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# taz.de -- Raubtier-Attacken auf Menschen: Wer hat Angst vorm Karnivoren?
> Jährlich kommt es zu immer mehr Raubtier-Attacken gegen Menschen. Ein
> Drittel verläuft tödlich. Eine Studie wertet die Fälle der letzten 70
> Jahre aus.
Bild: Der Hauptaggressor unter den Säugetieren: der Lippenbär
Wer hat Angst vorm bösen Wolf? – Jeder! Furcht und Faszination gegenüber
„Raubtieren“ oder „wilden Tieren“ sind tief verwurzelt, wovon nicht nur
Kinderabzählreime zeugen, sondern auch das weltweite Repertoire von
traditionellen Mythen bis zu aktuellen Horrorschockern. Seien wir ehrlich:
Der Löwe wäre kaum zum König der Tiere ausgerufen worden, wenn er Blätter
kaute statt Knochen, egal wie imposant seine Mähne wallte.
Diese besondere Form der Popularität ist in der Biodiversitätskrise nicht
gerade hilfreich. Große Prädatoren gehören zu den besonders stark
gefährdeten Spezies, wozu ihr Bedarf an Platz und Beutetieren beiträgt,
aber auch die direkte Bejagung aufgrund ihrer Gefährlichkeit. Wohlgesinnte
und die stets langweiligen Rationalisten betonen, dass die tatsächliche
Gefahr, zum Opfer eines Fleischfressers zu werden, sehr gering sei.
Also: Der tut nichts, der will nur spielen? Ganz so ist es auch nicht, der
will schon auch fressen. Mitunter sogar Menschen. Denn der Tiger sieht
wenig Anlass, den seltsamen Zweibeinern irgendwelche Sonderrechte
einzuräumen, und nimmt keine Rücksicht auf die Gefühle romantisierender
Katzenfans.
Um die Debatte auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen, hat ein
internationales Team aus Forschenden nun im Fachmagazin PLOS Biology
[1][eine Metastudie] veröffentlicht, die alle in den letzten 70 Jahren
bekannt gewordenen Attacken auf Menschen der großen Säugetierprädatoren
auswertet. Rund 5.500 konnten dokumentiert werden, ein Drittel verlief
tödlich.
## Geografische Unterschiede
Den Hauptaggressor dürfte kaum jemand auf dem Schirm haben. Probier’s mal
mit Gemütlichkeit? Von wegen! Balu war’s, also der aus dem „Dschungelbuch�…
bekannte Lippenbär – rund tausend Mal ist er auf Menschen losgegangen,
meist zur Revierverteidigung oder zum Schutz der Jungen. Insgesamt waren
fast ausschließlich zwölf Arten für tödliche Unfälle verantwortlich, und
zwar aus den Familien der Katzen (Löwe, Tiger, Leopard, Jaguar, Puma), der
Hunde (Wolf, Kojote) und der Bären (Braun-, Schwarz-, Eis-, Kragen- und
eben Lippenbär).
Während die Katzen und Hunde den Menschen tatsächlich überwiegend
angreifen, um ihn zu fressen, wollen Bären eigentlich gar nichts von ihm
und reagieren nur übellaunig, wenn man sie stört oder ihnen sonst auf die
Nerven geht. Durchaus passend also, dass Berlin sich den Bären zum
Wappentier auserkoren hat.
Bemerkenswert sind einige geografische Unterschiede. Während Wölfe im
Norden praktisch keine Gefahr darstellen und Zusammenstöße entweder Unfälle
oder durch menschliches Fehlverhalten provoziert sind, fallen sie in
Südasien mit gezielten Attacken auf. Löwen sind im Südosten Afrikas
gefährliche Beutegreifer, in Westafrika lehnen sie Menschen kulinarisch
offenbar vollständig ab. Tiger wiederum sind vor allem in den
Mangrovenwäldern Südasiens eine reale Gefahr.
