| # taz.de -- Folgen der Inflation: Eine Plastiktüte voll Rechnungen | |
| > Brot, Gas, Socken, alles ist teurer geworden. Was heißt das für Menschen, | |
| > die sowieso schon wenig haben? Ein Tag in der Sozialberatung in | |
| > Senftenberg. | |
| Bild: Er versucht, die Menschen irgendwie wieder ins System zu bekommen: Volker… | |
| Als Nicole Müller das erste Mal zu Volker Hänneschen kam, hatte sie eine | |
| Plastiktüte voll Briefe in der Hand. Darin waren sehr viele Rechnungen. | |
| Bestimmt 300 Stück. Es gibt Menschen, die öffnen keine Briefe mehr. Volker | |
| Hänneschen fragt dann nicht nach den Gründen. Die wird es schon geben, | |
| denkt er sich. Seine Aufgabe ist, die Briefe der Leute zu öffnen. | |
| Die Plastiktüte von Nicole Müller hat Hänneschen in eine Excel-Tabelle | |
| übersetzt. Sie hat 108 Positionen. „Stromanbieter 188,20 Euro“, steht da. | |
| Oder: „Telefonrechnung 1.001,30 Euro“. Die Tabelle geht über sechs Seiten, | |
| sie versammelt unbezahlte Rechnungen aus zwei Jahrzehnten. Am Ende, unter | |
| dem Strich, steht die Gesamtverschuldung von Nicole Müller. 105.760,25 | |
| Euro. | |
| Volker Hänneschen ist Sozialarbeiter. Er arbeitet in der | |
| Sozialberatungsstelle der Caritas im brandenburgischen Senftenberg. Seit 30 | |
| Jahren kommen Menschen zu ihm, die Hilfe brauchen. Mit Rechnungen, mit | |
| Anträgen, mit Steuern, mit Behörden. Gerade werden es immer mehr. | |
| So eine Krise wie diese habe er noch nie erlebt, sagt Volker Hänneschen. | |
| Noch nie in den vergangenen drei Jahrzehnten habe sich die Armut so weit | |
| hoch in die Mittelschicht gefressen. Früher kamen zu Volker Hänneschen | |
| hauptsächlich Menschen wie Nicole Müller. Menschen, die keine Rechnungen | |
| mehr bezahlen können. Seit Beginn des Krieges kommen auch Menschen mit | |
| stabilen Einkommen, mit sicherer Rente oder auch solche, denen die Hilfe | |
| vom Amt eigentlich immer gereicht hat, erzählt er. Weil es jetzt eben nicht | |
| mehr reicht. | |
| Die Inflation in Deutschland ist so hoch wie seit 1951 nicht mehr. 2022 | |
| kostete die Energie 34,7 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die | |
| Nahrungsmittelpreise sind 2022 um 13,4 Prozent gestiegen. | |
| Für Menschen an der Armutsgrenze kann das den finanziellen Ruin bedeuten. | |
| Laut einer [1][Befragung der Hans-Böckler-Stiftung] leiden die Haushalte am | |
| meisten unter der Inflation, die ein Einkommen von weniger als 1.500 Euro | |
| netto haben. Rund die Hälfte dieser Menschen berichtet von einer starken | |
| finanziellen Belastung. | |
| Wie gehen arme Menschen damit um, dass sie jetzt noch weniger haben als vor | |
| der Inflation? | |
| Senftenberg ist eine Kleinstadt in Brandenburg. Etwa 23.000 Menschen wohnen | |
| hier, 40 Kilometer von Cottbus entfernt, in der Lausitz. Früher wurde im | |
| Tagebau Kohle abgebaggert. Mitte der 90er Jahre verschwand der Bergbau. Die | |
| Region galt als strukturschwach, es gab kaum noch Jobs. Aber die Lausitz | |
| hat sich davon erholt, ein bisschen zumindest. Heute sind die leeren | |
| Kohlegruben mit Wasser gefüllt. Die Lausitzer Seenlandschaft zieht | |
