# taz.de -- Forscher über neue Migrationsdebatte: „Es gibt noch Raum“ | |
> Wie überlastet sind die Kommunen wirklich? Der Migrationsforscher Marcus | |
> Engler sagt, dass Geflüchtete nicht ausgewogen verteilt werden. | |
Bild: Screening in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt, Brande… | |
wochentaz: Herr Engler, immer wieder hören wir, die [1][Kommunen seien bei | |
der Aufnahme von Geflüchteten am Limit]. Stimmt das? | |
Marcus Engler: Dafür müsste man zuerst einmal bestimmen können, wo dieses | |
Limit denn liegt. Es gibt keinen objektiven Maßstab, um zu beschreiben, wie | |
viele Menschen ein Land oder eine Kommune aufnehmen kann. Das wird vor | |
allem politisch ausgehandelt. Die rechtlichen Instrumente, die wir haben – | |
das Asylrecht im Grundgesetz, im europäischen Recht, nach der Genfer | |
Flüchtlingskonvention –, regeln, wer Schutz bekommt. Aber nicht, wie viele. | |
Dafür gibt es gute Gründe. | |
„Die Belastungsgrenze ist erreicht“ – solche Alarmrufe aus den Kommunen | |
gibt es seit Monaten. Wie groß ist das Problem? | |
Das Aufnahmesystem ist auf so hohe Zahlen von Geflüchteten erst mal nicht | |
vorbereitet. Das betrifft neben der Unterbringung auch die Infrastruktur in | |
den Behörden, Kitas oder Schulen. Auch nichtstaatliche Hilfs- und | |
Beratungsorganisationen sind überlastet. Es sind Engpässe, die vorher schon | |
da waren. Und jetzt will der Bund die Mittel auch noch kürzen. Wir müssten | |
sehr viel mehr über soziale Verteilungsfragen und die Stärkung der | |
öffentlichen Infrastruktur sprechen. Es gibt allerdings große Unterschiede | |
zwischen den Kommunen – und leider keinen mit Daten unterfütterten | |
Überblick über die Gesamtlage bundesweit. | |
Wie kann das sein? | |
Die Verteilung auf die Kommunen verläuft regional sehr unterschiedlich. Auf | |
Bundesebene gibt es den Königsteiner Schlüssel, der den Ländern je nach | |
Steuereinnahmen und Bevölkerungszahl einen bestimmten Anteil an | |
Geflüchteten zuweist. Der letzte Schritt aber, von den Landkreisen auf die | |
Kommunen, ist nicht einheitlich geregelt. Da ist dann die Frage: Wo gibt es | |
leerstehende Gebäude, die schnell bezogen werden können? Genauso aber | |
spielt eine Rolle, wie sich die Bürgermeister*innen positionieren, ob | |
es Widerstand aus der Bevölkerung gibt oder sogar rechtsextreme Drohungen. | |
Immer wieder hören wir, dass sich Kommunen der Verteilung entziehen. In der | |
Konsequenz müssen dann andere Kommunen sehr viele Menschen auf einmal | |
versorgen. | |
[2][In Upahl in Mecklenburg-Vorpommern sollten 400 Menschen in einer | |
Kommune mit rund 700 Einwohner*innen untergebracht werden.] Bei | |
Protesten wurde beinahe eine Ratsversammlung gestürmt. Kann so etwas | |
klappen? | |
Der Landrat hat händeringend nach Unterbringungsorten gesucht und sich in | |
den Kommunen unzählige Absagen eingeholt. Das Grundstück für das | |
Containerdorf gehört dem Kreis, sodass dieser darüber entscheidet. Solche | |
großen Unterkünfte sind aus vielen Gründen problematisch, aber immer noch | |
besser als Turnhallen. Grundsätzlich kann das funktionieren, auch dafür | |
gibt es Beispiele. Das kommt tatsächlich sehr stark auf die politische | |
Kultur vor Ort an. | |
Was meinen Sie damit? | |
Es steht außer Frage, dass viele Kommunen gerade stark gefordert sind. Aber | |
wie man damit umgeht, ist eine politische Entscheidung: Will ich die | |
Herausforderung meistern, oder will ich es nicht? Und im Moment ist die | |
politische Diskussion oft nicht lösungsorientiert, sondern setzt vor allem | |
auf populistische Symbolpolitik. | |
[3][Es liegen doch sehr konkrete Vorschläge auf dem Tisch:] | |
Abschiebegewahrsam ausweiten, Migrationsabkommen, mehr sichere | |
Herkunftsstaaten. FDP und Union wollen außerdem Geldleistungen für | |
Geflüchtete durch Sachleistungen ersetzen, mehr Grenzkontrollen … | |
… das sind alles Maßnahmen, die eine sehr deutliche Botschaft senden | |
sollen, nach innen und nach außen: Wir schotten uns ab. Diese Maßnahmen | |
