| # taz.de -- Forscherin zu Sozialleistungen: „Verzicht als legitime Kritik“ | |
| > Warum wollen Menschen kein Geld vom Staat, obwohl sie Anspruch darauf | |
| > haben? Die Sozialwissenschaftlerin Jennifer Eckhardt glaubt: auch aus | |
| > Protest. | |
| Bild: Lieber einen leeren Kühlschrank, als sich im Jobcenter demütigen lassen | |
| taz: Frau Eckhardt, wer in Deutschland arbeitslos ist, hat Anspruch auf | |
| Arbeitslosengeld. Doch es gibt Menschen, die darauf verzichten. Wie viele | |
| sind das? | |
| Jennifer Eckhardt: Die letzten Schätzungen gingen von rund 40 Prozent der | |
| Anspruchsberechtigten aus – im Bereich Arbeitslosengeld II. | |
| So viele? | |
| Ja. Und es gibt noch viele weitere Sozialleistungen. Wohngeld zum Beispiel. | |
| Wenn man alle Leistungen anschauen würde, dann kann man von noch höheren | |
| Zahlen ausgehen. Genaue Zahlen haben wir dazu aber derzeit nicht. | |
| Wissen viele Menschen einfach nicht, dass sie einen Anspruch auf | |
| Sozialleistungen haben? | |
| Diese Situation der vollkommenen Unwissenheit gibt es, glaube ich, kaum. | |
| Außer wenn es um besondere Zugangsprobleme geht, wie zum Beispiel bei | |
| Flucht oder Behinderung. Bei Sprachbarrieren ist es noch mal schwieriger. | |
| Sie haben im Rahmen Ihrer Forschung mit Menschen gesprochen, die ganz | |
| bewusst auf Sozialleistungen verzichten. | |
| Das ist ein Problem, das selten gesehen wird. Wir sprechen viel über | |
| Sozialleistungsmissbrauch und Behördenversagen. Die Nichtinanspruchnahme | |
| findet im öffentlichen Diskurs aber kaum statt. Dabei zeigt sie ganz | |
| wesentlich an, dass etwas nicht funktioniert. Da sind Menschen, die sagen: | |
| „Das, was ihr da tut, das lehne ich ab.“ | |
| Was sind das für Menschen? | |
| Das sind Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Ich habe früher | |
| in der Straßensozialarbeit gearbeitet, im Dortmunder Norden. Dort gibt es | |
| einen Platz, da kommen Wohnungslose, Drogenabhängige, aber auch Leute, die | |
| nach der Arbeit ihr Feierabendbier trinken wollen, zusammen. Und da ist mir | |
| das Thema immer vor die Füße gefallen, Nichtinanspruchnahme betraf viele, | |
| die da rumsaßen. | |
| Von potenziellen Bafög-Empfänger*innen über Prostituierte, die Anspruch auf | |
| Wohngeld gehabt hätten bis zu Handwerkern, die aufstocken hätten können und | |
| Rentner*innen, die Angst um ihre kleine Eigentumswohnung hatten. Als | |
| Wissenschaftlerin habe ich dann später versucht, in dieser sozialen Praxis | |
| des Verzichts Regelmäßigkeiten zu finden. | |
| Und? | |
| Ich konnte in meiner Untersuchung mit Menschen sprechen, die eine bejahende | |
| Haltung zum Sozialstaat haben, auch zu einem Sozialstaat, der viel von | |
| Leistungsempfänger*innen fordert. Aber die selbst nicht in dieser Art | |
| und Weise gegängelt werden wollen. Für andere ist der Verzicht eine | |
| politische Positionierung. | |
| Also Aktivismus? | |
| Zwei meiner Gesprächspartner*innen leben in einer sozialistischen | |
| Selbsthilfe – ohne Hilfe vom Staat. Sie wollen demonstrieren, dass man | |
| anders leben kann. Aber das ist ein Punkt, an den man erst mal kommen muss: | |
| Die Dinge als nicht gegeben sehen, sondern als veränderbar. | |
| Wenn jemand tagtäglich nur damit beschäftigt ist, sich irgendwie über | |
| Wasser zu halten, dann ist das schwierig. Und das gibt es auch: Menschen, | |
| die auf Essen verzichten. Da gibt es dann eine Woche lang Reis, eine Woche | |
