht Doreen Werner jedem Hinweis nach. Identifiziert sie eine
Tigermücke, fährt sie zum Fundort und untersucht die Umgebung. Sie checkt
die Lebendfallen, die das Institut zusätzlich aufhängt, und informiert die
Behörden. Die nehmen dann Regenfässer und Vogeltränken, Eimer und
Gießkannen unter die Lupe, um zu klären, ob es sich bei der Tigermücke nur
um einen angeschwirrten Einzelfall handelt oder ob es bereits Larven gibt,
die als nächste Generation ausschwärmen könnten. Die geschlüpften Mücken
müssten dann das Blut einer an einem Tropenvirus erkrankten Person saugen
und sich selbst infizieren, um das Virus übertragen zu können.
Noch ist der Moskito aus Asien aber nicht flächendeckend in Deutschland
verbreitet. Auch hat es noch keine Ausbreitung von Denguefieber oder einer
anderen Tropenkrankheit gegeben. „Vor drei Jahren hatten wir einmal einen
Denguefall in einem Krankenhaus in Freiburg“, erzählt Werner. „Zur selben
Zeit wurden wir über eine Tigermückenpopulation an einem Friedhof in der
Nähe informiert.“ Der Patient wurde sofort verlegt, um Erreger und Mücke
nicht zusammenzubringen. Schließlich muss sich auch eine Mücke erst einmal
anstecken.
Bis dahin bleibt der Wirbel um die Tigermücke Panikmache. Trotzdem liegt es
auf der Hand, dass sich die invasive Art ausbreitet – und mit ihr die
Gefahr von Krankheiten. Der Klimawandel begünstigt dabei die Einwanderung
oftmals.
Die Geschwindigkeit der Entdeckung neuer Arten ist weltweit rasant
gestiegen. Tiere und Pflanzen fühlen sich plötzlich an Orten wohl, an denen
es ihnen Jahre zuvor noch zu kalt, zu nass, zu trocken oder zu heiß gewesen
wäre.
In [12][Ostafrika] gehen riesige Flächen an Weideland durch eine Mimosenart
verloren. In Kalifornien explodiert der Schwarze Senf und verwandelt die
Äcker in ein einziges Dickicht.
Fabian Sittaro hat die Entwicklung in Deutschland erforscht. In seiner
[13][Doktorarbeit] an der Universität Leipzig verknüpft er Geografie und
Biologie miteinander, um den Lebensraum von invasiven Pflanzen zu
kartieren. Die Habitate wurden aus Satellitenbilden erfasst und auf
klimatische Veränderungen in puncto Temperatur und Niederschlag untersucht.
„Die Mehrzahl der invasiven Pflanzen werden durch den Klimawandel
begünstigt“, resümiert der 34-Jährige im Videocall, eine unverwüstliche
Schusterpalme grünt im Hintergrund.
Am stärksten profitierten die Pflanzen, die noch keinen großen Lebensraum
für sich beanspruchen: das Kamtschatkaveilchen, der Blauglockenbaum. „Die
kommen noch nicht häufig in freier Wildbahn vor, weil sie oft nicht so
frosthart sind.“ Aber das müssen sie ja auch bald nicht mehr sein.
Umgekehrt würden die bereits als invasiv bekannten Problempflanzen nicht
viel problematischer. „Der Riesenbärenklau und das Drüsige Springkraut
werden es in den nächsten fünfzig Jahren deutlich schlechter bei uns
haben“, so Sittaro.
Seine Karten sollen bald auf einer Website veröffentlicht werden, um zu
veranschaulichen, an welchen Orten welche Arten welche Effekte haben. „Wir
müssen genau wissen: Wo ist das Habitat? Wie ist die Ausbreitung? Erst dann
kann man rechtzeitig und effektiv eingreifen.“
Mit der Modellierung aus Satellitendaten, Fernerkundungsverfahren und
maschinellem Lernen verschafft Sittaro den ganzen Listen und Plänen des
Ministeriums überhaupt erst eine Grundlage. „Schwarz-Weiß-Denken und
emotionale Befindlichkeiten helfen der Debatte nicht“, sagt der Forscher.
„Daten aber schon.“
Zwanzig Jahre lang war TU-Professor Ingo Kowarik Berlins Landesbeauftragter
für Naturschutz. Heute weiß er: „Eine Bekämpfung ist theoretisch möglich,
aber praktisch eine Riesenaufgabe“, sagt er. „Nun ist die Frage: Wohin
lenke ich meine Energie? Ausschließlich auf die neuen Arten sicherlich
nicht.“ Laut Kowariks Daten spielen bei der Gefährdung heimischer Pflanzen
Neophyten eine gar nicht so große Rolle. Intensive Landnutzung und durch
den Menschen zerstörte Lebensräume lösen Artensterben viel häufiger aus.
„Ich glaube, es lohnt nicht, eine Art an sich zu bekämpfen. Wenn wir
versuchen, die biologische Vielfalt zu erhalten, muss das auch mit einer
Aufgeschlossenheit für den Wandel der Natur vereinbar sein.“
Der Wildnis neuen Raum zu verschaffen, werde künftig umso wichtiger.
Gemeint ist damit nicht nur eine nach unseren Vorstellungen intakte Natur.
Götterbaum, Bärenklau und Knöterich haben gezeigt, dass sie sich auch auf
stillgelegten Fabrikanlagen und Aschehalden wohlfühlen, auf vertrockneten
Feldern, gerodeten Waldflächen und vergifteten Weiden, also an Orten
Wurzeln schlagen können, die der industriellen Umweltzerstörung zum Opfer
gefallen sind. Denn die Spezies, die für diese Welt den größten Schaden
anrichtet, bleibt immer noch der Mensch.
14 Aug 2023
## LINKS
[1] https://enveurope.springeropen.com/articles/10.1186/s12302-023-00750-3
[2] https://www.agrarheute.com/management/betriebsfuehrung/invasive-arten-verur…
[3] https://www.spektrum.de/news/neuseeland-will-rattenfrei-werden/1417476
[4] https://www.berlin.de/sen/uvk/natur-und-gruen/jagd-und-wildtiere/wildtiere-…
[5] /Der-Hausbesuch/!5883123
[6] https://www.tierschutzbund.de/tiere-themen/wildtiere/invasive-arten
[7] https://www.senckenberg.de/de/pressemeldungen/invasive-arten-vorsorge-koenn…
[8] https://www.bmuv.de/download/erster-aktionsplan-gemaess-artikel-13-der-vero…
[9] https://biodiv.de/biodiversitaet-infos/konvention-ueber-die-biologische-vie…
[10] https://neobiota.bfn.de/unionsliste/art-4-die-unionsliste.html
[11] https://www.umweltbundesamt.de/asiatische-tigermuecke
[12] https://www.cde.unibe.ch/forschung/cde_reihen/der_kampf_gegen_invasive_fre…
[13] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1569843222003466
## AUTOREN
Philipp Brandstädter
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