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# taz.de -- Tiere und Pflanzen des Jahres: Immer auch politisch
> Wenn Phänomene aus der Natur gesellschaftlich gedeutet werden, wird es
> schnell ungut. Die Tiere und Pflanzen des Jahres sind zum Glück
> fortschrittlicher.
Bild: Der Kleine Wasserfrosch ist ein glitschiger Affront gegen den Identitä…
Wollen wir wirklich Witze darüber machen, dass ausgerechnet das
Braunkehlchen der deutsche „Vogel des Jahres 2023“ geworden ist? Oder gar
historische Analogien ziehen, weil es bei einer freien, demokratischen Wahl
ohne jede Not dazu gekürt wurde? Natur ist schließlich immer auch
politisch. Vom notwendigen Kampf gegen invasive Arten landet man schnell
beim Blut-und-Boden-Denken à la AfD, von der Kritik an der
Klimaschädlichkeit des Reisesektors bei der gruseligen „Urlaub in der
Heimat“-Propaganda von Winfried Kretschmann und Konsorten.
Deswegen wollen wir lieber loben, dass [1][das Braunkehlchen ein echter
Globalist] ist, denn es reist nicht nur regelmäßig weit und
interkontinental und stellt mit seinem wiederkehrenden Drang nach der Ferne
eine ideale Metapher für ein menschliches Grundbedürfnis dar, sondern es
schenkt uns zudem via dem auslobenden Nabu das schöne Wort
„Langstreckenzieher“. Die ehemals kalte Jahreszeit verbringen diese eher
unauffälligen und, nun ja, braunen Vögelchen im tropischen Afrika.
Stark gefährdet sind sie, Ehrensache, natürlich auch, und zwar nicht wegen
Windrädern, sondern vor allem aufgrund der hiesigen Lebensraumzerstörung
sowie unserer industrialisierten Landwirtschaft – regionaler Anbau allein
nutzt halt auch nichts.
Gar nicht metaphorisch, sondern ganz praktisch für die Vielgestaltigkeit
des prallen Lebens steht der „Lurch des Jahres“, der Kleine Wasserfrosch.
Er ist ein glitschiger Affront gegen [2][den ganzen Identitätsquatsch]
alter wie neuer Schule, ob von rechts oder links. Dann wollen wir doch mal
zeigen, wo der Frosch die Rastalocken hat: Der Jahreslurch nämlich fällt
durch fortwährende, nicht nur kulturelle, sondern auch genetische Aneignung
auf – als Lebenselexier!
## Generation Quiet Quitting
Kurz gesagt, auch wenn es vermutlich Prügel der ausrufenden Deutschen
Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde für diese Vereinfachung
gibt: Er steht in einem unfassbar komplizierten Chromosomen-Austausch mit
zwei anderen, ähnlich aussehenden Arten. Er und der Seefrosch sind
sozusagen die Eltern des Teichfroschs, der sich zwar eine Weile lang auch
selbstständig vermehren kann, auf Dauer aber immer wieder neues Erbmaterial
von den Elternarten einpaaren muss. Hybridogenese heißt dieses unter
Landwirbeltieren ziemlich einzigartige Gimmick. Ach ja, und bedroht ist er
natürlich auch. Same procedure as everywhere: Lebensraumzerstörung und
industrielle Landwirtschaft vorneweg.
Wir spoilern daher nicht, wenn wir verraten, dass diese beiden Faktoren
auch dem von der Deutschen Wildtier-Stiftung bestimmten „Wildtier des
Jahres“ den Garaus zu machen drohen, nebst zu sehr aufgeräumten Wäldern und
– natürlich! – frei herumlaufenden Katzen. Und das, obwohl der
Gartenschläfer eigentlich eher wie eine moderne menschliche
Wunschprojektion erscheint. Das mauseartige Tierchen ist ein kuscheliger
Traum der Generation Quiet Quitting: Satte sechs Monate verschläft dieser
Bilch komplett, und den Rest des Jahres hält er sich strikt an die
vertraglich vereinbarte nächtliche Kernarbeitszeit. Da stimmt die
Work-Life-Balance!
Den Wert von Zusammenhalt und Gemeinschaft beschwört – semantisch ein
hübsches Paradoxon – ausgerechnet der „Einzeller des Jahres“. Freuen Sie
sich mit dem Grünen Gallertkugeltierchen zu seiner Auszeichnung durch die
Deutsche Gesellschaft für Protozoologie! Obwohl ein waschechter
Mikroorganismus, rottet das Mini-Wesen mit dem bezaubernden Namen sich so
massenhaft zusammen, dass man es mit bloßem Auge erspähen kann – es wabert
in bis zu 15 Zentimeter großen Kolonien durch unsere Seen.
Aber keine Sorge, wenn Sie den grünen Wabbel sichten: Sein Auftreten zeugt
von guter Wasserqualität. Und kündet außerdem von der Utopie eines
friedlichen Zusammenlebens. Nicht nur, dass dieses vasenförmige
Wimperntierchen in direkter Symbiose mit einer Grünalge lebt, seine
Kolonien bieten auch ein Zuhause für allerlei andere Einzeller, Algen und
sogar Süßwasserpolypen, denn jedes einzelne Grüne Gallertkugeltierchen
bildet eine „gallertige Wohnröhre“, die dann halt von anderen besiedelt
werden kann. In [3][einer Zeit ausgeprägter Wohnungsnot] also eine durch
und durch konsequente Wahl.
## Die Salamanderpest
Ein Trend, auf den auch der Verband der Deutschen Höhlen- und Karstforscher
aufgesprungen ist. Denn sein „Höhlentier des Jahres“ ist der
Feuersalamander, den man ja eigentlich eher als Buchenwaldbewohner kennt.
Doch auch er muss irgendwo wohnen, und das macht er bevorzugt in
unterirdischen Höhlen, in die er sich bei Trockenheit oder Frost
zurückzieht. Dass seine Zukunft düster aussieht, liegt allerdings weder am
Wohnort noch an Wohnungsnot, sondern an einer Pandemie. Die Salamanderpest
breitet sich seit einigen Jahren in Deutschland aus, und gegen sie
erscheint Corona tatsächlich nur wie ein Schnupfen. Mit einer Sterblichkeit
von hundert Prozent löscht die Seuche Feuersalamanderpopulation um
Feuersalamanderpopulation aus, sodass Salamanderforschende davon ausgehen,
dass die vorerst einzige Rettung der Tiere nicht in Höhlen, sondern in
menschlicher Obhut liegt.
Wenn das zu deprimierend ist, empfehlen wir abschließend noch die
eingehendere Beschäftigung mit der „Heilpflanze des Jahres“. Angesichts von
Krieg, Blackout-Gefahr, Klima- und Biodiversitätskrise ist es ein wirklich
kluger Schachzug des „Vereins zur Förderung der naturgemäßen Heilweise nach
Theoprastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus e. V.“, die
Weinrebe dazu auszuerwählen. „Die Natur ist der Arzt“, lautet dessen
Wahlspruch, und in diesem Sinne wünschen auch wir: Prosit Neujahr!
6 Jan 2023
## LINKS
[1] /Hans-Georg-Maassens-Weltsicht/!5771469
[2] /Identitaere-unter-Beobachtung/!5611566
[3] /Buendnis-fuer-bezahlbaren-Wohnraum/!5884025
## AUTOREN
Heiko Werning
## TAGS
Tierwelt
Pflanzen
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Artensterben
Naturschutz
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Tierschutz
Schwerpunkt Klimawandel
Tier des Jahres
Biodiversität
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