| # taz.de -- Migration nach Lampedusa: Transit vor Europa | |
| > In Tunesien sammeln sich tausende Geflüchtete. Sie wollen weiter nach | |
| > Lampedusa. Der Staat hat die Situation alles andere als unter Kontrolle. | |
| Bild: Ein Boot der italienischen Küstenwache im Hafen von Lampedusa am 18. Sep… | |
| Sfax und el Amra taz | Sabr Hamedi steht in den verwaisten Gassen von | |
| Afara, einem Stadtteil der tunesischen Hafenstadt Sfax, und wirkt | |
| zufrieden. „Gut dass sie weg sind“, sagt er. Vor zwei Wochen hatten | |
| Migrant:innen den weitläufigen Stadtteil noch in einen quirligen Markt | |
| verwandelt. Nun erinnern nur noch einige am Boden liegende bunte Stoffe an | |
| das Getümmel. Polizeieinheiten der Sondereinheit „BIS“ hatten in der | |
| vergangenen Woche die letzten hier noch lebenden Migrant:innen nachts | |
| aus ihren Häusern geholt und außerhalb der Stadt ausgesetzt. | |
| Angesichts der wachsenden Wirtschaftskrise und einem Vorfall im Februar | |
| kippte die Stimmung gegen Migrant:innen in den vergangenen Monaten. | |
| Seither werden sie [1][systematisch aus der Stadt vertrieben] und sammeln | |
| sich in kleineren Küstenorten außerhalb der Stadt. Für die Migrant:innen | |
| ist Tunesien nur ein Zwischenstopp, sie wollen weiter nach Lampedusa. | |
| Die Mehrheit der dort ankommenden Boote legen von den Küsten nördlich von | |
| Sfax ab. Am Sonntag vor einer Woche kamen an einem einzigen Tag 5.000 | |
| Migrant:innen [2][in Italien] an. In Brüssel und Rom führen diese stark | |
| steigenden Zahlen zu Unmut. Mit dem im Juli unterzeichnetem Abkommen mit | |
| Tunesiens Präsident Kais Saied hatte man Finanzhilfen von über einer | |
| Milliarde Euro im Gegenzug zu einem verstärkten Vorgehen der tunesischen | |
| Sicherheitskräfte gegen die Schmuggler in Aussicht gestellt. | |
| [3][Ursula von der Leyen], die Präsidentin der Europäischen Kommission, | |
| reiste am vergangenen Sonntag mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia | |
| Meloni nach Lampedusa, um sich ein Bild von der Lage auf der Insel zu | |
| machen. Die beiden kündigten einen 10-Punkte-Plan an, mit dem der zunehmend | |
| umstrittene „Migrationspakt“, der im Juli mit Tunesien unterzeichnet wurde, | |
| gerettet werden soll. Zu den neuen Maßnahmen gehört die Aufstockung der | |
| Gelder an die Behörden, die „an der Bekämpfung der irregulären Migration | |
| nach Europa“ beteiligt sind. In Sfax ist von einer Verbesserung der Lage | |
| noch nichts zu spüren. | |
| Afara wurde in den letzten zwei Jahren zum Ziel der nach Europa reisenden | |
| Migrant:innen aus West- und Zentralafrika. Sabr Hamedi und seine Freunde | |
| sind froh, dass die Geflüchteten jetzt weg sind. Gleichzeitig sind sie auch | |
| ein wenig wehmütig. Denn mit ihrer Abreise ist auch eine Geldquelle | |
| verloren gegangen. 20.000 Menschen kamen über Algerien oder Libyen hierhin, | |
| schätzt Hamedi, der an der Universität von Sfax als Ingenieur lehrt. Als | |
| Tagelöhner auf Olivenhainen und kleineren Betrieben außerhalb von Sfax | |
| verdienen sie das nötige Geld, um die Überfahrt von einem der nahegelegenen | |
| Fischerdörfer nach Lampedusa zu finanzieren. Zudem profitierten die | |
| Einheimischen mit dem Vermieten von Wohnungen und Läden. Es war eine | |
| Win-Win-Situation, doch im Februar eskalierte die Lage mit einem | |
| vermeintlichen Mord. | |
| Ein paar Straßen weiter war damals ein aus Afara stammender Vermieter unter | |
| bis heute ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. „Es gab angeblich | |
| Streit mit Migrant:innen aus der Elfenbeinküste, die nicht wie | |
| abgesprochen zu viert, sondern mit doppelt so vielen Menschen eingezogen | |
