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# taz.de -- Reform des Bürgergelds: Die Leute haben Angst
> Schwarz-Rot plant Einschnitte beim Bürgergeld. Das gibt billigen Applaus.
> Betroffenen erschweren sie das Leben, und viel gespart wird nicht.
Bild: Wer gar nichts oder so wenig verdient, dass er für das Bürgergeld infra…
Die Betroffenen lässt die Debatte über das Bürgergeld nicht kalt. „Die
Leute haben schlichtweg Angst. Sie befürchten, dass ihnen die
Lebensgrundlage entzogen wird“, berichtet Harald Thomé von der Stimmung in
den Beratungsgesprächen. Der 63-Jährige ist Vorsitzender des Wuppertaler
Erwerbslosenvereins Tacheles, schult auch Personal anderer Beratungsstellen
und meldet sich regelmäßig in sozialpolitischen Diskussionen zu Wort.
Die Reformpläne zum Bürgergeld, die Schwarz-Rot derzeit diskutiert,
erinnern ihn an die Zeit vor 2019, als die Sanktionsregeln für
Hartz-IV-Empfänger*innen noch besonders streng waren. [1][In einer Umfrage
unter Betroffenen] ging es damals um die Folgen von Sanktionen. [2][Das
Ergebnis füllte Hunderte PDF-Seiten.]
„Es führt zu andauerndem psychischen Stress zu wissen, dass bei jedem
Fehler eine Sanktion droht“, schrieb eine Person. Andere berichteten von
Herzrasen, Angst davor, zum Briefkasten zu gehen, sogar Suizidgedanken.
„Mal schauen, wie weit die Regierung jetzt wirklich geht“, sagt Thomé.
„Aber nimmt man Merz beim Wort, dann könnte es schlimmer werden als
damals.“
## „Schmerzhafte Entscheidungen“
Die nächsten Wochen werden zeigen, ob das stimmt. Der Bundeskanzler hat
einen „Herbst der Sozialreformen“ und „schmerzhafte Entscheidungen“
angekündigt. Die Wirklichkeit wird [3][zwar hinter der Ankündigung
zurückbleiben.] Die meisten Probleme der Sozialsysteme – bei Rente, Pflege
oder Krankenversicherung – lässt Schwarz-Rot in Kommissionen beraten, die
frühestens zum Jahresende Ergebnisse liefern.
Aber beim Bürgergeld kann es für Betroffenen sehr schnell schmerzhaft
werden. Einen Gesetzesentwurf hat Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) schon
vorgelegt. Er streicht neu ankommenden Ukrainer*innen die bisherigen
Leistungen. Weitere Einschnitte will Bas in zwei Schritten umsetzen, der
erste davon ist tatsächlich für den Herbst angekündigt.
Das Tempo von Schwarz-Rot ist beim Bürgergeld nicht etwa so hoch, weil hier
besonders viel Sparpotenzial läge. 2024 wurden in Deutschland [4][insgesamt
1,345 Billionen Euro für Sozialleistungen ausgegeben], davon nur 58
Milliarden fürs Bürgergeld. Sogar Friedrich Merz ist von seiner Behauptung
aus dem Wahlkampf abgerückt, die Kosten um einen zweistelligen
Milliardenbetrag drücken zu können. Er spricht nur noch von 5 Milliarden
Euro, und selbst das ist ambitioniert.
Aber beim Bürgergeld sind die Einschnitte verhältnismäßig leicht
durchsetzbar. Direkt betroffen sind weniger Menschen als bei Rente oder
Krankenversicherung; sie haben eine verhältnismäßig kleine Lobby, ihnen
wird wenig Sympathie entgegengebracht. Aktuell zeigt [5][eine Forsa-Umfrage
für RTL]: Einschränkungen beim Bürgergeld stimmen viel mehr Menschen zu als
bei Wohn- oder Elterngeld.
