# taz.de -- Völkermord in Ruanda: Schwarzbuch Frankreich | |
> Wie tief war Frankreich in den Völkermord an Ruandas Tutsi 1994 | |
> verstrickt? Eine Kommission enthüllt das Ausmaß der Kumpanei. | |
Bild: Ruandische Hutu-Freiwillige begleiten französische Spezialkräfte in Rua… | |
BRÜSSEL/BERLIN taz | Es war die vierte Oktoberwoche des Jahres 1990. Zu | |
Monatsbeginn hatte eine Rebellenarmee, die von Exiltutsi gebildete | |
„Ruandische Patriotische Front“ (RPF), Ruanda von Uganda aus angegriffen; | |
Ruandas Hutu-Diktatur schlug die Rebellen mit Hilfe unter anderem | |
Frankreichs zurück. Der Konflikt schien überwunden, Frankreich bereitete | |
sich auf den Abzug vor. | |
Dann, am 22. Oktober, warnte Frankreichs Militärattaché in Ruanda, Oberst | |
Galinié, in einem internen Bericht, dass die ruandische Armee | |
Freiwilligenverbände aufstelle, die „Massaker an Tutsi“ begehen könnten. | |
Eine mögliche Folge, fürchtete er, wäre „eine Bitte der Tutsi und der ihnen | |
wohlgesinnten Hutu, dass Frankreich sie schützt“. | |
Zwei Tage später legte er nach: Ein Waffenstillstand zwischen Ruandas | |
Regierung und den Tutsi-Rebellen wäre für die Regierung inakzeptabel und | |
„würde wahrscheinlich die physische Auslöschung der Tutsi im Land nach sich | |
ziehen, 500.000 bis 700.000 Personen“. | |
Das war, knapp dreieinhalb Jahre bevor die „physische Auslöschung der | |
Tutsi“ in Ruanda landesweit begann. In der Zwischenzeit rüstete Frankreich | |
die ruandische Hutu-Regierung massiv auf, verteidigte sie gegen die RPF und | |
ermunterte sie zugleich zu Friedensgesprächen, die genau das befürchtete | |
Ergebnis hatten: Eine Machtteilung mit den Tutsi-Rebellen wurde vereinbart, | |
radikale Hutu-Generäle lehnten dies ab, und nachdem Ruandas Präsident | |
Juvénal Habyarimana am 6. April 1994 getötet worden war, begannen sie mit | |
der „Auslöschung“. Und Frankreich schützte die Opfer nicht, sondern die | |
Täter. | |
Der Bericht Galiniés vom 24. Oktober 1990 ist seit Jahren bekannt: er | |
beweist, dass Frankreich schon früh mit einem Völkermord rechnete. Das | |
Warnschreiben vom 22. Oktober ist offenbar neu entdeckt und befindet sich | |
zusammen mit dem bekannten Schreiben im Untersuchungsbericht einer | |
Historikerkommission, deren Bericht an Frankreichs Präsidenten Emmanuel | |
Macron, [1][„Frankreich, Ruanda und der Völkermord an den Tutsi | |
(1990–1994)“] am Freitagabend veröffentlicht wurde. | |
## „Schwere und erdrückende Verantwortung“ | |
Der 992 Seiten lange Bericht hat es in sich. Er schlussfolgert, Frankreich | |
trage „schwere und erdrückende Verantwortung“ am ruandischen Genozid. Es | |
bestehe eine „politische“ Verantwortung: „die französischen Behörden ha… | |
eine fortdauernde Blindheit in ihrer Unterstützung eines rassistischen | |
Regimes bewiesen“. Es gebe „institutionelle“ Verantwortungen: Missachtung | |
von Dienstwegen, parallele Kommunikations- und Befehlsketten bei Präsident | |
Mitterrand und seinen Konsorten, die ihre Macht missbraucht hätten. Und es | |
gebe „intellektuelle“ Verantwortung: Mitterrands Berater hätten gegenüber | |
der Öffentlichkeit die ruandische Realität verzerrt, indem sie von einem | |
ethnischen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi sprachen und von einem | |
Bürgerkrieg, als es um einen organisierten Völkermord ging. | |
Der Vorwurf der „Blindheit“ erscheint angesichts der genauen französischen | |
Kenntnisse über Gewaltakte in Ruanda paradox und wurde in ersten Reaktionen | |