| waren“, erinnert sich Hamedi. Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die | |
| Wut über die seit Beginn des Ukraine-Krieges rasant gestiegenen Preise, die | |
| wachsende Zahl neu eintreffender „Afrikaner“ und der Mord hätten zu ersten | |
| Straßenprotesten der Anwohner geführt, sagen die Nachbarn von Sabr Hamedi. | |
| Ihren Höhepunkt erreichte die Hetze mit einer Rede des [4][tunesischen | |
| Präsidenten Kais Saied] eine Woche nach dem Mord. Dieser hatte angesichts | |
| der Wirtschaftskrise an Popularität verloren und nutzte den Moment, um sein | |
| Image zu polieren. Öffentlich bezeichnete er die meist ohne gültige | |
| Aufenthaltsgenehmigung in Tunesien lebenden Migrant:innen als | |
| „Verschwörung gegen die arabische und islamische Identität“ Tunesiens. | |
| Stunden später rollte eine Welle der Gewalt durch Tunis und die 280 | |
| Kilometer südlich gelegene Industrie-und Handelsstadt Sfax. „Wir Anwohner | |
| beschlossen spontan, sie gemeinsam auf den Beb Jebli-Platz im Stadtzentrum | |
| zu treiben“, sagt ein Bewohner aus Afara. | |
| Mitte September ist die riesige Rasenfläche des Beb Jebli-Platzes | |
| menschenleer. Vergangene Woche schliefen auf dem Kreisel jede Nacht noch | |
| hunderte Menschen, die aus ihren Wohnungen vertrieben worden waren. Jetzt | |
| stehen hier nur Polizisten im Schatten der Straßenbäume und beobachten | |
| stumm des Geschehen. Das Geschäft mit den aus Algerien und aus Libyen | |
| eintreffenden Migranten wird wieder heimlich betrieben. | |
| Fast stündlich kommen Flüchtlinge aus dem [5][Sudan] und [6][Äthiopien] in | |
| Sammeltaxis am Beb Jebli an. Bis vor Kurzem vernetzten Mittelsmänner die | |
| Ankommenden nach wenigen Minuten mit Schmugglern und anderen Migrant:innen, | |
| die entlang der 50 Kilometer langen Küste nach Lampedusa fahren wollten. | |
| „Nun verlassen sie umgehend die Stadt oder verstecken sich“, sagt der | |
| Taxifahrer Osama. Seitdem die schwarz gekleideten Polizeieinheiten im | |
| Einsatz sind, muss auch er vorsichtig sein. Taxifahrern ist das Mitnehmen | |
| von Migrant:innen verboten. | |
| „Aber ich kenne die Schleichwege und drücke einigen Leuten ein wenig Geld | |
| in die Hand“, lacht er. Die umgerechnet 30 Euro, die ihm Migrant:innen | |
| für die 30 Kilometer von Ben Jebli nach El Amra zahlen, verdient der | |
| 35-Jährige sonst in zwei Tagen. Dass Sfax nun migrantenfrei ist, haben ein | |
| paar Nationalisten am Wochenende mit einer kleinen Demonstration gefeiert. | |
| „Aber für viele von uns war Migration die einzige wirklich lukrative | |
| Einnahmequelle, wir sehen mit Sorgen in die Zukunft.“, sagt ein anderer | |
| Taxifahrer. | |
| Um die ehemals in Sfax lebenden Menschen zu treffen, folgt man einfach den | |
| vielen Menschen, die am Straßenrand mit Rucksäcken und Wasserflaschen | |
| bepackt gen Norden gehen. Weil die Einsatzkommandos der Polizei nach | |
| Sonnenuntergang alle nicht Einheimischen einsammeln und am Stadtrand | |
| aussetzen, machen sich seit letztem Montag auch diejenigen auf den Weg, die | |
| bisher noch in Sfax ausgeharrt hatten. Ihr Ziel ist das Fischerdorf El | |
| Amra. | |
| Die Landstraße dorthin führt an Olivenfeldern und Fabriken vorbei. Hunderte | |
| Migrant:innen sind heute unterwegs. Am Straßenrand stehen vereinzelt | |
| junge Männer aus Westafrika, die sich dort das Geld für die Überfahrt nach | |
| Lampedusa verdienen. „Die 1.000 Dinar (umgerechnet 320 Euro), habe ich in | |
| zwei Wochen zusammen“, sagt der Nigerianer Jonathan und geht zurück in den | |
| Schatten eines Olivenbaumes. Zwei Männer aus der Elfenbeinküste gehen trotz | |
| der stechenden Sonne weiter, sie zeigen Vorbeifahrenden, dass ihre | |
| Plastikflaschen mit Wasser leer sind. | |
| „Ich habe kein Geld in der Tasche,“ sagt Issouf, seinen echten Nachnamen | |
