# taz.de -- Einsamkeit in der Gesellschaft: Bis es wehtut | |
> Mehr Community, weniger Gemeinschaft: Einsamkeit ist zum großen Thema | |
> unserer Zeit geworden. Aber wie verbreitet ist sie wirklich? | |
Bild: Zwischen zehn und fünfzehn Prozent der Menschen in Deutschland leiden ze… | |
Wenn die Einsamkeit sie überkommt, sitzt Mira* in ihrer Küche am Tisch und | |
grübelt. Sie denkt darüber nach, woher dieses Gefühl kommt, das ihr Leben | |
schon seit ihrer Kindheit dominiert. Mira fragt sich, wie viel ihrer | |
Einsamkeit aus ihr selbst kommt, wie viel gesellschaftlich bedingt ist. | |
Warum das Gefühl sie auch dann plagt, wenn sie von Menschen umgeben ist. | |
Sie beobachtet andere, fragt sich, wieso sie nicht so lachen, plaudern, | |
sein kann. Seit ein paar Jahren ist sie auf der Suche nach dem Warum. Eine | |
Antwort hat sie noch nicht. Also sucht sie weiter. | |
Mira ist eine junge, hübsche Frau mit langen Haaren, die sich an ihr | |
hellblaues Sommerkleid schmiegen. Wenn sie aufgeregt ist, wird sie heiser, | |
dann redet sie leiser und etwas gebrochen. Sie hat sich auf eine Annonce im | |
Internet gemeldet: „Suche Menschen, die sich einsam fühlen.“ „Ich habe | |
schon seit meiner Kindheit mit Einsamkeit zu tun/kämpfen. Ich würde gerne | |
mit dir darüber reden“, schrieb sie zurück. | |
Die Annonce ist Teil einer taz-Recherche zu Einsamkeit. Zwischen zehn und | |
fünfzehn Prozent der Menschen in Deutschland leiden zeitweise unter | |
Einsamkeit, ergab eine Studie der Uni Bochum von 2016. Bei Menschen über 85 | |
sind es 20 Prozent. Das Thema wird auch aktuell wieder diskutiert. | |
[1][„Immer mehr Deutsche fühlen sich einsam“,] lauteten die Schlagzeilen | |
von Welt, Tagesschau und anderen Medien noch am Donnerstag. Von 2011 bis | |
2017 sei die Einsamkeitsquote bei 45- bis 84-Jährigen um 15 Prozent, in | |
einzelnen Altersklassen um knapp 60 Prozent gestiegen. Die Zahlen stammen | |
aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP. | |
Großbritanniens Premierministerin Theresa May hat das Thema vergangenes | |
Jahr zur Chefsache erklärt, um der „traurigen Realität des modernen Lebens�… | |
zu begegnen. In Deutschland ist die Debatte in dem Maße noch nicht in der | |
Bundespolitik angekommen, aber auch hier wird diskutiert, wie mehr gegen | |
die Vereinzelung von Menschen getan werden kann. Wer ist zuständig für die, | |
die sich einsam fühlen? | |
## Das Thema ist schambehaftet | |
Ausgangspunkt der Recherche war der Hashtag [2][#KeinerBleibtAllein] auf | |
Twitter. Das Projekt begann am 24. Dezember 2016 infolge eines Posts von | |
Christian Fein, der an Weihnachten mit dem Hashtag #KeinerTwittertAllein | |
einsame Menschen zusammenbringen wollte. 2018 wurde aus dem Hashtag der | |
Verein „Keine(r) Bleibt Allein“. Die Idee: Menschen, die sich einsam | |
fühlen, melden sich und werden an andere vermittelt. Eine Dating-Plattform | |
für Menschen, die nicht Sex oder Liebe suchen, sondern Gesellschaft. | |
Unter dem Hashtag finden sich zahlreiche Einträge. „Hallo, mir geht’s | |
beschissen“, schreibt die Nutzerin @GuteLaune10. „Ich würde so gerne | |
Menschen kennen lernen, habe aber teilweise unglaubliche Angst davor und | |
weiß nicht, wie ich das überhaupt anstellen soll“, der Nutzer | |
@justaparasite1. Viele Menschen hätten sich auf den Hashtag gemeldet und | |
„zueinander gefunden“, sagt Initiator Christian Fein. Aber kaum jemand will | |
darüber sprechen. „Weil ja niemand gern damit hausieren geht, dass er nicht | |
in der Lage ist, sich zu sozialisieren.“ | |
Über den Hashtag findet sich niemand, der mit einer Journalistin reden | |