bereits zurückgewiesen. Die Nichtregierungsorganisation „Survie“, | |
traditionell schärfste Kritikerin der französischen Afrikapolitik, spricht | |
in einer [2][Erklärung] von einer „oberflächlichen Analyse, die den | |
französischen Staat fälschlicherweise entlastet“. | |
Am andere Ende des Spektrums weist Mitterrands damaliger Außenminister | |
Hubert Védrine den Vorwurf zurück, man habe Warnungen ignoriert: „Es | |
bedurfte keiner Warnungen, um zu wissen, dass ein gigantisches Risiko | |
bestand“, erklärt er gegenüber AFP: „Von Anfang an war klar, dass es eine | |
fürchterliche Verhärtung geben würde.“ | |
## Nicht alle Materialien einsehbar | |
Macron gab den Historikerbericht am 24. Mai 2018 in Auftrag, als er sich | |
mit Ruandas Präsidenten Paul Kagame traf – Kagame führte ab 1990 die | |
RPF-Rebellen in Ruanda, die schließlich im Juli 1994 das Völkermordregime | |
stürzten und in Ruanda die Macht übernahmen. Der französische Präsident | |
gründete eine Kommission aus 15 Historikern unter Professor Vincent | |
Duclert. Die französischen Staatsarchive wurden der Kommission weitgehend | |
geöffnet. | |
Doch die Historiker geben jetzt zu, dass sie in der relativ kurzen Zeit | |
nicht alles restlos erforschen konnten, dass ihnen manche Dokumente, die | |
„die Vorbereitung des Völkermordes dokumentiert hätten“, vorenthalten | |
blieben – und dass eine rein archivarische Forschung eben nichts | |
herausfindet, was nicht in den Archiven ist. | |
Das hindert die Kommission nicht daran, vor allem den damaligen | |
sozialistischen Präsidenten François Mitterrand und dessen „starke, | |
persönliche und direkte“ Beziehung zu seinem ruandischen Amtskollegen | |
Habyarimana in die Kritik zu nehmen. Mitterrands präsidialer Generalstab | |
stellte die RPF-Angriffe zu Kriegsbeginn 1990 als ugandische Invasion dar | |
und sprach von einer „anglophonen“ Bedrohung. | |
Alle frühen Erkenntnisse, dass Habyarimanas Regierung in Reaktion auf diese | |
„Invasion“ vor allem die Tutsi im eigenen Land angriff, blieben ebenso | |
folgenlos wie in den Jahren danach die sich häufenden Berichte über | |
Massaker an Tutsi. Derweil baute Frankreich seine militärische | |
Unterstützung Ruandas immer weiter aus. | |
„In keiner Analyse wird die Bedrohung der Tutsi und der Opposition | |
erwähnt“, merken die Historiker kritisch an, und: „Die Abfolge der | |
Ereignisse hätte den französischen Behöden den systematischen Charakter der | |
Verfolgung der Tutsi klarmachen müssen und sie dazu bringen müssen, die | |
Entscheidung zur Unterstützung des Habyarimana-Regimes zu hinterfragen.“ | |
Die Historiker räumen mit einem Dauerstreitthema auf. Am Abend des 6. April | |
1994 wurde im Anflug auf Ruandas Hauptstadt Kigali das Flugzeug | |
abgeschossen, das Habyarimana von einer Friedenskonferenz nach Hause | |
brachte – direkt im Anschluss begann Ruandas Präsidialgarde in Kigali, | |
Hutu-Oppositionelle und Tutsi zu jagen, der Beginn des Völkermordes. | |
Jahrzehntelang beschuldigte Frankreich danach die RPF, das Flugzeug | |
abgeschossen zu haben. Der Bericht enthüllt nun, dass Frankreichs | |
Auslandsgeheimdienst DGSE bereits seit Juli 1994 radikale Hutu-Kräfte, die | |
einen Friedensschluss mit der RPF ablehnten, für [3][die Täter] hält. | |
Die Massaker an Tutsi waren von der ersten Stunde an bekannt und werden in | |
zahlreichen internen Berichten beim Namen genannt. Öffentlich sprach | |
Frankreich aber von „interethnischen Übergriffen“ zwischen Hutu und Tutsi | |
und setzte ausgerechnet auf als Hardliner bekannte Hutu-Generäle, um „die | |