| Touristen an, knapp [2][700.000 Übernachtungen] gab es 2021. Trotzdem hat | |
| ein Haushalt hier [3][im Schnitt nur 20.790 Euro] im Jahr zum Leben. Damit | |
| gehört der Landkreis Oberspreewald-Lausitz immer noch zu den ärmsten in | |
| Brandenburg. | |
| Alle Namen in diesem Text – bis auf den von Volker Hänneschen – wurden | |
| geändert. Wer sich an die Beratungsstelle der Caritas wendet, soll anonym | |
| bleiben können. Der Reporter musste vor dem Termin versichern, keine echten | |
| Namen von Hilfesuchenden im Text zu verwenden. Die sind der taz aber | |
| bekannt. | |
| An diesem Januartag bietet Volker Hänneschen eine offene Sprechstunde an. | |
| Das heißt, jeder Mensch, der ein Problem hat, kann kommen. Es ist ein | |
| kalter Morgen. Gerade hat es noch gehagelt, aber jetzt scheint die Sonne. | |
| Im Warteraum der Beratungsstelle der Caritas sitzt bereits ein Pärchen. Der | |
| Raum ist lachsrosa gestrichen. Ein paar Stühle stehen hier, in der Ecke ein | |
| Tisch. Darauf liegen Legosteine. Die beiden warten seit 9 Uhr morgens, sie | |
| wollen pünktlich sein, denn das mögen die Deutschen. So hat man es ihnen | |
| auf dem Sozialamt gesagt. Er heißt Hassan Khalid, sie Djamila Khalid. Beide | |
| tragen Pudelmützen mit kleinen Bommeln auf dem Kopf. Djamila ist schwanger, | |
| im siebten Monat. | |
| Volker Hänneschen bittet die beiden in sein Büro. Sie setzen sich und | |
| fangen an zu erzählen. Sein Gehalt reicht zum Leben nicht aus. Er verdient | |
| netto 700 Euro bei einem Lieferdienst. Dann erhielten sie die | |
| Gasrechnungen. Dann wurde im Supermarkt alles teurer. Djamila bekam Angst, | |
| dass das Geld ausgeht, wenn das Baby da ist. „Wie sollen wir das bezahlen, | |
| wenn die Preise weiter so steigen?“, habe sie irgendwann ihren Mann | |
| gefragt. | |
| Eine Freundin erzählte ihr von „Anträgen“. Zettel, die man in Deutschland | |
| zum Amt bringt. Wenn man diese Anträge abgibt, dann kriegt man vielleicht | |
| Geld. Volker Hänneschen nickt. „Das machen wir. Wir stellen jetzt ganz | |
| viele Anträge.“ Er tippt auf seinem Computer. | |
| Sehr geehrte Damen und Herren. | |
| „So beginnen heutzutage alle Märchen“, sagt Hänneschen. Er tippt weiter. | |
| Ich erwarte am 23. April mein Kind. Deshalb beantrage ich Mehrbedarf für | |
| Schwangerschaft. | |
| Er verteilt die Überschriften über die Anträge. | |
| Antrag auf Mehrbedarf wegen Schwangerschaft | |
| Antrag auf Mehrbedarf wegen Umstandskleidung | |
| Antrag auf Mehrbedarf wegen Babyausstattung | |
| Volker Hänneschen druckt die Zettel aus. Djamila unterschreibt sie. | |
| Viele Menschen wissen nicht, was es alles für Anträge gibt. Woher auch, im | |
| Antragsland Deutschland. Das Kreissozialamt schickt sie dann zu Beratern | |
| wie Volker Hänneschen. Er weiß, wem wo und vor allem wie geholfen werden | |
| kann. „Kommen Sie wieder, wenn das Baby da ist. Dann stellen wir noch mehr | |
| Anträge.“ Die beiden nicken und bedanken sich. | |
| Die Bundesregierung hat auf die steigenden Preise mit mehreren | |
| Entlastungspaketen reagiert. Für Menschen wie die Khalids, bei denen Geld | |