will. Auf die Annonce im Internet meldet sich Mira als Einzige. Aber auch | |
für sie ist das Thema schambehaftet, weshalb sie darum bittet, dass ihr | |
Name geändert wird. | |
Mira wechselt im Gespräch oft zwischen kindlicher Begeisterung und | |
erwachsenem Pragmatismus. Ihre kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus ist | |
ihr Rückzugsort. Hier fühlt sie sich geborgen. | |
## Lange fühlte Mira sich stimmlos | |
Sie sammelt DVDs und alte Videokassetten, „Harry Potter“, „Sonnenallee“… | |
Filme, die die Jugend von Menschen in ihrem Alter geprägt haben. In der | |
Ecke ihres Schlafzimmers steht ein E-Piano. Wenn sie traurig ist, setzt sie | |
sich an das E-Piano und singt. „Ich habe mir immer gewünscht, singen zu | |
können, aber ich war lange stimmlos“, sagt sie. Stimmlos in dem Sinne, dass | |
sie sich nicht ausdrücken konnte. „Im Alltag wie musikalisch.“ | |
Die meiste Zeit verbringt Mira allein. Täglich geht sie mit ihrem Hund | |
spazieren, manchmal in einen Park oder den Wald. Doch immer nur kurz, denn | |
der Hund ist alt. „Ich bin gern allein“, sagt Mira. Sie mag es, in eine | |
kleine Bäckerei um die Ecke zu gehen, Kaffee zu trinken und im Schatten zu | |
lesen. „Weil ich gerne indirekt unter Menschen bin.“ | |
Sie mag eigentlich Partys, sagt Mira, vor allem Techno in dunklen Kellern, | |
in denen sie verschwinden kann. Doch sie geht selten aus. Ab und zu wird | |
sie auf Geburtstage eingeladen. Dann sitzt, trinkt, redet sie – wie andere | |
Frauen in ihrem Alter auch. Aber eine wirkliche Verbindung zu den Menschen | |
kann sie nicht aufbauen. | |
Zwei Jahre ist es her, dass Mira ihren Geburtstag zum ersten Mal groß | |
gefeiert hat. Sie hatte gerade ein neues Studium begonnen, viele ihrer | |
Kommiliton*innen waren gekommen. Sie einen Raum gemietet, „viel zu | |
gepflegt und langweilig“, sagt sie heute. Die Stimmung sei trotzdem gut | |
gewesen. Es habe eine kleine Bühne gegeben, auf der sie gesungen habe. | |
Danach sei Dub gelaufen, später Downbeat. Über 40 Leute waren da. Kurz | |
bevor sie nach Hause ging, habe sie mit Leuten ausgelassen getanzt. | |
Sie war nicht allein. Und doch sagt sie heute: „Das war der einsamste | |
Geburtstag, den ich je hatte.“ Denn auch, wenn die Feier von außen | |
betrachtet schön gewesen sein mag, fühlte sie sich innerlich verloren. „Ich | |
bin auf die Anzahl meiner Kontakte bezogen eigentlich nicht so einsam, wie | |
ich mich fühle.“ Aber es gebe keine Person, bei der sie einfach so sein | |
kann, wie sie ist. Die Menschen auf der Party waren ihre Bekannten – aber | |
keine echten Freund*innen. | |
Sie versucht, es symbolisch darzustellen: „Ein Kreis mit einem Punkt in der | |
Mitte. Der Punkt bin ich, die im Mittelpunkt steht. Um mich herum ganz | |
viele andere Punkte. Die Gäste. Und zwischen meinem Punkt und den anderen | |
eine unsichtbare, undurchdringbare Masse.“ | |
Die Psychologin Susanne Bücker definiert Einsamkeit als das „subjektive | |
Gefühl, nicht genügend soziale Kontakte zu haben“. Bücker promoviert an der | |
Uni Bochum zu „kritischen Lebensereignissen, Persönlichkeit und | |
Entwicklungen der Einsamkeit“. Ihre Forschung stützt sich auf die Studien | |
des verstorbenen Sozialpsychologen John Cacioppo, der mit seinem Buch | |
„Loneliness“ eine oft zitierte Analyse präsentiert hat. Er betonte, dass | |
Einsamkeit nicht an die An- oder Abwesenheit von Menschen gebunden sei – | |
und auch nicht daran, wie viele Menschen man kenne. | |
## Keine Epidemien der Einsamkeit | |
Zahlen des statistischen Bundesamts zeigen, dass das Alleinleben in den | |
vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat: Single-Haushalte, zunehmende | |
