# taz.de -- Geflüchtetes afghanisches Orchester: „Nicht tolerieren, was Tali… | |
> Für das Musikinstitut Anim wurde die Machtergreifung der Taliban zum | |
> Fluchtgrund. Bedroht sind auch Musikerinnen seines Zohra-Orchesters. | |
Bild: Das Zohra-Orchester mit Huma Rahimi (macht Selfie) und Ahmad Sarmast in L… | |
Huma Rahimi ist heute weit weg von Kabul, in Sicherheit. Die afghanische | |
Musikerin, 24-jährig, offenes, dunkelbraunes Haar, lebt zurzeit in einem | |
Flüchtlingszentrum am Rande von Lissabon. Ihre Sitar hat sie nach Portugal | |
mitgenommen, täglich spielt sie zwei Stunden auf dem ursprünglich aus dem | |
Norden Indiens stammenden Instrument. | |
Rahimi war eine der ersten Frauen in Afghanistan, die professionell Sitar | |
spielten, sie ist Teil des Zohra-Orchesters, eines Ensembles nur aus | |
Musikerinnen, das sich 2015 gründete und in Kabul angesiedelt war – bis die | |
Taliban im Sommer 2021 sich erneut mit Gewalt an die Macht zurückkämpften. | |
Im August jenes Jahres stand Rahimi, stand das Orchester insgesamt vor dem | |
Aus. „Ich erinnere mich, dass meine Mutter von der Arbeit kam und sagte, | |
dass die Taliban die Hauptstadt einnehmen. Ich begann zu weinen“, erzählt | |
sie im Videochat mit der taz. | |
## Zerstochene Congafelle, ermordeter Sänger | |
Wie feindselig die Radikalislamisten mit Musiker:innen umgehen, hatte | |
sie in alten TV-Berichten aus den Neunzigern gesehen: „Wir wussten, dass | |
sie [1][Musikerinnen und Musiker töten] und Instrumente verbrennen“, sagt | |
sie. Die Bilder, die kurz nach der neuerlichen Machtübernahme der Taliban | |
weltweit in sozialen Netzwerken kursierten, konnten somit kaum verwundern: | |
ein zertrümmertes Klavier, zerstochene Conga-Trommelfelle, ein brennendes | |
Harmonium waren da zu sehen. Der Folksänger Fawad Andarabi wurde noch im | |
August 2021 von den Taliban erschossen. | |
Während viele Kulturschaffende und auch ehemalige Ortskräfte der westlichen | |
NGOs noch heute in Afghanistan verharren oder inzwischen tot sind, ist das | |
Zohra-Orchester evakuiert worden, gemeinsam mit dem Afghanistan National | |
Institute of Music (Anim). Das Zohra, benannt nach einer persischen | |
Musikgöttin, ist Teil des Anim. Gegründet wurde das nationale afghanische | |
Musikinstitut 2010 von dem afghanisch-australischen Musikethnologen Ahmad | |
Sarmast, der es bis heute leitet. | |
Sarmast organisierte die Flucht, fast alle Anim-Mitglieder konnten außer | |
Landes gebracht werden. Zunächst gelang es ihnen, ins katarische Doha | |
auszureisen, ehe sie Mitte Dezember 2021 nach Portugal kamen. Insgesamt 273 | |
Musiker:innen und Lehrer:innen sind gerettet worden, rund 170 von | |
ihnen leben bis heute in Portugal, die meisten in der Stadt Braga. | |
## Musik stand für kulturelle Öffnung | |
Sarmast hatte unter anderem die USA, England und Deutschland um Asyl für | |
seine Musiker:innen und Lehrer:innen gebeten. Portugal hatte sich | |
als erstes Land bereit erklärt, diese aufzunehmen. Das Anim stand immer für | |
die kulturelle Öffnung Afghanistans, es ist das Lebenswerk des 60-Jährigen. | |
Sarmast ist ebenfalls im Zoom-Gespräch zugeschaltet, er meldet sich aus | |
Australien, wo er in den frühen nuller Jahren promovierte und immer noch | |
