# taz.de -- Expertin über Flüchtlingspolitik: „Ein Hoffnungsschimmer“ | |
> Kann Deutschland seine EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um die Blockade in | |
> der Migrationsfrage aufzulösen? Petra Bendel hält das für möglich. | |
Bild: Bringt Deutschland neuen Schwung in die Frage, wie Europa mit Flüchtling… | |
taz: Frau Bendel, die EU-Asylpolitik ist seit Jahren völlig blockiert, die | |
Interessen vieler Staaten liegen weit auseinander, Flüchtlinge leiden | |
darunter. Am Mittwoch übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. | |
Wird das etwas ändern? | |
Petra Bendel: Es gibt hohe Erwartungen an Deutschland. Es wird erwartet, | |
dass es bei der geplanten Reform des europäischen Asylsystems zwischen den | |
Mitgliedstaaten vermittelt. | |
Warum ausgerechnet Deutschland? | |
Deutschland ist glaubwürdig, denn das Land hat es geschafft, in den | |
vergangenen Jahren viele Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren. | |
Zuletzt hat es zudem immer wieder darauf gedrängt, Schutzbedürftige, vor | |
allem Minderjährige, aus den Lagern in Griechenland auf andere europäische | |
Länder zu verteilen, und hat sich selbst daran beteiligt. | |
Sie meinen die 55 Kinder aus dem Lager Moria auf Lesbos, die im April nach | |
jahrelangen Kampagnen aus der Zivilgesellschaft aufgenommen wurden? | |
Mehrere andere Länder der EU haben in einer „Koalition der Willigen“ | |
ebenfalls Schutzbedürftige aufgenommen. Das kann nur ein erster Schritt | |
gewesen sein. Wir brauchen hier aber erst einmal ein vorübergehendes | |
Verfahren, ein temporäres und pragmatisches System der Aufnahme und | |
Verteilung. Auf lange Sicht braucht es ein dauerhaftes, krisenfestes und | |
verlässliches System, mit dem ankommende Flüchtlinge auf die einzelnen | |
Mitgliedstaaten der EU verteilt werden. | |
Bleiben wir bei den zu überwindenden Blockaden – welche sind das konkret? | |
Vor allem bei der geplanten Reform und Harmonisierung des EU-Asylsystems | |
gibt es eine Blockade. Die Verhandlungen stecken seit vier Jahren im Rat | |
der Innen- und Justizminister fest. Die Visegrád-Staaten Ungarn, | |
Tschechien, Polen und die Slowakei etwa weigern sich schon lange, | |
Flüchtlinge aufzunehmen. Zuletzt schloss sich ihnen auch Österreich an. | |
Der größte Knackpunkt ist dabei die Verteilung der Zuständigkeit für | |
Ankommende über das Dublin-System. Die Außengrenzen-Staaten verweigern sich | |
allem, was die Verantwortung weiter allein bei ihnen lässt, andere Staaten | |
wollen nichts, was ihnen neue Flüchtlinge aufbürdet. Was sollte Deutschland | |
da tun? | |
Schon 2012 hat unter anderem der Sachverständigenrat ein Modell entwickelt, | |
nach dem die Mitgliedstaaten der EU die Ankommenden gemäß ihrer | |
Bevölkerungszahl, Wirtschaftsleistung und Arbeitslosenquote aufnehmen | |
sollten. Die Kommission wollte die Verteilung per Quote verpflichtend | |
machen, aber Ungarn und andere Staaten haben sich dem verweigert. Vor drei | |
Jahren hat die Kommission dann vorgeschlagen, wenigstens in den Fällen, in | |
denen Staaten an den EU-Außengrenzen wie Italien extrem überlastet sind, | |
einen automatischen Verteilmechanismus auszulösen oder andere Staaten dafür | |
bezahlen zu lassen. Auch dafür gab es keinen Konsens. | |
Und seitdem geht es nicht voran. | |
Ja. In einem deutschen Papier für die Ratspräsidentschaft steht, dass das | |
Dublin-System nicht mehr funktioniert. Es wurde allerdings schon hundertmal | |
totgesagt, aber eben noch immer nicht durch einen fairen | |
Verteilungsschlüssel und ein System gemeinsamer Verantwortung ersetzt. | |
Wenn alle vorgeschlagenen Modelle blockiert werden – was soll stattdessen | |
kommen? | |
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte für März eine neue | |
Migrationsagenda mit neuen Vorschlägen angekündigt. Die kam aber bisher | |
nicht, und jetzt soll erst einmal über den künftigen EU-Haushalt verhandelt | |
werden. Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien haben aber kürzlich | |
einen Brief an die Kommission geschrieben und angekündigt, in dieser Frage | |
voranzugehen. Da sitzen interessante Staaten in einem Boot: Zwei, die immer | |
ein Motor der europäischen Politik waren, sowie zwei starke Staaten an den | |
EU-Außengrenzen. Das ist ein Hoffnungsschimmer. | |
Was ist mit den Staaten, die sich dem vollständig entziehen wollen, etwa | |
Ungarn. Sollte die EU das einfach akzeptieren? | |
Nein. Aber wir haben gesehen: Mit negativen Sanktionen kommen wir nicht | |
weiter. Das zeigt die Empirie bisher. Ein Anreizverfahren wäre der | |
Königsweg. Es könnten etwa finanzielle Anreize sein. | |