Individualisierung, Abkehr von der Kleinfamilie. Doch bedeutet das auch | |
eine Zunahme der Einsamkeit? „Nein“, sagt Bücker. Die Einsamkeitsforschung | |
zeige, dass die Zahl der Einsamen eher stabil geblieben sei. „Epidemien der | |
Einsamkeit, wie sie gerne betitelt werden, gibt es nicht“, sagt Bücker. | |
Doch warum ist das Thema dann so präsent? Bücker erklärt das damit, dass | |
vermehrte Medienberichte eine größere Aufmerksamkeit schaffen würden. Zwar | |
beschäftige sich die Forschung bislang vor allem mit Einsamkeit im Alter, | |
zunehmend werde aber auch Einsamkeit in jungen Jahren untersucht. „Ich | |
glaube nicht, dass junge Menschen einsamer sind, als sie das noch vor | |
vielen Jahren waren“, sagt Bücker. | |
Ihre These: Es gibt verschiedene Punkte im Leben, an denen Menschen sich | |
besonders einsam fühlen, vor allem in Zeiten des Umbruchs. | |
Jugendliche in der Pubertät etwa, Menschen Mitte 30, die der Druck von | |
beruflicher Etablierung und gleichzeitiger Familienplanung lähmt und deren | |
soziales Netz etwa durch den Rückzug in die Kleinfamilie geschwächt wird – | |
oder alte Menschen, denen Gesundheitsprobleme und soziale Isolation zu | |
schaffen machen. | |
Maggie Jakob hat erlebt, wie man mit zunehmendem Alter immer einsamer | |
werden kann. Aber auch, dass das nicht unumkehrbar ist. Jakob ist eine | |
lebhafte Seniorin mit Hamburger Schnauze. An Gäste, die noch nie bei ihr | |
waren, schickt sie per WhatsApp detaillierte Wegbeschreibungen vom | |
Hamburger Hauptbahnhof bis zum U-Bahnhof Horner Rennbahn. Fotos, | |
Sprachnachrichten, Text. | |
Wenn die Besucher*innen dann ankommen, steht die 77-Jährige mit pinkem | |
Lippenstift und blauem Lidschatten, in Jeans und Hemd gekleidet, freudig | |
winkend am Gleis und führt sie schnellen Schrittes durch die Unterführung | |
bis zum Parkplatz um die Ecke, wo sie ihr kleines Auto geparkt hat. Etwa | |
zehn Minuten fährt man noch bis zu ihr nach Hause, in eine ruhige | |
Mehrfamilienhaus-Siedlung. Jakobs Routine, wenn sie abends in die Hamburger | |
Innenstadt fährt. | |
Sie wirkt selbstbewusst. Doch das war nicht immer so. Mit 57 ging sie in | |
Frührente, weil sie in ihrer Firma gemobbt wurde, wie sie erzählt. Schon | |
lang vorher war sie geschieden worden, ihr Sohn, den sie allein großgezogen | |
hatte, war auch ausgezogen. | |
Mit dem Verlust des Jobs fiel ihre Hauptbeschäftigung weg. Sie wurde | |
traurig, fühlte sich leer. Als die Einsamkeit sich in ihr Leben schlich, | |
entschied sie, dagegen anzukämpfen. „Ich habe gemerkt, dass ich etwas tun | |
muss, unter Leute gehen muss.“ Erst besuchte sie einen PC-Kurs für | |
Senior*innen, später auch Kartenspielgruppen im nahe gelegenen | |
Seniorentreff. | |
## Speed-Dating, Silent-Diskos | |
Die Einsamkeit aber blieb. Bis Jakob eines Tages, vor sechs Jahren, von | |
einer Bekannten eine E-Mail weitergeleitet bekam. „Einladung zum Flashmob.“ | |
Absender war der Hamburger Verein „Wege aus der Einsamkeit“, der sich | |
bundesweit für die Verbesserungen der Lebensumstände älterer Menschen | |
einsetzt. Mit Flashmobs, Speed-Dating, Silent-Disko – mit modernen Ideen | |
abseits von Skattreffs. | |
Für Jakob war das der Wendepunkt. Wenn sie sich heute an ihren ersten | |
Flashmob erinnert, reißt sie noch immer ihre Arme zur Tanzbewegung in die | |
Luft. Tagelang schaute sie das Übungsvideo zum Song „Spark of Life“ auf | |
YouTube an, übte Tanzschritte. Dann, am 1. Oktober, dem Weltseniorentag, | |
ging sie zum Hamburger Hauptbahnhof. Dutzende Senior*innen fingen unter | |
strahlendem Sonnenschein auf Kommando mitten auf dem trubeligen | |