| an jeder Ecke fehlt, seien die staatlichen Hilfen zu wenig, sagt Volker | |
| Hänneschen. „Da entscheidet dann so ein Antrag auf Mehrbedarf wegen | |
| Babyausstattung wirklich, was das Kind zu essen bekommt.“ Klar gebe der | |
| Staat gerade hohe Summen für die Unterstützung der Menschen aus. Aber die | |
| würden wie mit einer großen Gießkanne über dem Land ausgeschüttet. Manchen | |
| hilft das, manchen nicht. Das neue Wohngeld federe zum Beispiel die höheren | |
| Heizkosten ab, sagt Hänneschen. Aber eben nur pauschal mit 1,20 Euro pro | |
| Quadratmeter. „Am Existenzminimum ist das zu wenig.“ | |
| Volker Hänneschen wuchs in Finsterwalde im südlichen Brandenburg auf, 1984 | |
| kam er nach Senftenberg. Die Stadt war damals von einem grauen Schleier | |
| überzogen, erzählt er. Um Senftenberg herum gab es Brikettwerke. Aus den | |
| Schornsteinen kam schwarzer Ruß, der sich über die Stadt legte. | |
| ## Nicht in der Kohle versinken | |
| Die Biografien im Osten verliefen anders als im Westen. Mit 16 ging Volker | |
| Hänneschen von der Schule ab. Nur wenige machten damals Abitur, auch | |
| Hänneschen nicht. Er wollte in der DDR nicht linientreu sein, und zur Armee | |
| wollte er auch nicht. Volker Hänneschen arbeitete in der Grube, wie fast | |
| alle jungen Männer in Senftenberg. Er fuhr immer mit dem Moped hin. Nicht, | |
| weil das schneller ging, sondern weil er dann eine Ausrede hatte, wenn | |
| seine Kollegen um 10 Uhr vormittags anfingen, Schnaps zu trinken. | |
| Mit 19 kam das erste Kind. Dann die Heirat. 1990 verließ Volker Hänneschen | |
| die Kohle. Die Schichten passten nicht mehr zur Familie. Er wollte nicht | |
| wie seine Kollegen „in der Kohle versinken“, sagt er, „gebrochene Männer… | |
| nennt er sie. | |
| Volker Hänneschen leistete Zivildienst bei der katholischen Kirche. Das war | |
| der erste Kontakt zur Caritas. Es stellte sich heraus, dass er gut mit | |
| Menschen kann. Er holte das Abitur nach. Sein Chef schickte ihn nach | |
| Berlin, zum Studium der Sozialarbeit. In Berlin-Karlshorst, auf die | |
| Katholische Hochschule für Sozialwesen. 1992 wurde dann die | |
| Sozialberatungsstelle der Caritas in Senftenberg gegründet. Volker | |
| Hänneschen trug die Büromöbel in das kleine Haus am Ende der Senftenberger | |
| Fußgängerzone, half während des Studiums immer wieder aus. Und blieb. | |
| „In Senftenberg haben die Menschen andere Probleme als in Darmstadt oder | |
| Göppingen“, sagt Hänneschen. Seit in der Lausitz keine Kohle mehr abgebaut | |
| wird, kann man im Tourismus arbeiten oder bei einem großen Paketversand, | |
| der in der Nähe ein Lager hat. Viel mehr Jobs gibt es nicht. Auch deshalb | |
| hat Volker Hänneschen gut zu tun. | |
| Eine der vielen Menschen, die er in den 30 Jahren als Berater kennengelernt | |
| hat, ist Helena Mägritz. Sie bekommt Sozialhilfe. Das Geld ist an jeder | |
| Ecke knapp. Jetzt wurde ihre Miete erhöht, der Preis für das Gas auch. Vor | |
| zehn Jahren verbrannte eines ihrer Kinder. Es spielte mit Streichhölzern. | |
| Die Wohnung fing Feuer. Das Kind starb. Seitdem ist Helena Mägritz schwer | |
