# taz.de -- Erinnerung an den Völkermord in Ruanda: Draußen knallen Schüsse | |
> Unsere Autorin wuchs in Deutschland auf. Geboren wurde sie in Ruanda. Im | |
> Frühjahr 1994 beginnt das Morden in dem Land. Da macht sie dort gerade | |
> Urlaub. | |
Bild: Das ewige Feuer in Kigali erinnert an den Völkermord. | |
Als wir am Abend von der Safari zurückkommen, läuft in der Lobby des Hotels | |
klassische Musik – laut und schwer. Etwas stimmt nicht. Der Mann an der | |
Rezeption sagt, mein Vater solle sich sofort bei seinem Chef melden, dem | |
Stationsleiter der Deutschen Welle. | |
Es ist der 6. April 1994, kurz nach Ostern. Tagsüber haben wir einen | |
Ausflug durch Ruandas Nationalpark Akagera gemacht, der ganz im Osten an | |
der Grenze zu Tansania liegt. Wir haben Löwen und Antilopen, Büffel und | |
Elefanten gesehen. Jetzt ist es längst dunkel, wir freuen uns auf das | |
Abendessen, vielleicht gibt es Impalasteak. | |
Sie haben Habyarimana umgebracht, sagt mein Vater, als er vom Telefonieren | |
zurückkommt. Er klingt angespannt. | |
Die Maschine des ruandischen Präsidenten ist abgeschossen worden. Juvénal | |
Habyarimana selbst und mehrere Mitglieder der ruandischen Regierung sind | |
tot. In Kigali hat es schwere Ausschreitungen gegeben. Ab sofort gilt die | |
nächtliche Ausgangssperre wieder ab 19 Uhr. | |
Auf Radio Ruanda läuft ununterbrochen diese beklemmende klassische Musik. | |
Wir essen still. Danach versuche ich zu schlafen. Aber ich spüre, wie meine | |
Angst wächst. | |
Sie haben Habyarimana umgebracht, den Hutu. Auf einmal ist der Krieg ganz | |
nahe. Es ist ein Krieg gegen die Tutsi. | |
Mein Urgroßvater wurde in Kibungo im Südosten Ruandas geboren. Ein Tutsi | |
aus dem Klan der Abega. Die Abega, ihr Totem ist der Frosch, gehören zum | |
ruandischem Hochadel – es ist der Klan, der traditionell die Königsfrauen | |
stellt. | |
Damals, am Ende des 19. Jahrhunderts, ist Ruanda eine feudalistische | |
Monarchie. Tutsi wird die herrschende Elite genannt, die oft reich ist an | |
Rindern. Hutu heißt sinngemäß: Untergebener oder Gefolgsmann. Hutu sind | |
meist Bauern. | |
Das Königreich der Tutsi wird 1959 gestürzt. Die Hutu-Regierungen, die die | |
Macht übernehmen, diskriminieren Tutsi, immer wieder werden sie vertrieben | |
oder getötet. | |
Am 19. April 1973 wird mein Großvater von Hutu-Extremisten ermordet. | |
Ein Jahr später werde ich in Kigali geboren. Tochter eines Deutschen und | |
einer Tutsi aus dem Klan der Abega. Als ich drei bin, ziehen wir nach | |
Niederkassel, einem Städtchen im Rheinland. | |
## Sie nennen Tutsi „Kakerlaken“ | |
Der Krieg in Ruanda hat 1990 begonnen, als eine Armee von Tutsi aus dem | |
Exil von Uganda einmarschiert, die Ruandische Patriotische Front (RPF). | |
Seitdem nennen Hutu-Extremisten die Tutsi wieder „Inyenzi“. Kakerlaken. Sie | |
veröffentlichen Listen, auf denen die Tutsi stehen, die getötet werden | |
sollen. | |
Trotzdem hat sich mein Vater 1992 noch einmal für zwei Jahre auf der | |
ruandischen Station der Deutschen Welle verpflichtet. Ich studiere gerade | |
in Köln und besuche ihn zu Weihnachten, Ostern und im Sommer. Dort, in der | |
Nähe der Hauptstadt Kigali, bekommt man vom Krieg eigentlich wenig mit. | |
Doch jetzt, am Abend des 6. April 1994, ist alles anders. | |
Der nächste Tag beginnt mit Trauermusik aus dem Staatsradio, viel zu laut | |
für eine Hotellobby. Über Nacht haben Militär und Ranger den Nationalpark | |
abgeriegelt. Niemand darf das Gelände des Hotels verlassen. | |