Bahnhofsvorplatz an, die Choreografie zu tanzen – mittendrin Maggie Jakob. | |
Videos auf YouTube zeigen sie auf vielen weiteren Flashmobs – immer gut | |
gelaunt vorne dabei. | |
Mit den Flashmobs begann ihr Weg aus der Einsamkeit: Mit den anderen | |
Senior*innen aus dem Verein ging sie auch in Restaurants und auf | |
Konzerte. An einen Abend erinnert sie sich gut. Die Gruppe war auf der | |
Reeperbahn unterwegs. „Wir waren anderthalb Stunden auf der Tanzfläche und | |
haben abgerockt“, erzählt sie und fängt an zu singen: „Mit 66 Jahren, da | |
fängt das Leben an.“ | |
Sie scrollt durch die Bildergalerie auf ihrem Smartphone. Ein Foto mag sie | |
ganz besonders: Maggie Jakob in den Armen eines Drag-Duos, das sie an einem | |
ihrer Reeperbahn-Abende kennengelernt hat. Das Foto ziert ihr | |
Facebookprofil – mit dem Duo ist sie inzwischen befreundet. | |
## Helfen soziale Medien, oder verschlimmern sie Einsamkeit? | |
Älteren Menschen die digitalen Möglichkeiten näherzubringen, ist einer der | |
Schwerpunkte des Vereins „Wege aus der Einsamkeit“. „Mir bringt das Spaß… | |
sagt Jakob. „Man sieht die Leute ja nicht so oft, aber man hat immer das | |
Gefühl, dass man Kontakt mit ihnen hat.“ | |
Soziale Medien als Vehikel, neue Kontakte zu knüpfen und alte | |
wiederzubeleben. Scrollen gegen die Einsamkeit. Instagram, Facebook, | |
Snapchat und all die anderen digitalen Netzwerke suggerieren, dass man | |
ständig Kontakt zu anderen Menschen habe. Sind die Likes, Chats und | |
Kommentare aber wirklich ein Mittel gegen Einsamkeit? | |
„Durch Social Media fühle ich mich erst einmal weniger einsam“, sagt Mira | |
in ihrer Küche. „Gleichzeitig fühle ich mich aber noch einsamer, wenn ich | |
sehe, was und wie viel andere erleben.“ Sie verbringt viel Zeit auf YouTube | |
oder Instagram. Oft sitzt sie abends allein am Küchentisch neben dem leise | |
brummenden Kühlschrank und dem schlafenden Hund und schaut einfach nur auf | |
ihr Smartphone. | |
Auf Instagram sieht sie dabei zu, wie andere Musiker*innen ankündigen, | |
wo sie als nächstes auftreten oder ihr neues Album präsentieren. Sie schaut | |
sich Videos von anderen an, von Bekannten und Fremden, wie sie mit | |
Freund*innen am See sitzen, während sie selbst zu Hause ist. „Das macht | |
schon was mit mir.“ Sie denkt dann: „Alle sind aktiv, nur ich sitze hier, | |
meine Augen tun schon weh, es ist Sommer und ich hänge zu Hause und gucke | |
mir Instagram-Storys an.“ | |
## Das Gefühl, nicht dazu zu gehören | |
Woran liegt es, dass soziale Medien den einen aus der Einsamkeit helfen, | |
die anderen aber noch tiefer hineinziehen? Eine qualitative Studie der | |
University of Pennsylvania von 2018 zeigt, dass Menschen, die weniger Zeit | |
mit sozialen Medien verbringen, auch weniger Einsamkeits- und | |
Depressionsgefühle haben. Bei Menschen, die mehr als zwei Stunden am Tag | |
mit sozialen Medien verbringen, ist die Wahrscheinlichkeit, sich einsam zu | |
fühlen, etwa doppelt so groß wie bei Menschen, die nur maximal eine halbe | |
Stunde am Tag damit verbringen. | |
Betroffen sind vor allem Nutzer*innen, die sich bereits vorher einsam | |
fühlen. Sie neigen eher dazu, soziale Medien zu nutzen, um soziale Kontakte | |
herzustellen – meist ohne Erfolg. Darin steckt ein Paradox: Die Suche nach | |
Anerkennung und Kontakten in sozialen Netzwerken führt bei vielen Menschen | |
verstärkt zu dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Mira sagt: „Diese Kraft der | |
Likes, das Gefühl, dass mich jemand wahrnimmt, ist letztlich eine | |
Illusion.“ | |
Doch es gibt auch die andere Seite. Positivbeispiele, wie Maggie Jakob oder | |
