| # taz.de -- Faktencheck Sozialausgaben: Das sagenumwobene Bürgergeld | |
| > Der Sozialstaat ist zu teuer, Kürzungen beim Bürgergeld sind geboten: Die | |
| > Parteien debattieren über eine Reform. Welche Mythen stimmen, welche | |
| > nicht. | |
| Bild: Über das Bürgergeld wird immer wieder debattiert | |
| Mythos 1: Der Sozialstaat ist in seiner jetzigen Form nicht mehr | |
| finanzierbar | |
| Mit diesem Evergreen tingelt Friedrich Merz derzeit über | |
| CDU-Landesparteitage. Tatsächlich gab Deutschland im vergangenen Jahr | |
| [1][1,3 Billionen Euro für Soziales aus], ein Drittel kommt aus dem | |
| Staatshaushalt, zwei Drittel von Sozialversicherten und Arbeitgebern. | |
| Gemessen an der wirtschaftlichen Gesamtleistung, also am | |
| Bruttoinlandsprodukt, geben die Deutschen rund 30 Prozent für die soziale | |
| Fürsorge aus. | |
| Mit dieser Quote liegt Deutschland auf einem vergleichbaren Niveau mit | |
| anderen reichen Industrieländern, [2][wie das Institut für Makroökonomie | |
| (IMK) analysiert]. Der Direktor des IMK Sebastian Dullien widerspricht | |
| daher der „Mär vom aufgeblähten Sozialstaat“. SPD-Vorsitzende Bärbel Bas | |
| sprach noch drastischer von einer „Bullshit-Debatte“. | |
| Mythos 2: Die Sozialausgaben steigen unkontrolliert | |
| Behauptete unter anderem AfD-Chefin Alice Weidel im Bundestag und steht | |
| damit mit der Union in Einklang. Doch ein solcher Anstieg ist nicht belegt. | |
| Dem IMK zufolge wuchsen Deutschlands Sozialausgaben in den letzten | |
| Jahrzehnten moderater als jene in anderen Industrieländern. Während die | |
| Ausgaben hierzulande um ein Viertel stiegen, expandierten sie etwa im | |
| Nachbarland Polen um 126 Prozent. | |
| [3][Die Ausgaben fürs Bürgergeld sind 2024 um 4 Milliarden auf 47 | |
| Milliarden angestiegen], was einem Anstieg im Jahresvergleich von rund 9 | |
| Prozent entspricht. Grund ist vor allem die inflationsbedingte Erhöhung der | |
| Regelsätze. Aktuell bekommen Alleinstehende 563 Euro, dazu werden eine | |
| „angemessene“ Miete und die Heizkosten übernommen. In diesem und im | |
| nächsten Jahr werden die Sätze nicht erhöht – für die Betroffenen faktisch | |
| eine Kürzung. | |
| Mythos 3: Eine Reform des Bürgergelds spart viele Milliarden ein | |
| Noch im vergangenen Jahr behauptete Friedrich Merz, man werde das System | |
| vom Kopf auf die Füße stellen und damit zweistellige Milliardenbeträge | |
| einsparen. Inzwischen hat er sich korrigiert und gab in dieser Woche ein | |
| Einsparziel von 5 Milliarden aus. Im zuständigen Arbeits- und | |
| Sozialministerium ist man skeptisch. Dort geht man bislang von 1,5 | |
| Milliarden Euro aus, die man unter anderem einsparen will, indem man | |
| Bürgergeldbezieher:innen schärfer sanktioniert und so zum Arbeiten | |
| drängt. | |
| Doch der wirklich entscheidende Faktor ist die Entwicklung auf dem | |
| Arbeitsmarkt. Die müsse besser werden, damit die Zahl der | |
| Bürgergeldbezieher:innen signifikant sinkt. Das Institut für | |
| Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht davon aus, dass 100.000 Menschen, | |
| die vom Bürgergeld in den Arbeitsmarkt wechseln, [4][die öffentlichen | |
| Haushalte um 3 Milliarden Euro entlasten könnten]. Arbeitsministerin Bas | |
| stellte am Mittwochabend 1 – 2 Milliarden Euro an Einsparungen in Aussicht, | |
| falls diese Anzahl von Menschen auf den Arbeitsmarkt käme. Doch wegen der | |
