# taz.de -- Die EU und die Arbeit von der Leyens: Alles andere als perfekt | |
> Von der Leyen hat es als EU-Kommissionspräsidentin bisher mit Verständnis | |
> versucht. Damit kommt man in Sachen Rechtsstaatlichkeit nicht weiter. | |
Bild: Zu viel Verständnis für die Regierungen in Ungarn und Polen? Kommission… | |
Als Ursula von der Leyen gerade zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt | |
worden war, gab sie ein bemerkenswertes Interview. [1][„Wir alle müssen | |
lernen, dass volle Rechtsstaatlichkeit immer unser Ziel ist, aber keiner | |
ist perfekt“], sagte sie damals. | |
Nachdem die EU schon jahrelang Ungarn und Polen für das Aushöhlen der | |
Demokratie und des Rechtsstaates kritisiert hatte, gab Ursula von der Leyen | |
diesen Staaten mit ihrem „Keiner ist perfekt“ ein sprachgewordenes | |
Schulterklopfen mit auf den Weg. Schon rund um ihre Bestätigung im | |
Europaparlament hatte es Zweifel daran gegeben, ob von der Leyen in Brüssel | |
wirklich ausreichend für die Rechtsstaatlichkeit eintreten würde. Immerhin, | |
darauf wiesen vor allem die Grünen im Europäischen Parlament hin, hatte die | |
Deutsche keine eigene, proeuropäische Mehrheit. Ins Amt hievten sie auch | |
die Stimmen der PiS, der Regierungspartei Polens. | |
Fast ein Jahr später hat Ursula von der Leyen diese Sorge keineswegs | |
entkräften können. Seit etwa 7 Monaten ist sie nun im Amt. Keine ruhigen | |
Monate, sondern eine Zeit, [2][in der die EU mit der Coronapandemie in eine | |
historische Krise schlitterte]. Lahmgelegt waren der Flugverkehr, der | |
Tourismus und das normale Leben der meisten EU-Bürger*innen – keineswegs | |
aber der Drang mancher Staatenlenker, sich und ihren Parteien mehr Macht | |
zuzuschachern. Alle Mitgliedsländer schränkten Freiheiten ihrer | |
Bürger*innen ein, um deren Gesundheit zu schützen. Doch Ungarn und Polen | |
holten aus der Krise noch viel mehr raus. | |
Ungarns Präsident Viktor Orbán war besonders dreist: Er hatte sich Ende | |
März vom Parlament mit umfangreichen Vollmachten ausstatten lassen – | |
natürlich nur, um damit den gesundheitlichen Notfall zu bekämpfen, so die | |
Argumentation. Sein Notstandsgesetz hätte es Orbán allerdings im | |
Zweifelsfall ermöglicht, ohne jegliche zeitliche Befristung auf dem | |
Verordnungsweg zu regieren. EU-Politiker*innen wie Journalist*innen | |
kritisierten den Umstand aufs Heftigste. | |
Orbán gab die Sondervollmachten dann aber tatsächlich im Juni zurück und | |
stellte sich als Opfer hin: Die Kritiker*innen hätten nun die Gelegenheit, | |
sich „bei Ungarn für unbegründete Anschuldigungen bezüglich des Gesetzes zu | |
entschuldigen“. | |
Dabei sind die Leidtragenden seines Ermächtigungsgesetzes wieder mal seine | |
Gegner*innen: In der Zeit des Gefahrennotstands waren mehr als hundert | |
Dekrete erlassen worden, nicht alle zum Coronaschutz. Die Corona-kise, so | |
scheint es, ist für Orbán die bequemste Möglichkeit, seine Macht | |
auszuweiten und zu zementieren. | |
Von der Leyen hatte Ungarn vor der Rücknahme des Ermächtigungsgesetzes mit | |
einem Vertragsverletzungsverfahren gedroht. Die EU-Kommission droht immer | |
mal wieder – Orbán aber macht einfach trotzdem unbeirrt, was er will. | |
Was hat von der Leyens Wille, auf die Staaten mit bedrohter | |
Rechtsstaatlichkeit zuzugehen, also gebracht? Gar nichts. Die grüne | |