| traumatisiert. Sie konnte nicht mehr arbeiten. Irgendwann kam sie mit den | |
| Anträgen für die Grundsicherung und andere Hilfen nicht mehr mit. So | |
| landete sie in der Beratung von Hänneschen. | |
| „Hallo Helena“, sagt Volker Hänneschen. „Um was geht es heute?“„Um d… | |
| Onkel“, sagt Helena Mägritz. | |
| Ihr Onkel ist seit Oktober bei ihr untergebracht. Er ist pflegebedürftig. | |
| Ein Heim war zu teuer, deshalb kümmert sich jetzt Helena Mägritz um ihn. | |
| Aber finanziell ist das schwierig. Der Pflegedienst kommt täglich. Der | |
| Onkel muss Tabletten nehmen. Beim Aufräumen fand Helena Mägritz irgendwann | |
| die Tabletten im Schrank. Der Onkel nahm sie nicht mehr. Warum, kann sie | |
| nicht sagen. Helena Mägritz will jetzt Pflegegeld für ihren Onkel | |
| beantragen. Sie fragt, ob sie weniger Grundsicherung bekomme, wenn der | |
| Antrag auf Pflegegeld genehmigt werde? | |
| Volker Hänneschen erklärt ihr, dass die Sozialhilfe und das Pflegegeld | |
| verschiedene Dinge sind. Das Amt werde ihr schon nichts wegnehmen. Er redet | |
| ruhig, nimmt sich Zeit. | |
| Sie sagt, dass durch die Pandemie und die Inflation „der ganze Scheiß“ noch | |
| schwieriger geworden sei. „Wir kommen von einer Krise in die nächste.“ Das | |
| gilt für Deutschland, aber eben auch für sie persönlich. Die Gasrechnung | |
| steigt. Sie bezahlt. Der Onkel braucht Pflege. Sie bezahlt. Die Kinder | |
| brauchen neue Schulsachen. Sie bezahlt. Nie reiche das Geld. | |
| Es sei messbar, dass die derzeitigen Krisen vor allem die mit dem wenigsten | |
| Einkommen im Land treffen, sagt Bettina Kohlrausch vom Wirtschafts- und | |
| Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. „Wer weniger | |
| Geld hat, leidet gerade mehr.“ Die [4][Hans-Böckler-Stiftung hat erhoben], | |
| dass unter den Einkommensärmsten die Hälfte von starken finanziellen | |
| Belastungen berichtet. Bei einem Einkommen von 2.000 bis 3.500 Euro sind es | |
| unter den Befragten rund ein Viertel, bei den Einkommensreichsten lediglich | |
| 8 Prozent. In der Erhebung wurden nur Menschen befragt, die erwerbstätig | |
| sind. Für Menschen ohne Job ist die finanzielle Belastung noch mal höher, | |
| ist sich Bettina Kohlrausch sicher. | |
| Und auch die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände berichtet | |
| von einer [5][deutlich gestiegen Nachfrage] im Jahr 2022. Die Menschen | |
| wendeten sich vermehrt wegen Energie- oder Mietschulden an die | |
| Anlaufstellen, ergab eine gerade veröffentlichte Umfrage. Oder sie | |
| benötigten eine Budgetberatung. Was so viel heißt wie: Sie kommen mit dem | |
| Geld, das sie zum Leben haben, nicht mehr hin. | |
| ## „Hügel, Wälder, Wiesen, Felder?“ | |
| Als Helena Mägritz geht, sitzt schon der Nächste in Hänneschens Warteraum. | |
| Ungeduldig spielt er mit den Legosteinen auf dem Tisch. Christopher Heuer | |
| ist etwas über 60 Jahre alt. Er stammt aus einer reichen | |
| Unternehmerfamilie. Zum Schutz seiner Persönlichkeit wurden einzelne | |
| Details wie Aufenthaltsorte und Familienverhältnisse in diesem Text | |
| geändert. | |
| Seine Familie habe ihn enterbt, als er 18 war, erzählt er. Warum, tue hier | |