#KeinerBleibtAllein zeigen, dass soziale Meden gegen die Einsamkeit helfen | |
und tatsächlich sozial wirken können. Maggie Jakob konnte dank Social Media | |
Kontakte im realen Leben stärken. | |
Die Psychologin Bücker sagt, es lasse sich statistisch zwar ein | |
Zusammenhang zwischen Einsamkeit und sozialen Medien finden, es gebe aber | |
bisher kaum Forschung zum kausalen Wirkungszusammenhang. Es sei wie mit der | |
Frage nach der Henne und dem Ei. Viel stärker als digitale Netzwerke haben | |
persönliche Erlebnisse und die eigene Biografie Einfluss auf das | |
Einsamkeitsgefühl. | |
Miras Heimat ist ein Ort, den sie als „Stadtteil, durch den Leute | |
durchfahren und es ihnen dann auch schon reicht“ beschreibt. Ihre Mutter | |
war alleinerziehend und auf Hartz IV angewiesen. | |
„Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Depression“, | |
sagt Susanne Bücker. Ein wechselseitiger Prozess: Menschen, die einsam | |
sind, entwickeln depressive Symptome. Menschen, die Depressionen haben, | |
ziehen sich häufiger aus dem Alltag zurück und werden einsam. „Im Grunde | |
genommen ist es ein Teufelskreis. Eine Abwärtsspirale, die sich gegenseitig | |
bedingt“, sagt die Psychologin. | |
## Von niemandem gesehen | |
Mira sagt: „Ich war überwiegend die Stille, die Komische mit den hässlichen | |
Klamotten. Habe mich nie irgendwo zugehörig gefühlt.“ In der Schule wurde | |
sie gemobbt, fehlte oft. Von einer der Klassenbesten wandelte sie sich zu | |
derjenigen mit den meisten Fehlstunden. Ihre Lehrerin habe sich bei der | |
Zeugnisausgabe darüber lustig gemacht, sagt sie heute. „Es gab so viele | |
Hinweise darauf, dass bei mir etwas nicht stimmt. Aber ich war zu | |
unauffällig. Es wurde von niemandem gesehen.“ | |
Neurologen haben herausgefunden, dass bei starken Einsamkeitsgefühlen das | |
gleiche Zentrum im Gehirn aktiviert wird, das auch körperlichen Schmerz | |
spürbar macht. Für unser Gehirn ist Einsamkeit ebenso schmerzhaft wie ein | |
Fall auf den harten Asphalt. Und das tut vor allem deshalb weh, weil man | |
den Schmerz nicht erwartet. | |
Mira zog sich mit zunehmendem Alter immer mehr in sich zurück, entwickelte | |
einen Selbsthass. Mit 17 zog sie von zuhause aus, geplagt von | |
Zwangsgedanken, Ängsten, Einsamkeit. Hilfe erhielt sie erst mit 24, als sie | |
aus eigenem Antrieb in eine Klinik ging. Heute hat sie die Vergangenheit | |
aufgearbeitet, an Selbstvertrauen gewonnen. Dennoch: Die Folgen der | |
Erlebnisse bleiben. „Es ist nicht so, dass ich aufgegeben habe. Ich | |
versuche viel und kümmere mich“, sagt Mira. | |
Zurzeit ist sie auf Hartz IV angewiesen. Sie kämpft mit den Sanktionen und | |
dem sozialen Stigma. „Da werden alle über einen Kamm geschert – ob | |
Langzeitarbeitslose, Kranke oder diejenigen, die wirklich nicht arbeiten | |
wollen“, sagt sie. „Es ist schwierig, da rauszukommen.“ | |
## Armut führt häufiger zu Einsamkeit | |
Dass Einsamkeit besonders dort anzutreffen ist, wo Menschen arm sind, zeigt | |
auch eine 2017 veröffentlichte Studie der Universität Hamburg. Es wurde | |
untersucht, inwiefern Einkommen, Bildung und Erwerbstätigkeit einen | |
Einfluss auf soziale Beziehungen nehmen. Das Ergebnis: Armut führt häufig | |
zu sozialer Isolation. | |
Damit hat Einsamkeit auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Die | |
Forscher*innen kritisieren die Verlagerung sozialer Unterstützung vom | |
Staat hin zur Familie – und somit in das Private. „In unserer | |
individualistischen Gesellschaft beziehen wir unseren Selbstwert zwar | |
stärker über uns selbst und nicht so sehr über unsere Rolle im sozialen | |