Im Laufe der Nacht sind Hunderte Tutsi in Kigali ermordet worden, erzählt | |
mein Vater, als er vom nächsten Telefonat zurückkommt. Überall im Land soll | |
das so sein. | |
Was ist mit meinen Tanten, meinen Cousinen und Cousins – der Familie meiner | |
Mutter? | |
Eine meiner Tanten ist erst vor Kurzem zu uns nach Deutschland geflüchtet. | |
Jemand hatte sie gewarnt: Ihr Name stehe auf einer der Todeslisten der | |
Interahamwe, der bewaffneten Jugendmiliz der ruandischen Regierungspartei, | |
die seit einigen Jahren Tutsi jagt. | |
In Deutschland können wir niemanden erreichen: Das Telefon im Hotel | |
funktioniert nur innerhalb Ruandas. | |
Mein Vater versucht, mich zu beruhigen. Ganz bestimmt werden wir bald | |
evakuiert. Im Grunde bin ich nur eine Touristin, 20 Jahre alt. Das ist mein | |
Glück. Ich habe einen deutschen Pass. | |
Auch die anderen Hotelgäste schleichen durch die Lobby. Gestrandete, wie | |
wir. Deutsche, Belgier, Dänen, Franzosen, darunter ein paar Kinder. | |
Immerhin hat mein Vater seinen Weltempfänger dabei. So können wir die | |
Nachrichten der BBC hören. | |
Überall im Land werden Tutsi ermordet. Die 2.500 in Ruanda stationierten | |
UN-Blauhelmsoldaten greifen nicht ein. Ihr Mandat sieht das nicht vor. | |
Kurz bevor der Krieg 1990 ausbrach, bin ich mit meiner Mutter in ihrer | |
Heimat gewesen. Ich war 16. In Kibungo, auf den grünen Hügeln zwischen den | |
Bananenhainen, haben wir meine fünf Tanten, deren Kinder, meine Oma und | |
meine Uroma besucht. Nie werde ich diesen Tag vergessen: Meine Uroma, diese | |
kleine Dame von 102 Jahren, sitzt im Schatten vor ihrem Haus auf einer | |
geflochtenen Matte, die Pfeife im Mund. Mit ihrer rauen Hand tätschelt sie | |
meine Wange und kneift mich. „Karye ihene“, sagt sie immer wieder, ihre | |
Hand auf meinem Gesicht. „Karye ihene.“ Sie neckt mich. Meine Mutter | |
übersetzt. 1992 stirbt meine Urgroßmutter, friedlich. | |
Die Interahamwe-Milizen machen Jagd auf Tutsi. Überall werden Menschen | |
erschossen, mit Macheten zerhackt, mit Knüppeln totgeschlagen. | |
Leichenberge. Die Evakuierung von Ausländern läuft an. | |
Der Nationalpark und das Hotel scheinen wie aus der Zeit gefallen. | |
Tiefblauer Himmel, die Sonne strahlt. Ich beobachte die Paviane, die die | |
Küchenabfälle durchwühlen – riesige Zähne, nackte rote Hintern. Wir spiel… | |
Tischtennis, Boule. Warten. | |
Diese wunderschöne Landschaft. Könnten wir doch einfach den Hügel | |
runterlaufen und durch den Ihema-See nach Tansania schwimmen. | |
Radio Télévision Libre des Mille Collines hetzt schon seit einem Jahr gegen | |
Tutsi. Junge Leute mögen den Sender, weil er den besten Rock und Pop | |
spielt. Jetzt werden zwischen der Musik alle aufgefordert, sich an die | |
Arbeit zu machen. Das heißt: die Kakerlaken vernichten, die Tutsi. | |
Tausende Tote: Angriffe auf Krankenhäuser und Kirchen, Plünderungen, | |
Massaker. | |
Nach drei Tagen im Hotel klingen die BBC-Nachrichten apokalyptisch. Wissen | |
die von den UN überhaupt, dass wir hier sind? | |
Täglich scheinen es mehr Parkranger auf dem Hotelgelände zu werden. Alle | |
sind bewaffnet. Am Abend stehen sie bei der Zufahrt am Tor, trinken und | |
diskutieren. Ihre Stimmen klingen immer aggressiver. | |
Zehntausende auf der Flucht. Das Kontingent der Blauhelme wird auf 270 | |
Soldaten reduziert. Frankreich, Belgien und die USA haben | |
Eliteeingreiftruppen geschickt, um alle Ausländer zu evakuieren. | |
Und wir? | |
Dann, am 11. April, passiert nach fünf Tagen Warten gegen 15 Uhr | |