| lang Nudeln und dann eine Woche warmes Wasser, bis dann von irgendwo wieder | |
| ein bisschen Geld reinkommt. | |
| Warum verzichten Menschen auf Geld, wenn sie dann unter solchen Bedingungen | |
| leben müssen? | |
| Manche Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind über Jahre mit dem | |
| Sozialsystem in Berührung gekommen und haben über Jahre Zumutungen | |
| erlitten. Eine Person hat mir erzählt, dass sie im Jobcenter als Missgeburt | |
| bezeichnet worden sei, als zu alt, als zu kaputt für den Arbeitsmarkt. | |
| Einer anderen Person, einem gelernten Feinmechaniker, sei gesagt worden, er | |
| habe nichts gelernt, er sei zu alt. Er hat eine schwere Depression und das | |
| auf seinen Kontakt mit dem Jobcenter zurückgeführt. Diese Menschen haben | |
| durch den Verzicht der Zumutung ein Ende gesetzt und sich ihrer eigenen | |
| Menschenwürde wieder versichert. | |
| Ließe sich die Nichtinanspruchnahme auch als ein Mittel zur | |
| Selbstermächtigung bezeichnen? | |
| Ja, das würde ich sagen. Es geht auch um das Ausleben eines Eigensinns, | |
| darum zu sagen: „Ich bin ich und nicht nur euer [1][Hartz-IV-Empfänger].“ | |
| Müssen wir anders über Bedürftigkeit sprechen? | |
| Das Prinzip Eigenverantwortung führt dazu, dass wir uns selbst | |
| Bedürftigkeit nicht zugestehen. | |
| Und dann kommt uns auch immer mehr die Fähigkeit abhanden, die | |
| Bedürftigkeit des anderen zu sehen. In den Augen der Mehrheitsgesellschaft | |
| hat es der erwachsene, erwerbsfähige Mensch mitunter nicht verdient, | |
| unterstützt zu werden, weil er ja erwachsen und erwerbsfähig ist. Der ist | |
| selbst schuld. Aber jeder hat einen Grund, warum er oder sie in eine | |
| Situation geraten ist, die den Empfang von Sozialleistungen notwendig | |
| macht. | |
| Ist es ein Problem für den Sozialstaat, wenn sich Menschen so von ihm | |
| abwenden? | |
| Wenn man daran zweifelt, dass einem der Staat, in dem man lebt, etwas Gutes | |
| möchte, dann ist das mit Sicherheit kein guter Indikator für das Verhältnis | |
| zwischen Bürger*innen und Staat. Es ist ja kontraintuitiv, dass jemand | |
| finanzielle Hilfen ablehnt. Ich fände es schön, wenn der Verzicht als | |
| legitime Kritik anerkannt werden würde von Menschen, die vielleicht sonst | |
| keine Stimme haben. Das ist eine sehr stille, aber sehr deutliche Kritik an | |
| der Art und Weise, wie der Sozialstaat ausgestaltet ist. | |
| Ändert [2][das Bürgergeld] etwas daran? | |
| Der Armutsforscher Christoph Butterwegge hat das Bürgergeld als Reformruine | |
| bezeichnet. Das, [3][was vom Bürgergeld übrig geblieben ist], hat wenig mit | |
| dem zu tun, wofür es mal intendiert war. | |
| Hat der Sozialstaat überhaupt ein Interesse daran, dass mehr Menschen | |
| Sozialleistungen in Anspruch nehmen? Wenn rund 40 Prozent der Berechtigten | |
| auf Arbeitslosengeld II verzichten, spart der Staat ja auch eine Menge | |
| Geld? | |
| Das müssen Sie Ökonom*innen fragen, die könnten das besser beantworten. | |
| Aber man kann eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass offenbar kein | |
| Interesse daran besteht. In vielen anderen Ländern werden Maßnahmen | |
| ergriffen, um die Nichtinanspruchnahme zu reduzieren. Da werden | |
| regelmäßig Erhebungen gemacht. Da wird berichtet. Das ist in Deutschland | |
| nicht der Fall. | |
| 12 Mar 2023 | |
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| Oskar Paul | |
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