Netzwerk, wie das in kollektivistischen Gesellschaften der Fall ist“, sagt | |
Bücker. „Aber das führt auch dazu, dass wir weniger kommunizieren, vermehrt | |
auf uns selbst schauen und nicht mehr auf unsere Mitmenschen.“ | |
In Großbritannien soll der Regierungsposten mit Verantwortung unter anderem | |
für Einsamkeit genau dagegen vorgehen. Mit der „Campaign to end loneliness“ | |
wird dazu aufgefordert, fremde Menschen anzusprechen und mit ihnen ins | |
Gespräch zu kommen. An der Supermarktkasse, in der U-Bahn, im Park. | |
Laut Premierministerin Theresa May sollen verstärkt ungenutzte Areale zu | |
Gemeinschaftsorten, wie Community-Cafés, Kunsträume oder öffentliche | |
Gärten, umgebaut werden. Rund 20 Millionen Britische Pfund werden | |
bereitgestellt, um ehrenamtliche Gruppen und Communitys zu fördern – vor | |
allem soziale Aktivitäten wie Kochklassen, Kunstgruppen, Sportkurse. | |
## „An Einsamkeit sterben Menschen“ | |
Community Building gegen Einsamkeit als Regierungssache – braucht es das | |
auch in Deutschland? Die Große Koalition diskutiert seit einer Weile über | |
das Thema. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und auch Marcus | |
Weinberg, familienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, sind sich | |
einig, dass sie Einsamkeit zum politischen Regierungsthema machen wollen. | |
Marcus Weinberg will die traditionelle Kernfamilie wieder stärken, Karl | |
Lauterbach warnt vor gesundheitlichen Folgen der Einsamkeit: „An Einsamkeit | |
sterben Menschen.“ | |
Zwar ist Einsamkeit keine Krankheit im eigentlichen Sinn – sie wirkt sich | |
als psychische Belastung aber auch auf die physische Gesundheit aus. | |
Insbesondere ein schwächeres Immunsystem, Kopfschmerzen und | |
Herz-Kreislauf-Probleme sind laut dem Neurologen und Psychologen John | |
Cacioppo die häufigsten körperliche Symptome der Einsamkeit. | |
„Es gibt sehr viele Schnittstellen beim Thema Einsamkeit, für die es schon | |
Ministerien gibt: Familie, Gesundheit, Arbeit“, sagt Einsamkeitsforscherin | |
Susanne Bücker. Sicher sei es notwendig, dass politisch mehr über | |
Einsamkeit gesprochen werde – aber auch schwierig. „Es ist ja ein | |
subjektives Gefühl.“ | |
Statt eines Regierungspostens brauche es ein gutes Gesundheitssystem, das | |
Einsame auffängt, sagt Bücker. Psychotherapie helfe, aber auch der Kontakt | |
über Einsamkeitsinitiativen. Noch besser wäre es jedoch, möglichst viele | |
Menschen würden sich schon früh ein soziales Netz aufbauen, das einen in | |
Krisenzeiten hält. Ehrenamtliches Engagement oder andere Formen sozialer | |
Einbindung wirken da präventiv, so die Wissenschaftlerin. „Interventionen | |
wirken nur dann, wenn sie auf individuelle Bedürfnisse abgestimmt sind.“ | |
## Mira ist pragmatischer geworden | |
Die Ursachen für Einsamkeit sind komplex – und bei jedem Menschen anders. | |
Maggie Jakob hat das Aktivwerden aus der Abwärtsspirale befreit. | |
Mira ist arbeitslos, aber sucht weiter. Zwar sei die Einsamkeit geblieben, | |
jedoch sei ihr Umgang damit pragmatischer geworden, sagt sie. Mira genießt | |
den herannahenden Sommer, geht spazieren, trinkt in der Sonne Kaffee und | |
liest oder besucht Konzerte. Selbst hat sie lange keines gegeben, aber | |
zuhause macht sie weiter Musik. | |
* Name geändert. Der echte Name der Protagonistin ist der Redaktion | |
bekannt. | |
1 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tagesschau.de/inland/einsamkeit-103.html | |
[2] https://twitter.com/search?f=tweets&vertical=default&q=%23KeinerBle… | |
## AUTOREN | |
Sarah Ulrich | |
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