werden seit Jahren vorgeschlagen und zum Teil schon umgesetzt. Kurzfristig | |
werden sie nicht zu spürbar sinkenden Zahlen Geflüchteter führen. Sichere | |
Herkunftsstaaten wirken, wenn überhaupt, nur im Zusammenspiel mit dem | |
Ausbau von Rückführungen, was viele Herkunftsstaaten aber nicht wollen. Wer | |
an der Grenze aufgegriffen wird, hat trotz allem das Recht, einen | |
Asylantrag zu stellen. Sachleistungen sind schon jetzt möglich, viele | |
Kommunen machen das aber nicht, weil es viel zu teuer und zu kompliziert | |
ist. Und Sozialleistungen können laut Verfassung nicht noch weiter | |
abgesenkt werden. | |
Wenn das alles wirkungslos ist, warum wird es dann überhaupt diskutiert? | |
Das ist strategisches Kalkül. Es geht darum, Handlungsfähigkeit zu | |
demonstrieren. In Bayern und Hessen wird bald gewählt, nächstes Jahr sind | |
Landtagswahlen in mehreren ostdeutschen Bundesländern. Und jedes Mal, wenn | |
die Themen Flucht und Migration in Wahlkämpfe geraten, erleben wir eine | |
völlig unsachliche Diskussion, die extreme Positionen hervorbringt und | |
letztlich zu einer Verstärkung von Ängsten und Konflikten beiträgt. Seit | |
etwa einem Jahr fährt die Union da eine gezielte Kampagne. Von der | |
profitiert allerdings vor allem die AfD, obwohl ja das Gegenteil die | |
Absicht der Union ist. Und die Ampelparteien sind ein Stück weit | |
eingeknickt. Am deutlichsten ist die Veränderung bei den Grünen. | |
Was wären aus Ihrer Sicht die richtigen Lösungen? | |
Es gibt durchaus noch Raum in den Kommunen. Die Frage ist, wie schnell man | |
dort Unterkünfte zur Verfügung stellen kann. Es braucht da ganz klar mehr | |
Unterstützung vom Bund. Wobei wir immer wieder hören: Ja, ein bisschen | |
Platz haben wir noch. Aber bitte nur für Ukrainer*innen. Das ist leider | |
auch die Realität. Und man muss ja sagen, dass zum Glück noch niemand einen | |
Aufnahmestopp für Ukrainer*innen gefordert hat. Dabei sind die mit etwa | |
einer Million Menschen die weitaus größere Gruppe. Die Ungleichbehandlung | |
von Geflüchtetengruppen ist schon sehr auffällig. | |
Mehr Unterkünfte also. Aber das ändert ja an der Ausgangslage nichts. | |
Anders als die Union und Teile der Ampel halte ich es für sehr sinnvoll, | |
die Debatten um Flucht und Arbeitsmigration stärker zusammen zu denken. Wir | |
sehen ja, dass die dringend benötigten Fachkräfte eher zögerlich nach | |
Deutschland kommen oder nicht lange bleiben. Insofern wäre es sinnvoll und | |
würde auch die Aufnahmesysteme entlasten, Menschen konsequenter dabei zu | |
helfen, schnell in Ausbildung und Arbeit zu kommen. Die Ampel hat mit dem | |
Chancenaufenthaltsrecht und der Reform der Fachkräfteeinwanderung sinnvolle | |
Maßnahmen verabschiedet. Statt in dieser Richtung weiter zu denken, geht es | |
in der Debatte nur noch um Rückkehr und Grenzschließung. Aus meiner Sicht | |
eine reine Schimäre. | |
Wie meinen Sie das? | |
Menschen fliehen aus sehr komplexen Gründen. Es ist politische Folklore, | |
dass man sie davon abhalten kann, indem man Grenzregime hochrüstet oder es | |
den Menschen schwer macht, wenn sie hier ankommen. Nicht mal die | |
hochgerüsteten EU-Außengrenzen in Griechenland samt brutaler Pushbacks oder | |
die hohen Todeszahlen auf dem Mittelmeer sorgen dafür, dass weniger | |
Geflüchtete kommen. Und es deutet wenig darauf hin, dass wir in Zukunft | |
weniger Fluchtbewegungen haben werden. Im Gegenteil: Die Welt ist | |
instabiler geworden. Es gibt weltweit die Ressourcen und Instrumente und | |
mit dem [4][Globalen Flüchtlingspakt] sogar ein entsprechendes Abkommen, um | |
das Thema wirklich anzugehen. Was fehlt, sind das nötige politische | |
Commitment und die Weitsicht. | |
23 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Erstaufnahmeeinrichtung-Eisenhuettenstadt/!5959279 | |
[2] /Proteste-gegen-Fluechtlingsunterkunft/!5914233 | |
[3] /Fluechtlingspolitik-von-SPD-bis-CDU/!5958250 | |
[4] https://www.unhcr.org/dach/de/was-wir-tun/globaler-pakt | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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