| will er nicht nennen. Am Vortag hatte eine tunesische Marine-Patrouille ihr | |
| Boot mit 30 anderen Migranten vor Sfax aufgebracht. „Sie brachten uns in | |
| den Hafen von Sfax und sagten, wir sollen wegen des auffrischenden Windes | |
| ein paar Tage warten, bis wir es wieder probieren.“ Nun schlagen sich die | |
| beiden bis nach El Amra durch und arbeiten tageweise bei Bauern. | |
| „Spätestens in zwei Wochen probieren wir wieder, mit dem Boot nach | |
| Lampedusa zu gelangen“, sagt Issouf. | |
| Wenige Minuten in einem Café der kleinen Gemeinde El Ghroub, direkt am | |
| Stadtrand von Sfax, reichen, um zu verstehen, wie sich alle Akteure an die | |
| neue Lage anpassen. Statt in Sfax tümmeln sich die Migrant:innen jetzt | |
| hier. „Vor Kurzem hatte ich ein paar schlecht gelaunte Kunden am Tag und | |
| wollte dicht machen“, lacht der Besitzer Yassin. Auch er bittet, seinen | |
| Nachnamen und den Namen des Cafés nicht zu veröffentlichen. Ansonsten | |
| spricht er inmitten von mindestens 80 Gästen ganz offen über die | |
| Geschehnisse der letzten Tage. | |
| Ein sudanesischer Mittelsmann wäre zusammen mit einem Fischer aus dem Dorf | |
| aufgetaucht und habe nach Häusern gesucht. Wegen der günstigen Mieten und | |
| der Nähe zu dem Fischerhafen Sidi Mansour hatten sie den Ort als neuen | |
| Logistik-Hub für die sudanesischen Flüchtlinge ausgewählt. Die jungen | |
| Sudanesen sitzen in Yassins Cafe und spielen Karten. Als wir mit einigen | |
| ins Gespräch kommen wollen, legt ein in der Ecke sitzender Mann den | |
| Zeigefinger auf seine Lippen. Niemand traut sich, mit einem Journalisten zu | |
| sprechen. | |
| Im Minutentakt fahren junge Tunesier vor und handeln mit kleinen Gruppen | |
| von Gästen die Preise für die Überfahrt nach Lampedusa aus. Ein Lieferwagen | |
| aus Sfax bringt Matratzen und neue Ware für den Supermarkt. „Zuerst waren | |
| einige meiner Nachbarn sauer, dass hier plötzliche mehrere Hundert | |
| Sudanesen leben“, berichtet Yassin und zuckt mit den Schultern. „Ich habe | |
| sie daran erinnert, dass wir alle noch vor einem Jahr kaum Geld zum Essen | |
| hatten und es nun allen im Dorf wirtschaftlich gut geht.“ Ein Polizeijeep | |
| mit Beamten in Zivil fährt im Schritttempo vorbei. „Sie wissen Bescheid, | |
| was hier vor sich geht, aber sorgen nur dafür, dass alles friedlich | |
| bleibt“, sagt Yassin. | |
| Auch das selbst in Sfax bisher kaum bekannte Dorf El Amra erlebt durch die | |
| wachsende Zahl an Migrant:innen einen nie da gewesenen Wirtschaftsboom. | |
| In den Cafés sitzen die Migranten neben furchteinflößend dreinschauenden | |
| Fischern. „Ist doch klar, warum die Behörden jetzt alle hier zu uns | |
| bringen“, sagt Mohamad, der „Frikasse“- Brötchen in eine Fritteuse wirft. | |
| „Der Staat ist doch in Wirklichkeit gar nicht in der Lage das Phänomen der | |
| Migration zu begrenzen, so wie man es den Europäern versprochen hat. Daher | |
| hat man das Geschehen einfach in die entlegenen Dörfer verlagert. Aber | |
| glauben Sie mir, alle, die Sie hier sehen, sind spätestens im Oktober auf | |
| Lampedusa.“ | |
| In Sfax feiern die Medien derweil den Erfolg der Intervention aus Tunis. | |
| „Sfax ist wieder sauber“, sagt ein Moderator des Radiosenders [7][Diwan | |
| FM.] In der nächsten Woche will die Stadtverwaltung von Sfax damit | |
| beginnen, die Bürgersteige und Straßen zu renovieren und für die Ankunft | |
| der Touristen vorzubereiten. Viele Einheimische glauben, dass | |
| Migrant:innen wieder in die Stadt kommen, sobald die Sondereinheiten der | |
| Polizei weg sind. Und die Migration nach Lampedusa geht weiter. | |
| 21 Sep 2023 | |
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