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# taz.de -- Lehren aus Ruanda bleiben folgenlos: Von Kigali nach Kiew
> Der Genozid an Ruandas Tutsi vor 28 Jahren hat die Weltgemeinschaft
> gelehrt, wie man einen Völkermord erkennt. Aber nicht, wie man ihn
> verhindert.
Bild: Ruandas Präsident Paul Kagame bei seiner Gedenkrede am 7. April 2022
„Nie wieder“, heißt es immer, und doch geschieht es immer wieder. Am
Donnerstag, 7. April, gedachte Ruanda des Beginns des Genozids an den Tutsi
vor 28 Jahren, als innerhalb von drei Monaten rund eine Million Menschen
auf Befehl ermordet wurden. In einer grimmigen [1][Gedenkrede] erinnerte
Ruandas Präsident Paul Kagame an den systematischen Charakter dieses
Völkermordes: „Es gibt hier Menschen, die nannte man Kakerlaken. Der
Begriff Kakerlake war für eine spezifische Gruppe reserviert. Und als sie
töteten, töteten sie Kakerlaken. Das war, was sie sagten. Sie sagten es
öffentlich.“
Während Kagame in Kigali sprach, wurden in Butscha nahe der ukrainischen
Hauptstadt Leichen aus den Trümmern gekratzt – Hunderte zivile Opfer der
russischen Armee während ihrer Kontrolle über Vorstädte Kiews. Die Bilder
von Butscha haben die Debatte über den Charakter des russischen Krieges
gegen die Ukraine auf eine neue Stufe gehoben, in der auch der Begriff
„Völkermord“ fällt.
Denn anders als beim Horror von Mariupol und anderer bombardierter Städte
handelt es sich bei den [2][Leichen von Butscha] nicht um Opfer
militärischer Angriffe auf Gebiete unter Kontrolle des Gegners, sondern um
das Ergebnis dessen, was Russlands Armee dort anrichtete, wo sie die
Kontrolle hatte. Butscha ist für die Ukraine ein Vorgeschmack auf das, was
das ganze Land erwartet, sollte Russland diesen Krieg gewinnen.
## Maßgeblich ist die Absicht
Bei einer Charakterisierung von Massenmorden als „Völkermord“ geht es nicht
um das Ausmaß oder die Art der Tötung. Maßgeblich ist die Absicht. [3][Die
UN-Völkermordkonvention von 1948] definiert als Völkermord „eine der
folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale,
ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise
zu zerstören: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem
körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet
sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der
Gruppe gerichtet sind; gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in
eine andere Gruppe.“
Die Aufarbeitung des Völkermordes in Ruanda ermöglichte es, zu lernen,
woran man diese „Absicht“ erkennt. Zwei Merkmale waren maßgeblich: ein
Weltbild, das eine Bevölkerungsgruppe als zu vernichtenden Feind darstellt;
und eine Tötungsmaschinerie für die Vernichtung auf Befehl.
Ruandas erster Hutu-Präsident Grégoire Kayibanda [4][drohte bereits 1964]
mit dem „totalen und plötzlichen Ende der Tutsi-Rasse“. Er war ein Produkt
der kolonialen katholischen Mission, die gelehrt hatte, dass Ruandas Tutsi
eine fremde Herrscherrasse seien, und er zog daraus den Schluss, Freiheit
für Ruanda bedeute die Entfernung der Tutsi. Als Nachkommen vertriebener
Tutsi 1990 unter Führung von Paul Kagame zu den Waffen griffen, legte der
Generalstab der ruandischen Armee folgende „Definition des Feindes“ fest:
„Der Hauptfeind ist der Tutsi inner- und außerhalb.“ Dafür wurde Ruandas
Armee [5][unter Anleitung Frankreichs] vergrößert und mit
Hutu-Jugendmilizen angereichert, die nicht zwischen Tutsi-Rebellen und
Tutsi-Zivilbevölkerung unterschieden.