| nichts zu Sache. Nur so viel: Er habe „ziemliche Scheiße“ gebaut, und sein | |
| Vater habe seinen Zustand ausgenutzt, als er am Boden war. Jetzt, 40 Jahre | |
| später, ist er wieder am Boden. Die Firma führt heute sein Bruder. Zur | |
| Familie hat er keinen Kontakt mehr. | |
| „Was führt Sie hierher?“, fragt Hänneschen ungerührt. | |
| „Ich bin jetzt Hartz-Mensch“, sagt Heuer. | |
| „Hubertus-Pfennig meinen Sie, Hartz IV gibt’s nicht mehr“, sagt Hännesch… | |
| „Ach ja. Egal, auf jeden Fall kriege ich was vom Amt“, sagt Heuer. „Aber | |
| ich verstehe das alles nicht. Dafür war ich zu lange weg.“ Das Jobcenter | |
| habe ihn hierher geschickt, da seine Lage etwas „unübersichtlich“ sei. | |
| Christopher Heuer besaß Diskotheken und Kneipen in ganz Deutschland. So | |
| erzählt er es. Manche liefen, manche liefen nicht. Er häufte Schulden an. | |
| Irgendwann setzte er sich nach Italien ab. Wann genau, weiß er nicht mehr. | |
| Dort versuchte er sich als Kunsthandwerker. Er eröffnete wieder eine | |
| Diskothek. Dann kam die Pandemie. Er habe in diesen Club investiert, Corona | |
| habe ihm das letzte Geld aus der Tasche gezogen. „Ich habe ein schönes | |
| Leben gelebt“, sagt Heuer. „Aber irgendwann war es gut.“ Er habe Kinder, | |
| die in Deutschland leben. Und die wollte er wiedersehen. Deshalb kam er | |
| Ende 2022 zurück. Im Landkreis Senftenberg vermietete ihm ein alter Freund | |
| eine Wohnung. Zwei Zimmer, 360 Euro. Heuer meldete sich beim Amt an. Zum | |
| ersten Mal seit fast 10 Jahren hatte er eine deutsche Adresse. Es dauerte | |
| gerade mal zwei Wochen, bis sich die ersten Gläubiger meldeten. | |
| „Besitzen Sie noch irgendwas? Hügel, Wälder, Wiesen, Felder?“, fragt | |
| Hänneschen. „Alles weg. Seit Jahren“, sagt Heuer. Er greift in eine | |
| Plastiktüte und legt einen Zettel auf den Tisch. „Das ist der Anfang.“ Der | |
| Brief eines Inkassounternehmens. Ein Kostenfestsetzungsbeschluss von 1999. | |
| Christopher Heuer schuldet einem ehemaligen Lieferanten 123.405,57 Euro. | |
| Solche Geschichten gibt es viele im Leben von Christopher Heuer. Nach einer | |
| halben Stunde hat er einige davon erzählt. | |
| „Okay“, sagt Volker Hänneschen und kratzt sich am Kopf. „Fangen wir an. … | |
| Urteil ist von 1999. Das verjährt nach 30 Jahren. Da sie eh nicht zahlen | |
| können, warten Sie einfach mal ab.“ Stück für Stück. Ein Problem nach dem | |
| anderen. „Dann müssen Sie Privatinsolvenz anmelden.“ Volker Hänneschen | |
| erklärt Heuer, dass er bei einer privaten Insolvenz einen Freibetrag von | |
| 1.340 Euro hat. Trotz seiner Schulden. Von dem soll er leben und die Füße | |
| stillhalten. Sich wieder bei der gesetzlichen Krankenkasse anmelden. | |
| Schritt für Schritt ins Leben in Deutschland zurück. Hänneschen und Heuer | |
| sprechen noch eine Stunde. In einem Monat haben sie wieder einen Termin. | |
| „Ich bin gespannt, ob er wieder auftaucht“, sagt Hänneschen, als Heuer sein | |
| Büro verlassen hat. „Eigentlich muss er. Alleine kriegt er das niemals | |
| hin.“ | |
| Bei den Gesprächen in seinem Büro bleibt Volker Hänneschen stoisch. Es ist | |