Was Schwarz-Rot plant, liegt im Trend. Die Koalition plant nämlich keine
Zäsur, sondern setzt fort, was in der Endphase der Ampel-Regierung begann.
Schon damals schwang das Pendel zurück zu einer Haltung, die bereits vor
zwanzig Jahren bei der Einführung von Hartz IV überwog: Man ist den
Betroffenen gegenüber misstrauisch, sie wollten ohnehin nicht arbeiten,
sondern müssten mit ausreichend Druck dazu bewegt werden.
Nach 2005 hatte sich dieses Paradigma nach und nach abgeschwächt – teils
auf Initiative der Politik, teils durch Urteile des Verfassungsgerichts.
Mit der Bürgergeld-Reform 2022 war der andere Pol erreicht: Es überwog eine
Haltung des Vertrauens gegenüber den Betroffenen, die arbeiten würden, wenn
sie nur könnten, und die entsprechend viel Nachsicht und Förderung
benötigen. In der Krise dauerte es aber nur ein Jahr, bis die Ampel die
ersten Teile ihrer eigenen Reform wieder zurückschraubte.
Jetzt macht also die nächste Regierung weiter. Im Detail ist noch unklar,
welche Verschärfungen Schwarz-Rot im Herbst umsetzt. Eckpunkte finden sich
aber im Koalitionsvertrag. Ende August haben die Fraktionsvorstände von
Union und SPD sie auf einer Klausur bestätigt. Ministerin Bas hat ebenfalls
schon manches durchblicken lassen, was geplant ist.
Zentral ist das, was dem Sozialberater Harald Thomé und seinen
Klient*innen die größten Sorgen bereitet: verschärfte Sanktionen bei
Regelverstößen. Bis 2019 konnte das damalige Arbeitslosengeld II in vollem
Umfang gestrichen werden, dann zog das Bundesverfassungsgericht eine neue
Höchstgrenze ein: Normalerweise liegt sie bei 30 Prozent des Regelsatzes.
Die Ampel blieb mit der Bürgergeld-Reform sogar hinter dieser Grenze
zurück, schöpfte die 30 Prozent nur für mehrfache Wiederholungsfälle aus.
Im Jahr darauf führte sie aber doch wieder Totalsanktionen ein, wenn auch
mit Rücksicht auf das Gerichtsurteil nur für Fälle „nachhaltiger
Verweigerung der Aufnahme zumutbarer Arbeit“, begrenzt auf zwei Monate und
ohne Auswirkung auf Wohnkosten oder die Regelsätze von Familienmitgliedern.
Dabei soll es nicht bleiben. Der Bild-Zeitung wurde aus der Regierung
durchgestochen, dass man wieder beim ersten Regelverstoß die vollen 30
Prozent ausschöpfen wolle. Für sogenannte Totalverweigerer ist im
Koalitionsvertrag sogar ein „vollständiger Leistungsentzug“ angekündigt.
Für sie will Schwarz-Rot die bisherige Regelung also toppen, erklärtermaßen
aber trotzdem die Vorgaben des Verfassungsgerichts einhalten. Ob das geht,
ist zweifelhaft.
Ebenso wie die Frage, was es bringt. Mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung (IAB) leistet sich der Bund eine eigene
Forschungseinrichtung, die auch die Bürgergeld-Reform evaluieren sollte.
Bislang haben die Wissenschaftler*innen aber nur erste Befunde
vorgelegt, für eine umfassende Bilanz ist die Reform noch nicht lange genug
her. Was die Wirkung von Sanktionen angeht, kann nur auf [6][frühere,
grundsätzliche Erkenntnisse] zurückgegriffen werden.
## Ende der Schonfrist
Demnach ergeben Sanktionen durchaus einen Sinn. Sie erhöhen den Anteil der
Leistungsempfänger*innen, die sich einen Job suchen. Zu harte Sanktionen
sind aber kontraproduktiv: Wer Hunger hat oder den Strom nicht bezahlen
kann, findet nicht so leicht eine Stelle. Wer es doch schafft, landet
häufiger in miesen Arbeitsverhältnissen – und dann schneller wieder im
Jobcenter.