regelmäßig ist. | |
„Ich kehrte 2008 zurück nach Afghanistan. Durch die Gründung des Anim habe | |
ich erkannt, wie viel die Musik der jüngeren Generation Afghanistans gibt, | |
[2][wie viel sie zur Transformation der Gesellschaft beitragen kann].“ Ganz | |
oben auf seiner Agenda stand von Beginn an, Kindern und Frauen den freien | |
Zugang zur Musik zu ermöglichen. „Für mich waren das Lächeln und das Glück | |
der Kinder beim Musizieren immer die größte Motivation, dieses Institut zu | |
leiten.“ | |
Da die Taliban Musik in ihrem radikalen Hirngespinst als „unislamisch“ | |
ansehen, war ihnen das Institut von Anfang an ein Dorn im Auge. Ende 2014 | |
verübten sie während einer Aufführung in Kabul einen Terroranschlag auf das | |
Musikensemble und auf Sarmast – er überlebte, verlor aber vorübergehend | |
sein Gehör. Nach der neuerlichen Machtübernahme 2021 haben die | |
Radikalislamisten das Musikmachen und den Besitz von Instrumenten erneut | |
verboten. | |
## Musik als Ersatzheimat | |
Für junge Frauen wie Huma Rahimi bot das Anim einst die Möglichkeit, sich | |
in ihrer Heimat professionell mit Musik zu beschäftigen. Rahimi stammt aus | |
Tachar, im Norden Afghanistans. Sie kam erstmals [3][in Berührung mit | |
Musik], nachdem sie als Kind in einem Waisenhaus von Kabul unterkam. Als | |
Zehnjährige konnte sie durch jenes Waisenhaus eine Reise nach Italien | |
unternehmen, wo sie sich „in die Musik verliebte“, wie sie sagt. | |
In Kabul erfuhr sie dann als Jugendliche von der Existenz des Anim. Dort | |
absolvierte sie ihre musikalische Basisausbildung. Danach studierte Rahimi | |
in Indien. Nachdem sie nach Kabul zurückgekehrt war, arbeitete sie | |
schließlich selbst als Musiklehrerin und erteilte Mädchen Unterricht. Ihr | |
liebstes afghanisches Musikstück? „Das ist das Lied ‚Anar Anar‘. Es klin… | |
so toll auf der Sitar, es macht Spaß, das zu spielen.“ | |
Sarmast und Rahimi setzen nun auf den Neubeginn in Portugal, der | |
Wiederaufbau im Exil ist für beide ihr kleiner persönlicher Triumph über | |
die Taliban. „Ich arbeite jetzt noch intensiver an meiner Musik, um den | |
Taliban und den Menschen in Afghanistan zu beweisen, dass es nicht gelingen | |
wird, Frauen aus der Kultur zu verdrängen und von der Bildung abzuhalten“, | |
sagt Rahimi. Auch innerhalb Afghanistans findet dieser Kampf statt. | |
Dort verwehren die Taliban Frauen den Zugang zu Universitäten, Mutige | |
demonstrierten im Dezember in Kabul dagegen. „Die Situation in Afghanistan | |
verschlechtert sich von Tag zu Tag“, sagt Sarmast. „Den Frauen wird jede | |
Freiheit genommen. Afghanistan wird erneut zu einem Gefängnis für unsere | |
Schwestern, Mütter, Ehefrauen und Töchter.“ | |
## Kultureller Genozid | |
Sarmast nennt die Taliban-Diktatur – sehr bewusst – einen „cultural | |
genocide“, er spricht etwa über den Umgang der Islamisten mit ethnischen | |
Minderheiten wie den Hazara, Tadschik:innen, Turkmen:innen und | |
Usbek:innen, denen das Land weggenommen wurde. Der Musikwissenschaftler | |
kritisiert deutlich die internationale humanitäre Hilfe in Höhe von 37 | |
Millionen Euro, die nach Angaben der Taliban direkt an die von ihnen | |
kontrollierte Zentralbank geflossen seien. „Man muss davon ausgehen, dass | |