| nicht so, dass ihn die Schicksale kalt lassen würden. Eher, als habe er das | |
| alles schon mal gehört. Er ist wie ein Automat, der Lösungen ausspucken | |
| muss. Es sei eigentlich ganz simpel, sagt er. Wer zu wenig Geld hat, dem | |
| müsse er mehr Geld beschaffen. Dass sei seine Aufgabe im Papierkrieg. | |
| Es gibt eine Frage, die sich in Volker Hänneschens Büro aufdrängt: Warum | |
| muss diesen Job hier die Caritas machen? Warum hilft sie Menschen wie | |
| Christopher Heuer oder Djamila Khalid? Warum tut das nicht der Staat? | |
| Bei der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit erreicht man Jana Molle. | |
| Sie ist Professorin an der Hochschule Bremen und forscht zu Schnittstellen | |
| zwischen Jobcentern und Sozialberatungsstellen. Nicht nur die Caritas, auch | |
| die Diakonie, die Arbeiterwohlfahrt, der Paritätische Wohlfahrtsverband, | |
| das Rote Kreuz, Erwerbsloseninitiativen – alle bieten eine ähnliche | |
| kostenlose Sozialberatung wie Volker Hänneschen an. Jana Molle sagt: „Diese | |
| Beratungsstellen sind essenziell, weil sie die Lücke zwischen Bürgerinnen | |
| und Bürgern und der Sozialverwaltung schließen.“ | |
| Die Regierung hingegen ist zögerlich, was staatliche Sozialberatung angeht. | |
| Denn viele Politikerinnen und Politiker sind der Auffassung, dass da eine | |
| Doppelfinanzierung vorliegt. Behörden wie zum Beispiel das Jobcenter haben | |
| eine Beratungs- und Auskunftspflicht. „Eigentlich kann ich mit meinem | |
| Bescheid zum Jobcenter gehen und sagen: Ich verstehe das nicht“, sagt Jana | |
| Molle. Aber die Realität ist eine andere. „Menschen sehen die Jobcenter oft | |
| nicht auf ihrer Seite.“ Deswegen, sagt Molle, sind staatlich unabhängige | |
| Beratungsstellen wie die der Caritas so wichtig. | |
| Und dann ist da noch die Komplexität. Christopher Heuer, Hassan Khalid, | |
| Helena Mägritz, Nicole Müller – sie alle wurden von verschiedenen Ämtern zu | |
| Volker Hänneschen geschickt. Weil ihre Anliegen zu komplex sind für ein | |
| einzelnes Amt. „Jobcenter bieten generalisierte Beratungsangebote an“, sagt | |
| Molle. „Aber Armut ist vielschichtig. Wenn die Leute gleichzeitig noch | |
| Probleme mit anderen Leistungsträgern haben, dann kann das Jobcenter auch | |
| nicht immer helfen.“ Auch deshalb seien die Sozialberatungsstellen wichtig. | |
| „Wir brauchen sie, weil sie Barrieren zu Leistungen überschreiten helfen.“ | |
| ## Schlaganfall im Asylbewerberheim | |
| Die Sonne steht inzwischen tief und scheint durch die Jalousien in das Büro | |
| von Volker Hänneschen. Die nächste Person stellt sich als Kirsten Bödmayer | |
| vor. Hinter ihr steht ein Mann, deutlich jünger als sie. Er kam aus Indien | |
| nach Deutschland. Wann und wie, weiß er nicht mehr. Er lebt in einer | |
| Unterkunft für Asylbewerber in Senftenberg. | |
| „Können Sie uns bei einem Asylverfahren helfen?“, fragt Kirsten Bödmayer. | |
| „Nein“, sagt Hänneschen. „Damit kenne ich mich nicht genug aus. Wenn ich | |
| hier ein falsches Kreuz setze, dann wird er abgeschoben. Das will ich | |
| nicht.“ | |
| Dann erzählt Kirsten Bödmayer, dass es ihr eigentlich um einen | |
