# taz.de -- Flucht aus Afghanistan: Die Mauern werden höher | |
> Die Türkei wird zur Falle für aus Afghanistan geflohene Menschen. In | |
> Abstimmung mit den Taliban wird nach Afghanistan abgeschoben. | |
Bild: In einem türkischen Abschiebegefängnis: Afganische Geflüchtete, die ü… | |
VAN/IZMIR/BERLIN taz | Seit die Taliban im August 2021 die [1][Macht in | |
Afghanistan] zurückeroberten, ist die Lage in dem Land [2][für viele | |
Menschen gefährlicher denn je]. Doch wem die Flucht gelingt, der muss in | |
dem wichtigen Transitstaat Türkei mit einer Auslieferung an die Taliban | |
rechnen. Der Generaldirektor für die Bekämpfung irregulärer Migration und | |
Abschiebungsangelegenheiten, Ramazan Seçilmen, erklärte im Dezember 2022, | |
dass in jenem Jahr 61.617 Menschen nach Afghanistan abgeschoben worden | |
seien. | |
Einer von ihnen ist Mohammad Javad Jafari. Der 24-jährige Afghane war 2020 | |
aus dem Iran in die Türkei geflohen, um sich weiter nach Europa | |
durchzuschlagen. Im Iran hatte er keinen Aufenthaltsstatus, musste ständig | |
mit einer Abschiebung nach Afghanistan rechnen. Jafari ist Angehöriger der | |
ethnischen Minderheit der Hazara. Eine Rückkehr nach Afghanistan wäre für | |
ihn lebensgefährlich gewesen, vor allem nach der Machtübernahme der | |
Taliban. | |
Seit 2021 baut die Türkei eine Hunderte Kilometer lange Mauer entlang der | |
Grenze zum Iran. Jafari gelang es mit zwei Neffen, diese Mauer zu | |
überwinden. Im November 2022 reiste er alleine weiter nach Istanbul, um von | |
dort aus den Evros-Fluss nach Griechenland zu überqueren. Die türkische | |
Polizei fasste ihn bei dem Versuch und brachte ihn in das | |
Abschiebegefängnis in Bursa am Marmarameer. Auf dem Gebäudekomplex prangt | |
das Wappen der Europäischen Union, denn sie hat den Bau mitfinanziert. | |
Dort versuchte er, Asyl zu beantragen, verlangte, Zugang zu einem | |
Rechtsbeistand zu bekommen. Doch die Behörden verweigerten ihm dies. | |
„Niemand hat mich gefragt, warum ich in die Türkei gekommen bin. Im | |
Gefängnis sagten sie zu mir, die Taliban werden entscheiden, ob ich | |
hierbleiben kann“, so berichtet Jafari es später telefonisch einer | |
Sozialarbeiterin des Sozialen Zentrums Yaşamak (Dt.: „Leben“) in Izmir, die | |
er vor seiner Festnahme in der Türkei kennengelernt hatte. | |
## Taliban zu Besuch in den Abschiebeknästen | |
Die Gefängniswärter in Bursa arrangierten einen Videocall nach Afghanistan. | |
Jafari wurde dabei den Taliban vorgeführt. Innerhalb weniger Minuten hätten | |
diese entschieden, seiner Abschiebung nach Afghanistan zuzustimmen. Jafari | |
vermutet, dies lag an seinem äußeren Erscheinungsbild, das ihn als Hazara | |
erkennbar macht. | |
Die Taliban sind nicht nur online in der Türkei präsent. Anwält:innen | |
berichten, dass „afghanische Diplomaten“ systematisch die | |
Abschiebegefängnisse in der Türkei besuchen. Von denen gibt es offiziell 25 | |
im Land, zusätzlich existieren diverse informelle Haftorte und geschlossene | |
Lager. | |
Die politische Stimmung in der Türkei ist im [3][Vorwahlkampf] rassistisch | |
aufgeladen. Die großen Parteien – sowohl von der Regierung als auch der | |
Opposition – überbieten sich mit Versprechungen, die Abschiebezahlen zu | |
erhöhen. | |
Die türkischen Grenzen werden immer strenger bewacht: Nachdem die Türkei | |
zunächst an der syrischen Grenze auf fast 900 Kilometern eine | |
hochaufgerüstete Grenzanlage mit modernen Überwachungstechnologien, | |