Präsidialgarde zur Vernunft zu bringen“, wie es hieß. | |
## Keine „Komplizität“? | |
Den Vorwurf einer „Komplizität“ Frankreichs mit den Völkermordtätern wei… | |
der Bericht zurück. Die Historiker erklären es für „unmöglich, mit | |
Gewissheit Waffenströme aus Frankreich nach Ruanda nach Beginn des | |
Völkermords an den Tutsi nachzuweisen“, und führen dies auf das „Fehlen | |
signifikanter Archive in den in Frankreich konsultierten Beständen“ zurück. | |
Bestehende Erkenntnisse dazu ignorieren sie aber, beispielsweise | |
Zeugenaussagen gegenüber einer früheren parlamentarischen Untersuchung, | |
wonach die französische Evakuierungsmission zu Beginn des Völkermordes bei | |
ihrem Abzug ihre Munition an Ruandas Armee übergeben habe. | |
Frankreichs Armee führte in den ersten Tagen des Massenmordens eine | |
Evakuierungsaktion für Ausländer durch, da man fürchtete, die eigenen | |
Landsleute könnten Zielscheiben der RPF werden. Gegen die Massaker selbst | |
einzugreifen – diese Möglichkeit schien in Frankreich keinem | |
Verantwortungsträger in den Kopf gekommen zu sein. Vielmehr fürchtete man, | |
zitiert der Bericht hohe französische Generäle aus den Monaten April und | |
Mai 1994, dass jetzt unter ugandischer Führung „ein Tutsiland entsteht, mit | |
angelsächsischer Unterstützung“, und dass „jetzt die Tutsi die Hutu | |
massakrieren werden“. Erst am 23. Juni 1994, als die meisten Tutsi Ruandas | |
schon tot waren, rückte Frankreichs Armee wieder in Ruanda ein, um mit | |
ihrer „Operation Turquoise“ eine „sichere humanitäre Zone“ im Westen | |
Ruandas einzurichten und diese vor der RPF zu schützen. | |
Eine UN-Resolution segnete diese Intervention als „humanitär“ ab. Intern | |
sah man das in Frankreich anders. Ein diplomatischer Berater des | |
Premierministers ordnete sie in einer „Logik der Rückeroberung Ruandas“ | |
ein. Ein General, so der Bericht, habe vorgeschlagen, „vorzurücken, um (…) | |
in Richtung Kigali vorzustoßen“. Frankreich sah sich offenbar als Retter | |
des in Auflösung begriffenen Hutu-Regimes. | |
Der Bericht führt zwar aus, dass Frankreichs Regierung am 15. Juli 1994 | |
öffentlich erklärte, man werde für den Völkermord verantwortliche | |
ruandische Regierungsangehörige „internieren, um sie daran zu hindern, ihre | |
Aktivitäten fortzusetzen, und sie auf Anforderung den Vereinten Nationen zu | |
übergeben“. Der Elysée-Palast habe das aber abgeblockt, da ein solcher | |
Schritt nicht im UN-Mandat enthalten war – wobei die USA dies im | |
UN-Sicherheitsrat vorgeschlagen, Frankreich es aber abgebügelt habe. | |
So fand die aus Kigali geflohene Völkermordregierung bei den Franzosen | |
Schutz – und sicheres Geleit in den benachbarten Kongo durch die | |
französische Fremdenlegion, wie ein Beteiligter in der Legionärszeitschrift | |
Képi blanc enthüllt hat, was den Historikern offenbar entgangen ist. Ein | |
kürzlich freigegebenes Dokument des französischen Generalstabs bestätigt | |
„die Option, die Reste der ruandischen Armee samt ihrer Ausrüstung nach | |
Zaire (heute Kongo) zu verlagern, um von dort aus den Widerstand | |
fortzusetzen“. | |
28 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.vie-publique.fr/rapport/279186-rapport-duclert-la-france-le-rwa… | |
[2] https://survie.org/themes/genocide-des-tutsis-au-rwanda/la-france-et-le-gen… | |
[3] /Frankreich-stellt-Ruanda-Verfahren-ein/!5555665 | |
## AUTOREN | |
François Misser | |
Dominic Johnson | |
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