tatsächlich etwas. Zwei Gendarmen kommen die Auffahrt zum Hotel | |
hochgelaufen. Sie sollen uns nach Rwamagana, der nächstgelegenen Stadt | |
eskortieren – zu einem belgischen Entwicklungshilfeprojekt. Von dort, heißt | |
es, sollen wir von UN-Truppen evakuiert werden. | |
Wir werden gleich geschäftig, fast hektisch. Aus Bettwäsche basteln wir | |
weiße Fahnen und befestigen sie an den Antennen der Autos. Einer der | |
Gendarmen fährt im vordersten Fahrzeug mit, der andere im letzten, ein | |
Konvoi von einem guten Dutzend Autos. Die Zeit ist knapp, bis | |
Sonnenuntergang sind es kaum drei Stunden – und in der Dunkelheit kann | |
niemand für unsere Sicherheit garantieren. | |
Nachdem wir das Parkgelände hinter uns gelassen haben: die ersten | |
Straßensperren. Die Straßen sind mit Baumstämmen blockiert. Die | |
Kontrolleure sind bewaffnet mit allem, was zum Töten taugt: Knüppeln, | |
Macheten, mit Nägeln gespickten Keulen, Beilen, sogar Pfeil und Bogen. An | |
diesen aggressiven, betrunkenen Männern müssen wir vorbei. | |
An jeder der Sperren werden alle Wagen kontrolliert. Die Milizionäre | |
schauen nur kurz durchs Fenster. Wir werden ja von Gendarmen begleitet. | |
Sieht man mir an, dass ich eine Tutsi bin? | |
## Wir fahren durch die Hölle | |
Links und rechts der Straße zerstörte Häuser, überall Bewaffnete, am | |
Straßenrand liegen Leichen. Im Park waren wir abgeschnitten – jetzt fahren | |
wir direkt durch die Hölle. Ich versuche, so wenig wie möglich aus dem | |
Fenster zu sehen. | |
Nach einer ewigen Fahrt erreichen wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit | |
Rwamagana. Das Gelände ist von hohen Mauern umgeben. Endlich kann ich meine | |
Mutter in Deutschland anrufen. Sie weint und schreit vor Erleichterung. | |
Bisher hatte sie weder etwas von ihren Schwestern noch von uns gehört. | |
Draußen knallen Schüsse, Menschen schreien. Das Grölen und Brüllen der | |
Interahamwe ist nur ein paar Meter entfernt, sie schlagen mit Stöcken | |
aufeinander. Sie sind auf Treibjagd. Direkt hinter der Mauer. | |
Wie können Menschen so etwas tun? Das frage ich mich immer noch, immer | |
wieder, seit damals. | |
Die Ursprünge des Hasses haben mit den deutschen Kolonialherren zu tun, die | |
1890 nach Ruanda kamen. Mit ihren europäischen Rassentheorien wollten sie | |
erklären, warum die Tutsi den Hutu überlegen seien. So wurden Ethnien | |
konstruiert, die Trennlinie der ruandischen Gesellschaft. Ab 1931, unter | |
den Belgiern nun, musste die Ethnie im Ausweis jeder Ruanderin, jedes | |
Ruanders stehen. Aus den sozialen Kategorien Tutsi und Hutu wurden | |
„Rassen“. | |
Die meisten Deutschen sind außer Landes gebracht. Der deutsche Botschafter | |
und seine Frau verlassen das Land. | |
Noch eine schlaflose Nacht hinter den Mauern. Noch ein Tag Warten. | |
Und dann, am Nachmittag des nächsten Tages, sind sie da: belgische | |
Fallschirmjäger mit einem Schützenpanzer und zwei Lastwagen. Sie sind | |
angespannt – auf dem Weg zu uns wurden sie beschossen. Schnell soll alles | |
in die Autos verfrachtet werden. | |
Gegen 17.30 Uhr erreichen wir Kigali. Französische und amerikanische | |
Eingreiftruppen sichern den Flughafen. Auf allen Dächern stehen und liegen | |
Soldaten mit Waffen im Anschlag. Alles erscheint unwirklich, wie in einem | |
Hollywoodfilm. | |
## Ich habe den richtigen Pass | |
Wir haben es geschafft. Fast eine Woche nach Beginn des Massenmordens. Das | |
Flugzeug, das uns in Sicherheit bringen soll, ist eine Lockheed C-130 | |