| Schwerbehindertenausweis geht. Der Mann brauche finanzielle Unterstützung. | |
| „Weil ja alles teurer geworden ist“, sagt Bödmayer. | |
| „Es gibt da einen Spruch vom Paritätischen Wohlfahrtsverband“, sagt Volker | |
| Hänneschen. „Gegen Armut hilft Geld.“ Vor allem bei langfristigen Hilfen | |
| werde es kompliziert, etwa Menschen in Jobs bekommen oder bei | |
| Integrationshilfen. Aber das passiere alles später, sagt Hänneschen. „Jetzt | |
| müssen wir ihn erst mal ins System kriegen.“ | |
| „Zusätzliche Mittel“ für den Mann, nennen wir ihn Rashid Kumar, kann er | |
| erst mit einem Ausweis beantragen. Und den Schwerbehindertenausweis kann | |
| Bödmayer erst beantragen, wenn sie auch Asyl beantragt. | |
| Anträge, Anträge, Anträge. | |
| Volker Hänneschen überlegt kurz. Dann bittet er die beiden, sich zu setzen | |
| und die ganze Geschichte zu erzählen. | |
| Rashid Kumar wohnt in einem Asylbewerberheim. Kirsten Bödmayer ist seine | |
| Nachbarin. Sie hielten jeden Tag ein Schwätzchen am Zaun. Eines Morgens | |
| tauchte er nicht auf. Den Tag danach auch nicht. Sie fragte in der | |
| Unterkunft nach. Niemand hatte ihn gesehen. Kirsten Bödmayer klopfte an | |
| seine Zimmertür. Niemand öffnete. Sie hatte seinen Zweitschlüssel, falls er | |
| sich mal ausschloss. Rashid Kumar lag leblos in seinem Bett. Die Sanitäter | |
| sagten später, dass er einen Schlaganfall hatte. Ein Helikopter brachte ihn | |
| nach Berlin in die Charité. Er überlebte knapp. | |
| „Seitdem ist nichts mehr wie vorher“, sagt Kirsten Bödmayer. Weil er sich | |
| allein nicht mehr versorgen konnte, übernahm sie die Vollmacht. Jetzt will | |
| sie einen Behindertenausweis für ihn beantragen, um weitere Leistungen | |
| beziehen zu können. Das Problem: Rashid Kumar hat keinen Pass. Nur einen | |
| Duldungsschein. Die indische Botschaft will ihm keinen neuen Ausweis | |
| ausstellen. Asyl beantragen kann aber nur, wer ein Dokument vorweisen kann. | |
| „Uff“, sagt Volker Hänneschen heute zum ersten Mal. Er sieht sich den | |
| Antrag an, den Kirsten Bödmayer mitgebracht hat. „Dann mal los“, sagt er. | |
| Die beiden füllen den Antrag für den Schwerbehindertenausweis aus. Viele | |
| Fragen sind nicht zu klären, weil Rashid seit dem Schlaganfall | |
| Erinnerungslücken hat. Wo ist er geboren? Wie lange ist er schon in | |
| Deutschland? Hat er schon mal Asyl beantragt? | |
| Als sie gegangen sind, atmet Hänneschen durch. Er ist sich sicher, der | |
| Antrag wird abgelehnt. Wegen der Lücken. | |
| Wer durch das soziale Netz fällt, den treffen die Kosten der Inflation | |
| besonders stark. „Genau diese Lücke versuchen wir hier zu schließen“, sagt | |
| Volker Hänneschen. „Die Ärmsten der Armen leiden gerade am meisten. An die | |
| wollen wir rankommen.“ | |
| Allein an diesem Tag hat Volker Hänneschen zwölf Schicksale gehört. Alle | |
| sehr unterschiedlich, alle in ihren Einzelheiten schlimm. | |
| Wie geht Volker Hänneschen damit um? „Sport“, sagt er. Wenn es in der Früh | |
| nicht hagelt so wie heute, dann fährt Hänneschen mit dem Fahrrad in die | |
