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# taz.de -- Verschwundene Geflüchtete: Flucht auf die Bühne
> Sultana Sediqis Onkel ist einer von Tausenden Mittelmeer-Geflüchteten,
> die vermisst wurden. Hilfsangebote gibt es kaum. Sediqi will das ändern.
Bild: Floh als Kind aus Afghanistan: Sultana Sediqi, hier in Erfurt am 17. Mär…
Erfurt taz Sultana Sediqi kommt lächelnd und außer Atem in das Café am
Erfurter Domplatz. Die 18-Jährige ist im Vorabiturstress. Hinzu kommt ihre
ehrenamtliche Arbeit, über die sie teilweise selbst den Überblick zu
verlieren scheint. Sie ist in zahlreichen (post-)migrantischen Initiativen
aktiv, erhält Preise für ihr Engagement. Als Kind [1][aus Afghanistan]
geflohen, lebt sie seit knapp 10 Jahren in Erfurt und ist bestens vernetzt.
Immer wieder wird das Treffen an diesem Februartag unterbrochen, weil
Bekannte sie freudig begrüßen. In ihrer Gegenwart könne man sich fallen
lassen, erzählen Freund*innen. Von ihrem Optimismus werde man einfach
mitgezogen.
Der Grund des Treffens ist der 5. Oktober 2022, der eine bleibende Wunde im
Leben von Sediqi und das ihrer Familie hinterlassen hat. Sie senkt die
Stimme, wenn sie davon erzählt: Sie war damals in der Schule, schrieb einen
Test und hat irgendwann die Nachricht ihrer Mutter erhalten: Während
[2][der Flucht] über das Mittelmeer sei ihre Tante gerettet worden, doch
von ihrem Onkel Abdul Wasi Ahmadi, zu dem Sediqi seit ihrer Kindheit eine
enge Bindung hat, fehle jede Spur.
Zeitgleich gab es erste Medienmeldungen von [3][zwei Schiffswracks] vor der
griechischen Küste. Der Optimismus, ihre hoffnungsvolle Art, „in dem Moment
hat sich all das gelegt“, sagt Sediqi rückblickend. Danach haben sich die
Ereignisse überschlagen: Ihr Cousin ist direkt nach Griechenland gereist
und hat versucht, auf eigene Faust seinen Vater zu finden. Auch Sultana
verbrachte die folgenden Tage in der Schwebe zwischen Ohnmacht und
Hoffnung: „Niemand sagt dir, was du machen kannst in einem solchen Moment.“
## Alarmphone eine der wenigen Anlaufstellen
Zwischenzeitlich machte sie sich sogar Vorwürfe, auf eine solche Meldung
nicht vorbereitet gewesen zu sein. Sie kontaktierte Freund*innen,
Politiker*innen, griechische Krankenhäuser und Hilfsorganisationen –
allerdings ohne Erfolg. Ihr Onkel blieb verschwunden.
Die UNO-Flüchtlingshilfe spricht allein für das Jahr 2022 von fast 2.000
Menschen, die während ihrer Flucht über das Mittelmeer als verstorben oder
vermisst gemeldet wurden. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Eines der
wenigen Hilfsangebote für Angehörige kommt von [4][Alarmphone].
Das transnationale Netzwerk Ehrenamtlicher bietet seit acht Jahren eine
Seenotrettungshotline an, die Menschen auf dem Mittelmeer anrufen können.
Seitdem wird Alarmphone aber auch immer wieder von Angehörigen kontaktiert,
die ihre Familienmitglieder vermissen.
Seit 2022 bietet die Gruppe deshalb eine Checkliste an, die Suchenden bei
der Orientierung hilft. „Wir sind teilweise in Kontakt mit Menschen, die
uns schon seit Jahren anrufen und nach ihren Angehörigen suchen“, sagt
Britta Rabe von Alarmphone. Sie erlebe immer wieder, dass Familien bei der
Suche auf sich alleine gestellt seien. Auch Sultana Sediqi hat das erlebt.