Hercules. Mein Vater weiß so was. Ein Transportflugzeug, in dessen riesige | |
Luke so viele Menschen wie möglich einsteigen. Manche haben Gepäck, manche | |
gar ihr Haustier dabei. So erleichtert und dankbar ich bin, so wütend und | |
verzweifelt macht mich diese Ungerechtigkeit. Die europäischen Haustiere | |
fliegt man aus. Die Tutsi, die nur einen ruandischen Pass vorzeigen können, | |
werden am Flughafentor aussortiert und in den Tod geschickt. | |
Aber ich, ich habe den richtigen Pass. Gegen 18 Uhr startet die Maschine. | |
Wir verlassen Ruanda. | |
100 Tage dauert der Völkermord. Eine Millionen Menschen werden umgebracht. | |
Auch meine Tanten, meine Cousinen und Cousins – es überleben nur drei. | |
Das wissen wir aber erst sicher, als meine Mutter im Dezember 1994 nach | |
Ruanda fährt. Sie kommt mit meiner acht Jahre alten Cousine zurück, die von | |
einer deutschen Familie adoptiert wird. Ihre Adoptivmutter schreibt | |
schließlich ein Buch darüber, wie meine Cousine überlebt hat. Es erscheint | |
2002. | |
Als ich 1994 nach Ruanda flog, hatte ich Lateinamerikanistik studiert. Als | |
ich zurückkam, brach ich das Studium und mein bisheriges Leben erst einmal | |
ab. Ich machte eine Tischlerlehre. Später dann schrieb ich mich für | |
Ethnologie ein. | |
In den Jahren nach dem Genozid habe ich mich dem Thema immer wieder | |
genähert, habe alle Bücher darüber gelesen. Zu Ruanda habe ich trotzdem | |
Abstand gehalten. Nachdem dieses Buch über meine Cousine erschienen ist, | |
geht das nicht mehr. | |
Mit 28 beschließe ich, noch einmal hinzufliegen, um auszuprobieren, wie es | |
sich anfühlt. | |
Meine Eltern sind entsetzt, als sie hören, was ich vorhabe. Ich fliege | |
trotzdem. | |
## Heute bin ich nicht einmal mehr Gast | |
Was will ich hier eigentlich, frage ich mich dann, als ich im September | |
2002 durch Kigali laufe. Ich wohne bei einer Freundin meiner Mutter. Sie | |
hat in der RPF gekämpft, die den Völkermord beendet hat. Deren Kommandeur, | |
Paul Kagame, regiert jetzt Ruanda. Er ist Präsident. Im Zentrum von Kigali | |
kann ich mich gut orientieren. Es hat sich wenig verändert. Beim | |
Spazierengehen fühle ich mich trotzdem verloren. Früher schon kam ich mir | |
nur wie ein Gast vor, heute bin ich nicht einmal mehr das. | |
Sobald drei oder vier Männer zusammenstehen, frage ich mich, was sie wohl | |
1994 gemacht haben. Ich ersticke fast. Ich fühle mich umzingelt von | |
Mördern. Aber was habe ich erwartet? | |
Ich besuche die Genozid-Gedenkstätte Gisozi, an einem Berghang in einem | |
Wohnviertel von Kigali. Die Gebäude sind fast fertig. In neun Massengräbern | |
sind mehr als 250.000 Tote bestattet, alle aus der Umgebung. Im | |
Hauptgebäude sind drei Vitrinen gefüllt mit Totenschädeln, Gebeinen, | |
Kleidungsstücken, Ausweisen, Schuhen. | |
Danach fühle ich mich benommen, wie betäubt. | |
Am nächsten Tag fahre ich nach Butare, Ruandas zweitgrößte Stadt. Vor dem | |
Fenster des Minibusses sehe ich zerstörte Häuser, viele Ruinen. In Butare | |
war ich als Kind häufiger im Hotel Ibis. Ein Ausflugsziel, es gab Fanta | |
Citron auf der Terrasse. Jetzt fühlt es sich seltsam an, hier zu sein. Das | |
Ibis war eine der Zentralen der Interahamwe, in der unzählige Menschen zum | |
Hinrichten gesammelt wurden. Wer weiß, wer auf diesem Stuhl saß. | |
Es fällt mir schwer, über das, was passiert ist, nachzudenken. Vielleicht | |
weil ich Angst habe vor den Schmerzen. Das ist auch der Grund, warum meine | |