## Ideologische und militärische Mobilisierung
Den kommenden Krieg, schrieb im Januar 1994 das Hutu-Hetzblatt Kangura,
werde nur das „Mehrheitsvolk“ überleben, also die Hutu. Am 3. April 1994
prophezeite der Hetzradiosender Mille Collines eine „kleine Sache in
Kigali“ in den nächsten Tagen. Am 6. April wurde von einer Stellung der
Präsidialgarde das Flugzeug mit Ruandas Präsident Juvénal Habyarimana
abgeschossen, der gerade Frieden mit den Tutsi-Rebellen bestätigt hatte;
das Militär ergriff die Macht und begann das Abschlachten des „Feindes“.
Ruandas Kombination von ideologischer und militärischer Mobilisierung
ähnelt auch Russlands Kriegsvorbereitung, von Putins berüchtigtem
historischen Essay über die Nichtexistenz der Ukraine bis hin zum
Truppenaufbau an der ukrainischen Grenze. Und am 3. April 2022, genau 28
Jahre nach der Prophezeiung einer „kleinen Sache“ in Kigali,
veröffentlichte Russlands staatliche Nachrichtenagentur [6][RIA-Nowosti
einen Beitrag „Was soll Russland mit der Ukraine machen?“] über Russlands
Kriegsabsichten, der in der Stoßrichtung den Hetzreden in Ruanda ähnelt.
Man könne in der Ukraine nicht zwischen Regierung und Volk unterscheiden,
wird argumentiert. Die „Entnazifizierung“ der Ukraine sei nicht nur eine
Militäroperation, sondern „eine Serie von Aktionen gegen die nazifizierte
Bevölkerungsmehrheit“, eine „Entukrainisierung“. Die Eliten seien zu
eliminieren, das Volk – bezeichnet als „sozialer Sumpf“ – durch dauerha…
Zwangsarbeit und Umerziehung gefügig zu machen.
## Die Ukraine zahlt den Preis
Als „eines der [7][offensten genozidalen Dokumente], das ich je gesehen
habe“, bezeichnet der [8][Osteuropa-Historiker Timothy Snyder] diesen Text
und verweist darauf, dass er an dem Tag erschien, als die Bilder von
Butscha um die Welt gingen. Der Holocaust-Historiker Eugene Finkel
schreibt: „Es ist schwer, sich eine deutlichere Handlungsanleitung zur
Zerstörung einer nationalen Gruppe vorzustellen. […] Die Schwelle von
Kriegsverbrechen zum Völkermord ist überschritten.“
Die Debatte über Ruanda hat nicht nur die praktische Definition von
Völkermord vorangebracht. Sie hat auch hervorgehoben, dass die
internationale Staatengemeinschaft damals tatenlos zusah. Dabei definiert
die UN-Völkermordkonvention von 1948 nicht nur das Verbrechen des
Völkermordes, sie verpflichtet die UN-Mitglieder auch „zu dessen Verhütung
und Bestrafung“.
Verhütung eines Völkermordes – das hieße, den Mördern entgegenzutreten,
bevor sie zur Tat schreiten, also in der Phase ihrer Mobilmachung,
ideologisch und militärisch. Diese Lehre aus Ruanda hat die
Weltgemeinschaft nicht gezogen. Die Ukraine zahlt dafür den Preis.
11 Apr 2022
## LINKS
[1] https://www.ktpress.rw/2022/04/full-speech-president-kagames-remarks-at-kwi…
[2] /Massaker-in-Butscha/!5843277
[3] https://www.voelkermordkonvention.de/
[4] https://francegenocidetutsi.org/Kayibanda11mars1964.pdf
[5] /Voelkermord-in-Ruanda/!5758154
[6] https://medium.com/@kravchenko_mm/what-should-russia-do-with-ukraine-transl…
[7] https://ria.ru/20220403/ukraina-1781469605.html
[8] https://snyder.substack.com/p/russias-genocide-handbook
## AUTOREN
Dominic Johnson
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