| Beratungsstelle. Er wohnt über 30 Kilometer entfernt von Senftenberg. Auch | |
| das hilft. Abstand. | |
| Über seinem Schreibtisch hängt eine Fotoleinwand, die hat er sich im | |
| Drogeriemarkt bestellt. Sechs Bilder von Berglandschaften, einem | |
| Wanderrucksack, Gletscher, Schnee. Im Sommer hat er eine Alpenüberquerung | |
| gemacht. E5, ganz alleine. Sechs Tage, 104 Kilometer. „Da wirst du den Kram | |
| los.“ | |
| Sozialberatung, sagt Hänneschen, verstehe er als knallharten Pragmatismus. | |
| Er stelle sich immer nur die eine Frage: Was kann ich tun, dass diese | |
| Person irgendwie einen Schritt weiter aus der Armut kommt? Helfen, sagt er, | |
| sei auf diese Weise sein Lebensinhalt geworden. Schnittstellen finden im | |
| sozialen System. Hochkomplexe Sozialfälle – wie Rashid Kumar, Christopher | |
| Heuer oder Helena Mägritz – irgendwie wieder in das System reinkriegen. | |
| Darin sehe er seine Aufgabe. | |
| ## Stück für Stück | |
| Wir gehen jetzt noch mal zurück zum Anfang. Zur Plastiktüte von Nicole | |
| Müller, die den ganzen Tag im Büro von Volker Hänneschen auf dem | |
| Linoleumfußboden stand. Über ein Jahr brauchte Volker Hänneschen, um das | |
| Leben von Nicole Müller zu ordnen. Er hat immer nur eine Bedingung für | |
| seine Hilfe: keine neuen Schulden. Bis jetzt klappt das bei Nicole Müller. | |
| Volker Hänneschen kennt Müllers ganze Familie. Nicoles Mutter war schon | |
| hier in der Sozialberatung, vor 20 Jahren. Damals war sie so hoch | |
| verschuldet, dass sie fast ihre Wohnung verlor. Hänneschen konnte das | |
| verhindern. Nicole Müller kommt auch zu ihm. Sie ist Anfang 40. „Kinder | |
| übernehmen die Handlungen ihrer Eltern“, sagt Volker Hänneschen. Die beiden | |
| Kinder von Nicole Müller hat er ebenfalls im System. Auch sie sind | |
| inzwischen verschuldet. Die Gasrechnungen, die Stromrechnungen, die | |
| Handyverträge. Streamingabos, Online-Shopping. Irgendwann verloren auch sie | |
| die Übersicht. | |
| „Es gibt Menschen“, sagt Volker Hänneschen, „für die sind die aktuellen | |
| Krisen irrelevant. Deren Probleme sind so fundamental, da macht die | |
| Inflation den Kohl auch nicht mehr fett.“ Ein solcher Fall sei Nicole | |
| Müller. Trotzdem gebe es Hoffnung. Wenn man Stück für Stück vorgehe, könne | |
| man jedes finanzielle Problem lösen. „Egal wie aussichtslos es erscheinen | |
| mag.“ | |
| Nicole Müller hat in zwei Wochen ihren nächsten Termin bei Volker | |
| Hänneschen. Die Plastiktüte bewahrt er für sie auf. Sie wollte sie nicht | |
| mehr in ihrer Wohnung haben. Aber sie will sich kümmern. Ein paar | |
| Positionen in der Exceltabelle sind schon abgearbeitet. | |
| 4 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-relativ-hohe-zufriedenhe… | |
| [2] https://www.lausitzerseenland.de/de/service-fuer-touristiker/artikel-zahlen… | |
| [3] https://www.wsi.de/de/einkommen-14582-einkommen-im-regionalen-vergleich-404… | |
| [4] https://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2022_12_20.pdf | |
| [5] https://www.agsbv.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Niko Kappel | |
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