Europapolitikerin Terry Reintke sprach schon in einem [3][Interview von der | |
Kommissionspräsidentin als „Bremsklotz“]. Von der Leyen versuche immer | |
wieder, Verständnis aufzubringen und spiele Dinge herunter, statt tätig zu | |
werden. | |
Die langatmige Diplomatie Brüssels spielt Parteien wie Fidesz und der PiS | |
in die Hände. Während die Kommission noch ganz genau beobachtet und in den | |
Dialog tritt, arbeiten die Regierungsparteien längst weiter am Umbau ihres | |
Staates. | |
Die Pandemie verschafft dem Rechtsstaat keine Atempause. Auch Polen ließ | |
sich von den Beschränkungen, die so eine Pandemie erfordert, nicht | |
aufhalten: Der öffentliche Wahlkampf vor der Präsidentenwahl wäre wegen der | |
Infektionsgefahr nicht möglich? Die Regierung hätte es nicht gestört – | |
hätte die Regierungspartei PiS zunächst ihren Willen bekommen, hätten die | |
Pol*innen am 10. Mai trotzdem ihre Stimme abgegeben, und zwar in einer | |
reinen Briefwahl. Letztlich ließ die Regierung es bleiben, aber das lag | |
ganz bestimmt nicht daran, dass EU-Justizkommissar Didier Reynders Probleme | |
mit den Wahlen gesehen hätte. | |
Derweil ist die EU nicht untätig – aber erst dauert es, und dann sind | |
Sanktionen unwahrscheinlich: Gegen beide Länder läuft ein | |
Rechtsstaatsverfahren – gegen Polen seit 2017, das gegen Ungarn wurde 2018 | |
auf den Weg gebracht. Das Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge wird | |
gern als das „schärfste Schwert“ der EU benannt, weil es theoretisch den | |
Entzug der Stimmrechte des Mitgliedslandes nach sich ziehen kann. Praktisch | |
müsste im Europäischen Rat für solche Sanktionen allerdings Einstimmigkeit | |
herrschen. Polen und Ungarn schützen sich hier gegenseitig. | |
Deshalb ist das schärfste Schwert derzeit der Europäische Gerichtshof. Die | |
EU-Kommission strengt immer wieder Vertragsverletzungsverfahren gegen alle | |
Staaten an, die EU-Recht brechen. Also auch gegen Polen und Ungarn. | |
Beispiele sind der Streit um das ungarische NGO-Gesetz oder der wegen des | |
Gesetzes zur Disziplinierung von Richter*innen in Polen. | |
Doch Brüssel wird sich in der zweiten Jahreshälfte mit dem Thema verstärkt | |
beschäftigen müssen: Dann dürfte das Ergebnis des | |
Rechtsstaatlichkeitsberichts fällig sein – vor ihrer Wahl hatte von der | |
Leyen angekündigt, ausnahmslos alle Länder jährlich einer Untersuchung zu | |
unterziehen. Das Thema wird auch in die Diskussion um den Wiederaufbauplan | |
reinfunken: Nach einem Kommissionsvorschlag soll die Auszahlung von | |
EU-Geldern an die Einhaltung der Rechtsstaatsprinzipien gekoppelt sein. Ab | |
dem 1. Juli hat zudem [4][Deutschland die Ratspräsidentschaft inne] und | |
unterstützt Brüssel in dieser Hinsicht. | |
Dieses Momentum sollte Ursula von der Leyen nutzen, denn ihre „Keiner ist | |
perfekt“-Diplomatie reicht angesichts des Treibens in Budapest und Warschau | |
nicht aus. | |
3 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/leyen-polen-ungarn-italien-1.4530981 | |
[2] /Politikwissenschaftlerin-ueber-die-EU/!5696483 | |
[3] https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/eu/id_87734148/eu-abgeordnete-r… | |
[4] /Deutsche-EU-Ratspraesidentschaft/!5697814 | |
## AUTOREN | |
Eva Oer | |
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