Ist das nicht eine ziemlich lahme Antwort auf die Blockadehaltung? Wer | |
Flüchtlingsaufnahme schlichtweg ablehnt, für den bleibt dies ohne | |
Konsequenzen. Die anderen kriegen nur ein bisschen mehr Geld? | |
Ein System, das auf Anreize setzt, darf nicht dazu führen, dass sich einige | |
Staaten einen schlanken Fuß machen. Die Mitgliedstaaten müssen die | |
europäischen Standards einhalten, und die Europäische Kommission hat die | |
Aufgabe, zu überwachen, ob sie das tun. Um die Verpflichtungen nötigenfalls | |
durchzusetzen gibt es die Gerichte – etwa den Europäischen Gerichtshof für | |
Menschenrechte. | |
Europäische Standards werden ja nicht nur beim Asylrecht verletzt, sondern | |
auch beim Umgang mit Justiz, Medien und NGOs, etwa in Polen und Ungarn. | |
Wäre es da nicht notwendig, politische Instrumente zu entwickeln, um gegen | |
all diese Verstöße vorzugehen? | |
Ja, aber diese Frage muss grundsätzlich diskutiert werden – gerade wenn es | |
um so zentrale Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geht. Nicht | |
nur, wenn es die Asylpolitik betrifft. | |
Deutschland will künftig Asyl-Vorprüfungen in Lagern an den Außengrenzen | |
durchführen lassen. Das ist Teil des Programms für die | |
EU-Ratspräsidentschaft. NGOs sind entsetzt, Sie befürworten das. Warum? | |
Dieser Vorschlag, der immer wieder gemacht wurde, hat jetzt eine reale | |
Chance, umgesetzt zu werden. Dazu muss man sich verhalten. Grundsätzlich | |
ist gegen Asylverfahren an der EU-Außengrenze und auf europäischem Boden | |
nichts einzuwenden. Dabei muss aber der [1][völkerrechtliche und | |
europarechtliche Schutz von Flüchtlingen] gewährleistet werden. | |
Solche Lager gibt es ja schon, es sind die sogenannten Hotspots, etwa auf | |
dem Ägäis-Inseln. Die Zustände dort sind katastrophal. | |
Wenn die Asylprüfungen an Außengrenzen kommen, und davon gehe ich aus, dann | |
müssen sie zwingend mit einem neuen Verteilsystem einhergehen. Sonst werden | |
nur die bestehenden, menschenunwürdigen Hotspots reproduziert und die | |
Staaten an den Außengrenzen der EU weiter übermäßig belastet. Das eine geht | |
nicht ohne das andere. | |
Im deutschen Entwurf steht, dass die Vorverfahren an den Außengrenzen in | |
„geschlossenen Zentren“ stattfinden sollen. Die Ankommenden sollen also | |
interniert werden. | |
Fraglich ist, was darunter zu verstehen ist. Menschen zu inhaftieren, nur, | |
weil sie Schutz suchen, ist nicht mit der Genfer Flüchtlingskonvention | |
vereinbar. Auch das EU-Recht setzt der Unterbringung in geschlossenen | |
Zentren enge Grenzen. | |
Unter bestimmten Bedingungen – sechs Wochen Internierung gibt das EU-Recht | |
her, wenn der Aufnahmestaat es für nötig hält. | |
Das ist natürlich schwierig. Und es gibt weitere Schwierigkeiten, die wir | |
benannt haben. | |
Welche? | |
Etwa die rechtliche Idee, die diesen Lagern zugrunde liegt. Offiziell geht | |
man davon aus, dass die Menschen dort gar nicht wirklich eingereist sind. | |
Die Frage ist: Wie kommen sie an Anwälte, wie erhalten sie Zugang zum | |
Rechtsschutz? Werden sie angemessen untergebracht, gibt es Zugang zu einem | |
fairen Asylverfahren? Wird das Gebot der Nichtzurückweisung eingehalten? | |
Das Verfahren muss fair und effektiv sein. Solange dies nicht gewährleistet | |
ist, würden wir als SVR sagen, das geht so nicht. | |
Wenn Sie an die [2][Lager wie in Moria] denken, wo praktisch keines dieser | |
von Ihnen genannten Kriterien erfüllt ist – für wie wahrscheinlich halten | |
Sie es, dass dies in den neuen Lagern anders wäre? | |
Man kann nicht anders als skeptisch sein. Denn es bringt wenig, wenn die | |
anderen Mitgliedstaaten oder europäische Agenturen vor Ort Unterstützung | |
leisten, solange die zentrale Frage nicht gelöst ist, wie die Flüchtlinge | |
in Europa verteilt werden sollen. | |
Offen ist auch die Frage, wer diese Vorprüfungen machen soll. Der | |
Kommission wäre es am liebsten, ihr Asyl-Unterstützungsbüro Easo dafür zu | |
einer echte eigenen Asylbehörde aufzubauen. Ist das eine gute Idee? | |
Idealerweise sollten tatsächlich Easo-Mitarbeiter die Vorprüfungen | |
durchführen. Allerdings müsste die Behörde dafür mehr Kompetenzen erhalten | |
und zu einem europäischen „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ wie … | |
deutsche Bamf werden. Nur so kann die Schutzlotterie, die wir immer noch | |
haben – dass Flüchtlinge in unterschiedlichen Staaten der EU sehr | |
unterschiedliche Chancen haben, Asyl zu erhalten –, beendet werden. Das | |
EASO müsste bei seinen Entscheidungen gleiche Standards anlegen. | |
30 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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