Der wohl wichtigste Gefährdungsfaktor abgesehen vom Vorkommen der
Beutegreifer ist die sozioökonomische Lage der Menschen. In Ländern mit
hohem Einkommen sind Angriffe grundsätzlich selten, in armen Ländern
häufiger. Auch Raubtierattacken sind also eine soziale Frage.
## Zahl der Angriffe steigt
Wo Mensch und Tier direkt aufeinandertreffen, weil sich ihre Lebensräume
überlappen und die Menschen eher im Freien arbeiten oder für ihren
Lebensunterhalt durch Holzsammeln, Angeln und die Jagd sorgen, kommt es
erheblich häufiger zu Angriffen. Im reichen Norden beschränken sich
Zwischenfälle weitgehend auf Freizeitverhalten, oder die Tiere werden durch
Müll und Essensreste in Siedlungen gelockt. Auch gezieltes Füttern oder
Provokationen führen dazu, dass der Bär mal zulangt.
In Europa, wo jeder versehentlich in menschliche Nähe trottende Braunbär
oder Wolf gleich zu Massenpanik und „CSI“-artigen Tatortuntersuchungen
führt, passiert Menschen praktisch überhaupt nichts.
In den letzten 70 Jahren sind für ganz Europa und Nordamerika exakt 25
Wolfsangriffe verbürgt. Trotzdem wird in Deutschland permanent ihr Abschuss
gefordert – während wir gleichzeitig wollen, dass die Menschen in Afrika
oder Südasien bitte schön ihre Tiger und Löwen schützen, wofür wir fleißig
Spenden sammeln. Dabei wäre dort eine gewisse Reserviertheit den Katzen
gegenüber angesichts von immerhin 165 tödlichen Löwen- und 856
Tigerangriffen durchaus nachvollziehbar.
Bemerkenswert ist, dass die Zahl der Angriffe im Lauf der Jahrzehnte
weltweit angestiegen ist, vor allem in armen Ländern. Der Mensch rückt den
Tieren durch eine stetig wachsende Bevölkerung und das Erschließen von
Naturgebieten immer näher auf den Pelz. Umso wichtiger wäre es, die Zahl
der Angriffe durch Aufklärungsarbeit und Verbesserung der Lebensbedingungen
vor Ort zu senken. Für die betreffenden Menschen sowieso.
Aber auch für die Tiere, denn die beißen sich bei einem Angriff letztlich
ins eigene Fleisch. Nach einer Attacke folgt regelmäßig die Jagd auf die
Tatverdächtigen, also die „Problembären“ oder „Menschenfressertiger“,
wodurch die angeschlagenen Populationen wichtige Individuen verlieren. Ganz
abgesehen von der schlechten Presse, die wenig dazu beiträgt,
Schutzbemühungen zu fördern. Wer will schon potenzielle Killer im Vorgarten
hätscheln?
## Weitaus mehr Mückentote
Wichtiger ist also der Blick auf die tatsächliche Gefahr. Knapp 2.000
tödliche Angriffe in 70 Jahren – das sind weniger als 30 im Jahr. Weltweit.
Da steht die Angst in keinem Verhältnis zum Risiko. Diesbezüglich können
Löwe, Tiger und Bär den Haien die Tatze reichen. Bei jährlich etwa fünf
tödlichen Haiangriffen sind die spektakulärsten Raubtiere eher die
„zahnlosen“.
Zumal im Vergleich mit etwa vier tödlichen Hundeattacken pro Jahr in
Deutschland und weltweit etwa 140.000 Todesopfern durch Giftschlangen,
830.000 durch Mücken und 600.000 durch Mord und Kriege. Der Mensch ist dem
Menschen eben leider kein Wolf, sondern schlimmer: ein Mitmensch. Der
gefährlichste Prädator aber ist das Auto. Etwa 1,3 Millionen Menschen
sterben nach Schätzung der WHO jährlich im Straßenverkehr. Höchste Zeit,
den Wolf zu entlasten und die richtigen Fragen zu stellen: Großmutter,
warum hast du so große Räder?
20 Feb 2023
## LINKS
[1] https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371%2Fjournal.pbio.300…
## AUTOREN
Heiko Werning
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Tierschutz
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