| stagnierenden Wirtschaft steigt derzeit vor allem die Zahl der | |
| Arbeitslosen, sie liegt aktuell bei 3 Millionen. | |
| Mythos 4: Wer Arbeit verweigert, dem kann das Bürgergeld komplett | |
| gestrichen werden | |
| In der Debatte um Einsparmöglichkeiten wird auch dieses Argument hartnäckig | |
| wiederholt, etwa von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Erstens liegt | |
| der Anteil der „Totalverweigerer“ bei lediglich 0,6 Prozent. [5][Im Jahr | |
| 2024 verweigerten rund 23.000 Leistungsempfänger:innen] Jobangebote | |
| und wurden deshalb sanktioniert. Eine komplette Streichung der Leistung | |
| erfolgte in keinem Fall, obwohl die Ampelregierung im vergangenen Jahr die | |
| Möglichkeit zu zweimonatigen Komplettkürzungen geschaffen hatte. | |
| Miete und Heizkosten zahlt der Staat jedoch weiterhin, um Obdachlosigkeit | |
| zu vermeiden. Menschen dauerhaft die staatliche Fürsorge vollständig zu | |
| entziehen, ist dagegen rechtlich nur in extremen Ausnahmefällen möglich. | |
| Der Staat ist qua Grundgesetz verpflichtet, ein menschenwürdiges | |
| Existenzminimum und ein Mindestmaß an Teilhabe zu gewährleisten. | |
| Mythos 5: Mit dem Bürgergeld lohnt sich Arbeit nicht mehr | |
| Diese Behauptung stellen Unionspolitiker immer wieder in den Raum, obwohl | |
| sie mehrfach widerlegt wurde. Nicht nur vom DGB, auch [6][das Münchener | |
| Ifo-Instut hat für Alleinstehende und Familien durchgerechnet], dass Arbeit | |
| sich auszahlt. Wer zum Mindestlohn arbeitet und Miete zahlt, hat mehrere | |
| hundert Euro mehr zur Verfügung als jemand, der ausschließlich Bürgergeld | |
| bezieht. | |
| Wirklich groß ist der Abstand zwischen Arbeit und Nichtarbeit aber nur, | |
| wenn Erwerbstätige alle ihnen zustehenden Sozialleistungen – etwa Wohngeld | |
| und Kindergeld – auch in Anspruch nehmen. Darüber hinaus gibt es 800.000 | |
| Menschen, die zwar einen Job haben, der aber nicht zum Leben reicht, und | |
| die zusätzlich Bürgergeld beantragen. Sie zählen in der Statistik als | |
| Bürgergeldempfänger:innen. | |
| Mythos 6: Bürgergeldempfänger:innen wird mehr Miete gezahlt, als | |
| normale Arbeitnehmer:innen sich leisten können | |
| Noch so ein Satz von Friedrich Merz, der wohl aus dem Kosmos „Hat mir mein | |
| Fahrer erzählt“ stammt. Der Staat übernimmt die Wohnkosten in | |
| „angemessener“ Höhe; was als angemessen gilt, entscheiden die Kommunen. | |
| Laut Bürgergeld.org liegt etwa die zulässige Bruttokaltmiete (inkl. | |
| Nebenkosten, ohne Heizkosten) in Berlin für 1 Person bei 449 Euro, für 5 | |
| Personen bei 904 Euro. Doch oft findet man keine Wohnungen in diesem | |
| Preissegment. Jeder 8. Haushalt, der Bürgergeld erhält, muss für die | |
| Wohnkosten etwas vom Regelsatz drauflegen. Das geht aus einer Kleinen | |
| Anfrage der Linken im Bundestag hervor. | |
| Mythos 7: Das Bürgergeld bekommen reihenweise Menschen, die es nicht | |
| brauchen | |
| Diese steile These präsentiert Bayerns Ministerpräsident Markus Söder | |
| unwidersprochen im ARD-Sommerinterview. Belege, Fakten? Mit solchen | |
| lästigen Dingen hält sich der gelernte Journalist nicht auf. Und | |
| tatsächlich findet sich auch kein Beleg für diese Behauptung. Fakt ist: Wer | |
| Bürgergeld beantragt, muss nachweisen, dass sie oder er bedürftig ist, und | |
| seine gesamten Einkünfte und Ausgaben offenlegen. | |
| Mythos 8: Das Bürgergeld ist ein bedingungsloses Grundeinkommen | |
| Eine Unterstellung der Union, die nahelegt, dass es sich | |