die Taliban dieses Geld verwenden, um Menschen in Afghanistan zu | |
unterdrücken und ihr tyrannisches Regime zu zementieren“, sagt er. Seinem | |
eigentlichen Zweck diene das Geld nicht. | |
Die vielfältige Musikkultur Afghanistans, ob es sich um klassische Musik, | |
Folk und Pop handelt, gelte es nun in der Diaspora zu bewahren: „Wir | |
begreifen Musik als grundlegendes Menschenrecht“, sagt Sarmast. „Jeder | |
Mensch, egal in welchem Land, sollte das Recht haben, sich durch Musik | |
auszudrücken und Zugang zu den Sprachen der Musik haben. Dafür setzen wir | |
uns ein.“ | |
Die klassische afghanische Musik basiert dabei auf der Hindustani-Musik | |
Nordindiens. Wie in der indischen findet man auch in der afghanischen Musik | |
die Melodiestruktur des Raga sowie Tarana-Gesänge. Auch die Ghazal-Gesänge, | |
die ihre Ursprünge in der persischen Liebeslyrik haben, finden sich in | |
traditionellen afghanischen Songs. Daneben gibt es die populäre, urbane | |
Musik, die in den größeren Städten gespielt und gesungen wird, sowie | |
regionale, ethnische Musik. | |
## Blüte vor der sowjetischen Invasion 1979 | |
Eine Blütezeit erlebte die afghanische Musikkultur vor der sowjetischen | |
Invasion in den 1960ern und 1970er Jahren. Berühmte Sänger:innen dieser | |
Epoche waren Farida Mahwash und Ahmad Zahir. Das Anim bewege sich dabei | |
immer zwischen afghanischen und westlichen Musikkulturen, sagt Sarmast. So | |
spielt auch das Zohra-Orchester Klassiker aus der Heimat wie „Watan Jan“ | |
genauso wie Beethovens „Ode an die Freude“. | |
Mittlerweile hat sich das Anim in Portugal halbwegs neu sortiert und | |
formiert, ein erstes großes Konzert fand im Oktober 2022 im | |
Gulbenkian-Institut in Lissabon statt, Musiker:innen des Orchesters | |
tourten zuletzt durch Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und | |
Belgien. Das Zohra-Orchester muss sich erst noch neu finden, doch auch das | |
Frauenensemble soll bald wieder international Auftritte geben. „Wir | |
reformieren Zohra momentan“, sagt Sarmast. „Die portugiesische Dirigentin | |
Constança Simas hat die Leitung übernommen. Wir hoffen, dass Zohra in circa | |
sechs Monaten wieder öffentlich auftreten kann.“ | |
Dem Orchester geht es auch darum, Zeichen zu setzen: „Zohra ist zu einem | |
Symbol der Freiheit geworden, einem Symbol für Empowerment, für die | |
Fähigkeiten von Mädchen. Und dafür, welches Entwicklungspotenzial | |
Afghanistan hat.“ | |
Wer glaubt, Sarmast hätte angesichts der derzeitigen Lage in seinem | |
Heimatland alle Hoffnung verloren, sieht sich getäuscht. „Ohne Hoffnung | |
kann niemand leben. Für mich persönlich ist es sehr schmerzhaft zu sehen, | |
dass die Mädchen in Afghanistan nicht zur Schule gehen können. Aber die | |
Menschen im Land werden nicht ewig tolerieren, was mit den Frauen in | |
Afghanistan passiert.“ | |
Huma Rahimi hofft auf eine Rückkehr, irgendwann. Ihre Message ist so | |
einfach wie klar: „Ich möchte als Lehrerin Mädchen ermutigen, dass auch sie | |
Instrumente lernen können. Mädchen und Jungen sollten gleichberechtigt | |
sein. Und sie sollen das lernen können, was sie lernen wollen.“ | |
17 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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