„Wir sind in Griechenland auf Menschen gestoßen, die auch Angehörige
vermissen. So konnten wir uns vernetzen und wussten: Wir sind nicht
allein“, sagt sie über ihre eigene Reise damals zum Ort der Katastrophe
kurz nach der schrecklichen Nachricht. Mitarbeiter*innen von
Alarmphone hatten ihr durch lokale Kontakte geholfen, ihre Tante in einer
Notunterbringung ausfindig zu machen.
Ihr Cousin koordinierte sich vor Ort mit Überlebenden und anderen Menschen,
die ihre Familienmitglieder vermissen. Auch sie waren deshalb nach
Griechenland gereist – teilweise aus Deutschland, aber auch aus England und
den USA.
## Viele wissen nichts
Dabei erfuhr er auch, dass die griechische Küstenwache Tage später weitere
Leichen bergen konnte. Unter den Toten konnte er schließlich seinen Vater
identifizieren. „Die Gewissheit über seinen Tod war eine Erleichterung,
weil wir dadurch endlich trauern konnten“, sagt Sultana Sediqi. „Wie viele
wissen das nicht von ihren Angehörigen?“
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) ist eine der wenigen
Anlaufstellen, die Vermisstenanzeigen weltweit entgegennimmt. Laut Lucile
Marbeau vom ICRC ist dieses Hilfsangebot jedoch wenig bekannt, sodass viele
Fälle gar nicht erfasst würden.
Dabei seien die Folgen für Angehörige gravierend und würden zu wenig
thematisiert. „Die Menschen erleben einen kaum aushaltbaren Zustand
zwischen Hoffnung und Verzweiflung“, so Marbeau. Zudem gehe damit auch ein
erheblich höheres Armutsrisiko einher. Vor allem Frauen seien davon
betroffen, weil ohne Totenschein etwa keine finanziellen Hilfen ausgezahlt
würden oder die Männer als Ernährer der Familie wegbrächen.
Außerdem fehle es noch an standardisierten Verfahren, um effizientere
Suchen zu ermöglichen. „Wir arbeiten gerade daran, mit geschultem Personal
mit Überlebenden zu sprechen, um Passagierlisten zu erstellen und dadurch
die Nachverfolgung zu verbessern.“
## Viel positives Feedback
Zwar hat die Nachricht vom Tod des Onkels der Familie Gewissheit gebracht,
aber die erlebte Hilflosigkeit während der Suche begleitet Sediqi bis
heute. Dass sie darüber reden kann, ist auch einer Unterstützungsgruppe von
Freund*innen zu verdanken, die sich seitdem regelmäßig in Erfurt trifft.
Sie haben sich entschieden, Sediqis Erfahrung öffentlich zu machen und am
17. März eine Veranstaltung im Zughafen in Erfurt organisiert, bei der über
150 Menschen zusammenkamen – deutlich mehr als erwartet. Dort wurde die
Bühne zum Raum für diejenigen, die von ihrer Fluchterfahrung erzählen
wollten, von dem Überleben und auch vom Verlust und Vermissen ihrer
Angehörigen.
„Ich habe viel positives Feedback bekommen“, sagt Sediqi am Tag danach,
„auch von Menschen, die ich zuvor nicht kannte, aber die das gleiche
Schicksal teilen.“ Sie ist sichtlich erschöpft. Aber sie will weitermachen.
Für sich, für ihren Onkel und für all diejenigen, die mit ihrem Schmerz
allein gelassen werden und in der öffentlichen Debatte untergehen. „Ich
glaube daran, dass unsere Geschichten etwas verändern können“, sagt sie.
5 Apr 2023
## LINKS
[1] /Flucht-aus-Afghanistan/!5915664
[2] /Unterbringung-von-Gefluechteten/!5924028
[3] /Flucht-ueber-das-Mittelmeer/!5904481
[4] https://alarmphone.org/de/
## AUTOREN
Thilo Manemann
## TAGS
Vermisste
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Schwerpunkt Afghanistan
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