| Bürgergeldempfänger:innen in der sozialen Hängematte gemütlich | |
| machen. Tatsächlich haben sie aber sogenannte Mitwirkungspflichten. Sie | |
| müssen etwa erreichbar sein, Termine wahrnehmen, an Maßnahmen teilnehmen | |
| bzw. angebotene Arbeit, die ihrer Qualifikation entspricht, annehmen. Von | |
| den 5,5 Millionen Empfänger:innen können aber nur ein Drittel – 1,8 | |
| Millionen – realistisch in Arbeit vermittelt werden. Ein Drittel sind | |
| Kinder und Jugendliche, ein weiteres Drittel steht dem Arbeitsmarkt nicht | |
| zur Verfügung, weil sie etwa Angehörige pflegen, oder als Aufstocker:in | |
| arbeiten. | |
| Mythos 9: Das Bürgergeld ist ein Migrantengeld | |
| Die AfD macht auf der Folie des Bürgergelds Stimmung gegen Ausländer und | |
| solche, die sie dafür hält. Der Anteil der Bürgergeldempfänger:innen | |
| mit ausländischem Pass stieg seit 2022 von 37 auf 48 Prozent. Grund dafür | |
| ist, dass Deutschland über eine Million Ukrainer:innen aufgenommen und | |
| sie zunächst über das Bürgergeld versorgt hat. | |
| Mythos 10: Das Bürgergeld ist schuld daran, dass so wenige | |
| Ukrainer:innen arbeiten | |
| Wird Markus Söder nicht müde zu wiederholen. Das ist doppelt falsch. Fast | |
| alle EU-Länder haben Menschen, die nach dem russischen Überfall auf die | |
| Ukraine flüchteten, unter besonderen Schutz gestellt. Derzeit arbeiten 35 | |
| Prozent der Ukrainer:innen, Tendenz stetig steigend. Zwei Drittel beziehen | |
| Bürgergeld, Grund sind vor allem fehlende Kinderbetreuung und mangelnde | |
| Sprachkenntnisse. In Ländern wie Rumänien oder Norwegen läuft die | |
| Arbeitsmarktintegration noch schlechter. | |
| Mythos 11: Die Vermittlung in Arbeit muss besser werden | |
| Kein Mythos, sondern ein Ziel. Darüber sind sich Politiker:innen aller | |
| Parteien einig. Derzeit werden etwa 5 Prozent der arbeitssuchenden | |
| Bürgergeldempfänger:innen durch die Jobcenter in Jobs auf dem | |
| ersten Arbeitsmarkt vermittelt, wie die Bundesagentur für Arbeit auf | |
| Anfrage der taz mitteilte. | |
| Allerdings sei die Erfassung unvollständig, weil sie noch analog erfolge | |
| und Vermittlung durch Onlineangebote nicht mitgezählt werde. Doch besonders | |
| schwierig ist die Vermittlung der rund 1 Million Langzeitarbeitslosen, also | |
| jenen, die schon länger als 12 Monate auf Jobsuche sind. [7][Ein Großteil | |
| von ihnen besitzt keinen Berufsabschluss]. Es gilt also, diese Menschen zu | |
| qualifizieren, damit sie eine gute Arbeit finden. Aber das kostet erst mal | |
| und spart erst mittelfristig Geld. | |
| Mitarbeit: [8][Marie Gogoll], [9][Lotte Laloire] | |
| 3 Sep 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Broschueren/a230-25-sozialbudg… | |
| [2] https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-die-mar-vom-aufgeblahten-sozials… | |
| [3] https://www.tagesschau.de/inland/buergergeld-kosten-2024-100.html | |
| [4] https://insm.de/aktuelles/news/iab-drei-milliarden-sparpotenzial-bei-buerge… | |
| [5] https://de.statista.com/infografik/31959/erbwerbsfaehige-leistungsberechtig… | |
| [6] https://www.ifo.de/publikationen/2024/aufsatz-zeitschrift/lohnt-sich-arbeit… | |
| [7] https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Statistiken/Theme… | |
| [8] /Marie-Gogoll/!a60391/ | |
| [9] /Lotte-Laloire/!a57655/ | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
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