Drohnen, gepanzerten Fahrzeugen und sogar Selbstschussanlagen errichtete, | |
wurde das Projekt auch auf die Grenze zum Iran ausgeweitet – der | |
[4][Fluchtroute aus Afghanistan]. Die drei Meter hohe Mauer in der Region | |
Van ist inzwischen 297 Kilometer lang. | |
## Zurückgedrängt ohne asylrechtliche Prüfung | |
Finanziert wurde die Anlage nach Angaben des türkischen | |
Migrationsministeriums zum Teil von der Europäischen Union – mit Zuschüssen | |
von 108 Millionen Euro. Wer es schafft, die Mauer zur Türkei zu überwinden, | |
lebt häufig illegalisiert im Land: Seitdem das UN-Flüchtlingshilfswerk | |
UNHCR 2018 die Registrierung von Schutzsuchenden an die Türkei übergab, | |
sind viele Migrationsbüros geschlossen. Immer weniger Menschen können sich | |
daher in der Türkei als Geflüchtete anmelden. | |
Im November 2022 hatte die NGO Human Rights Watch den Bericht „No One Asked | |
Me Why I Left Afghanistan“ veröffentlicht. Er dokumentiert, wie die Türkei | |
routinemäßig Zehntausende Afghanen an ihrer Landgrenze zum Iran | |
zurückdrängt oder sie nach Afghanistan abschiebt, ohne ihre Ansprüche auf | |
internationalen Schutz zu prüfen. Zugenommen hat diese Praxis dem Bericht | |
zufolge ausgerechnet im August 2021 – als die Taliban die Macht übernahmen. | |
„Obwohl die Türkei zu Recht internationale Anerkennung und Unterstützung | |
für die Aufnahme der größten Anzahl von Geflüchteten aller Länder weltweit | |
erhält, drängt sie gleichzeitig viele Afghanen an ihren Grenzen zurück oder | |
schiebt sie nach Afghanistan ab, ohne ihre Ansprüche auf internationalen | |
Schutz zu prüfen“, sagte Bill Frelick, Direktor der Abteilung für | |
Flüchtlinge und Migranten bei Human Rights Watch. „Die Türkei sollte diese | |
routinemäßigen Abschiebungen an ihren Grenzen sofort stoppen und allen | |
Menschen aus Afghanistan, denen die Abschiebung droht, ermöglichen, Asyl zu | |
beantragen.“ | |
Die Türkei hat weltweit die meisten Geflüchteten aufgenommen, | |
schätzungsweise 3,9 Millionen Menschen, davon 3,6 Millionen Syrer mit | |
vorübergehendem Schutz. Weitere 320.000 kommen größtenteils aus | |
Afghanistan. | |
## Kaum Chancen, es legal in die EU zu schaffen | |
Die Bundesregierung fährt derweil einen Schlingerkurs: Zwar wurde ein | |
[5][Aufnahmeprogramm] für „besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen“ | |
aufgesetzt, doch es ist unklar, wie die Betroffenen evakuiert werden | |
sollen. | |
Das Programm gilt nicht für Menschen, die es bereits in Drittstaaten wie | |
die Türkei geschafft haben. Und beim Versuch, aus eigener Kraft aus der | |
Türkei in die EU zu kommen, kommt es häufig zu gewaltsamen [6][Pushbacks] | |
durch bulgarische und griechische Einsatzkräfte. | |
Und selbst wenn afghanische Flüchtlinge aus eigener Kraft in die EU | |
gelangen, haben sie kaum eine Chance, Sicherheit zu finden: Im Zuge des | |
EU-Türkei-Deals wurde die Türkei als „sicherer Drittstaat“ deklariert, was | |
2021 in Griechenland erneut per Dekret manifestiert wurde. Somit können | |
afghanische Flüchtlinge, die es nach Griechenland geschafft haben, ohne | |
eine inhaltliche Prüfung ihres Asylantrags in die Türkei geschickt werden. | |
Und von dort erfolgen dann Kettenabschiebungen nach Afghanistan. | |
Offenlegung: Valeria Hänsel ist Mitarbeiterin der NGO medico international | |
27 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
Valeria Hänsel | |
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