In einem Sommerinterview kündigte Bas neben den neuen Sanktionen für die
nächsten Wochen auch „Vorschläge zu Karenzzeiten“ an. Schon im
Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass zum einen die Schonfrist für
Vermögen weg soll. Sie wurde während der Coronapandemie noch unter Angela
Merkel eingeführt und später von der Ampel entfristet. Seitdem muss ein
mögliches Vermögen nicht erst aufgebraucht werden, bevor es Bürgergeld
gibt. Im ersten Jahr darf ein Single zumindest 40.000 Euro behalten, danach
dauerhaft 15.000 Euro.
Die ursprüngliche Begründung: Wer nur einige Monate in Not ist, soll nicht
sein Erspartes verlieren – und sich auf die Arbeitssuche konzentrieren,
statt in Sorgen über sein Vermögen zu vergehen. Auch hier ist noch nicht
klar, ob das Kalkül aufging. Laut [7][einer aktuellen Veröffentlichung des
IAB] liegen „bisher keine Befunde zu den Auswirkungen“ vor. Generell gelte
aber: Wer gar nichts oder so wenig verdient, dass er für das Bürgergeld
infrage kommt, hat in der Regel auch wenig Vermögen. Werde die Karenzzeit
wieder abgeschafft, gäbe es also wenig Leidtragende – es ließe sich aber
auch wenig sparen.
Anders sieht das bei der zweiten Karenzzeit aus, die fallen soll: die für
die Unterkunft. Wer in einer Wohnung lebt, die fürs Bürgergeld zu teuer
ist, dem droht bislang im ersten Jahr trotzdem kein Zwangs-Auszug. Der
Gedanke dahinter war der gleiche wie beim Vermögen. Die Evaluation ist auch
hier nicht fertig. [8][Aus Befragungen kennt das IAB] aber zumindest die
Relevanz des Themas: Bei der Mehrheit der Jobcenter-Beschäftigten geht es
in Beratungsgesprächen regelmäßig um die Unterkunftskosten, und die
Mehrheit der Bürgergeldempfänger*innen macht sich Sorgen, die eigene
Wohnung zu verlieren.
Und diese Sorgen könnten in Zukunft noch wachsen: Falls Schwarz-Rot es
nicht beim Ende der Karenzzeit für Neuankömmlinge im Bürgergeld belässt,
sondern für alle die Grenzen senkt, bis zu der Wohnkosten übernommen
werden. Im Koalitionsvertrag steht dazu zwar nichts, Merz hat in einem
Sommerinterview im Juli aber einen entsprechenden Vorschlag gemacht.
Bei diesem Vorstoß horcht auch der Sozialberater Thomé in Wuppertal auf.
Neben der Frage der Sanktionen sieht er an der Stelle die größte Gefahr.
„Wenn das kommt, erwarte ich heftige Folgen für die Betroffenen“, sagt er.
Welche denn? „Massive Obdachlosigkeit.“
5 Sep 2025
## LINKS
[1] /Bundesverfassungsgericht-zu-Hartz-IV/!5561469
[2] https://www.tacheles-sozialhilfe.de/files/redakteur/Aktuelles/Auswertung_Ta…
[3] /Fragwuerdige-politische-Sprache/!6106675
[4] https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Broschueren/a230-25-sozialbudg…
[5] https://www.n-tv.de/politik/Deutsche-fordern-Kurswechsel-bei-Rente-Sozialst…
[6] https://doku.iab.de/stellungnahme/2022/sn0722.pdf
[7] https://doku.iab.de/forschungsbericht/2025/fb1425.pdf
[8] https://iab-forum.de/kosten-der-unterkunft-im-buergergeld-erste-befunde-zur…
## AUTOREN
Tobias Schulze
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