Mutter das Land meidet. | |
Die Menschen, die ich nun treffe, scheinen nicht reden zu wollen. In Ruanda | |
spricht man ohnehin kaum über Gefühle, schon gar nicht mit Fremden. | |
„Personnes au coeur blessé“, sagt man hier, „Menschen mit verwundetem | |
Herzen“, nicht: traumatisiert. Wer ein Trauma hat, gilt als verrückt oder | |
verhext. Wie mein Cousin, der überlebt hat. Geh dem aus dem Weg, sagen sie | |
in seinem Dorf. | |
## Die Regierung fordert zu vergessen | |
2002 werden gerade die ersten Dorfgerichte namens Gacaca eingesetzt. Deren | |
Prozesse sollen dort stattfinden, wo die Morde geschahen: Die Täter, die | |
aus den Gefängnissen entlassen werden, sollen sich in ihren Dörfern den | |
Überlebenden stellen – wenn es welche gibt. | |
Wer weiß, sagt Gapezi, ob die Gacacas etwas ändern. Gapezi, die Schwester | |
meiner Gastmutter, ist die Erste, die sich mit mir länger über die Lage | |
nach dem Genozid unterhält. Wir essen bei ihr zu Mittag. Zwar kann man | |
hoffen, sagt Gapezi, dass die, die im Gefängnis sitzen, die anderen Mörder | |
beschuldigen. Aber dass Überlebende reden, bezweifelt sie. Die Gefahr, | |
umgebracht zu werden, sei viel zu groß. | |
Zwar gibt es kaum mehr Morde, aber Angst. Die Regierung fordert zu | |
vergessen. Es gebe keine Hutu mehr, keine Tutsi, nur noch Ruander. Aber wie | |
kann man so etwas vergessen? | |
Es gelingt ja nicht einmal mir – im fernen Deutschland. | |
Als ich zurück bin, merke ich: Ich muss wieder Abstand nehmen, auch | |
gedanklich. Ich halte das sonst nicht aus. | |
Im Oktober 2013 versuche ich es noch einmal. Jetzt sind fast 20 Jahre | |
vergangen. | |
Kigali scheint komplett abgerissen und neu gebaut zu werden, als könne man | |
so vor der Vergangenheit fliehen. Wie ein Raumschiff schweben die | |
Hochhäuser über den fünf Hügeln, auf denen die Hauptstadt erbaut ist. Es | |
gibt keine Straßenhändler mehr, die Fahrer der Motorradtaxis tragen alle | |
grüne Westen und haben auch für ihre Fahrgäste einen Helm dabei. Die Ampeln | |
zeigen die Sekunden an, bis sie umschalten. Plastiktüten sind in ganz | |
Ruanda verboten. | |
Ich kann bei einer Freundin meiner Cousine wohnen. Sie ist als kleines Kind | |
1994 mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, hat dort BWL studiert, | |
jetzt arbeitet sie seit ein paar Jahren in Kigali und wohnt in einer WG. | |
Sie zeigt mir die neue Stadt. Hoteldachterrassen mit Panoramablick, das | |
edle Einkaufszentrum mit der ruandischen Variante von Starbucks. Wir essen | |
Ziegenfleischspieße, Kochbananen und gegrillten Fisch. Wir reden viel. | |
Ich soll einmal im Sommer kommen, sagt die Freundin. Nicht zur Gedenkzeit | |
im Frühling. Im Sommer kann sich Ruanda richtig gut anfühlen, sagt sie. | |
Am Tag meiner Abreise besuche ich noch einmal die Genozid-Gedenkstätte. Als | |
ich das Gelände betrete, passiert etwas mit mir. Ich muss einfach nur | |
weinen. Ich setze mich auf eine Bank im Garten und kann nicht mehr | |
aufhören. Ich heule und heule. | |
Ein schmaler junger Mann in Hemd, Jackett und Stoffhosen reicht mir ein | |
Taschentuch, dann eine Flasche Wasser. Er fragt, ob ich ein wenig laufen | |
möchte. Seine Stimme ist ruhig, beruhigend. Ob ich ihm erzählen will, was | |
mich so bewegt. | |
Er arbeite in der Gedenkstätte, sagt er. Das sei ihm sehr wichtig. Seine | |
Eltern und seine Geschwister sind hier begraben. | |
6 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Marie-Claude Bianco | |
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