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# taz.de -- Vorweihnachtszeit in der Forensik: Im Dunkel
> In der forensischen Psychiatrie ist gerade vor Weihnachten die Stimmung
> angespannt. Die Patient*innen sind konfrontiert damit, wonach sie sich
> sehnen.
Bild: Unterbringung auf unbestimmte Zeit ist für die Patienten wie ein Schritt…
Der Dezember ist eine stille und eine unruhige Zeit. Es sind die letzten
Tage vor der Wintersonnenwende. Der Tag hält nur kurz zwischen viel Nacht.
Die Tiefe der Dunkelheit konfrontiert viele mit sich und der Frage, wo sie
am Fest der Liebe stehen. Wie feiern, wenn die Liebe fehlt?
Diese Zeit erinnert mich auch an einen Ort. Vor Jahren habe ich einen Film
in der forensischen Psychiatrie gedreht. Dort sind psychisch erkrankte
Straftäter*innen untergebracht: hoch gesichert und auf unbestimmte Zeit.
Die Pfleger*innen erzählten, dass gerade vor Weihnachten die Stimmung
angespannt und aggressiv sei. Die Patient*innen sind konfrontiert damit,
wonach sie sich sehnen und was sie vermissen. An diesem Ort verdichtet
sich, was auch die Menschen außerhalb der Zäune bewegt. Für die im Dunkel
kann es schwierig sein, das Licht zu ertragen, das für sie nicht scheint.
Die Frage ist nur: Was ist das Dunkel? Was ist das Licht?
Vor den Dreharbeiten habe ich in der forensischen Psychiatrie eine
Hospitanz absolviert. Dabei fuhr ich bei einer Gerichtsfahrt mit.
Früh morgens stiegen wir im Hof in einen Transporter. Vorne auf der
Fahrerbank quetschten sich ein Sicherheitsmitarbeiter, eine Pflegerin und
ich. Hinter uns im vergitterten Laderaum saß eine Frau mit Handschellen.
Sie und uns trennte eine Wand mit Sichtloch. „Pass auf. Alles, was du vorne
sagst, kann man hinten hören“, sagte der Sicherheitsmitarbeiter. „Für den
Fall, dass sie freikommt und sich an dich erinnert.“
Das Tor ging auf. Wir fuhren nach draußen. Es war finster und kalt.
Ich wusste, dass die Frau hinten nicht in der Klinik bleiben wollte. Bei
der Gerichtsverhandlung würde es darum gehen, ob sie nach Paragraf 63
Strafgesetzbuch für schuldunfähig erklärt werden würde. Das würde für sie
die Unterbringung auf unbestimmte Zeit bedeuten. So lange, bis sie nicht
mehr als gemeingefährlich gelten würde. Mit diesem Urteil wissen die
Patient*innen nicht, wann sie hinauskommen. Die unbestimmte Zeit ist für
sie der Schritt in ein Dunkel ohne erkennbares Licht. Als müsste man jeden
Tag für eine Prüfung lernen, ohne zu wissen, wann das aufhört. Es ist vor
allem diese Ungewissheit, die viele Patient*innen in der Klinik verzweifeln
lässt.
Die Frau hinten war aufgeregt. An diesem Tag ging es um viel für sie. Wir
vorne spürten das auch. Wir schwiegen. Dafür lief das Radio: In Chile
wurden an diesem Tag 33 Arbeiter aus einer eingestürzten Mine befreit. 69
Tage lang waren sie im Dunkeln eingesperrt gewesen. Der Radiosender
übertrug die Freilassung. Ein lautes Happy End. Die Männer, einer nach dem
anderen, wurden unter Beifall ans Licht gezogen. Jubel. Weinen. Freiheit.
Jubel. Ein asynchroner Soundtrack zu unserer Fahrt ins Gericht, zur
Dunkelheit, dem Schweigen und der Frau mit den Handschellen im Rücken, so
still, dass man sie fast vergaß. Was fühlte sie da hinten? Ich überlegte,
den Radioregler runterzudrehen, und fühlte mich doch nicht befugt dazu.
Auf der Autobahn ging die Sonne auf. Als wir vor Gericht hielten, war es
hell. Im Gerichtssaal verlas die Frau ein Schreiben, wie gerne sie alles
ungeschehen machen würde.
Später erfuhr ich, dass ihre Hoffnung sich nicht erfüllt hatte. Sie wurde
als schuldunfähig verurteilt und auf unbestimmte Zeit in der Klinik
untergebracht.
Die Frau von der Gerichtsfahrt habe ich später bei den Filmarbeiten
wiedergesehen. Sie hatte sich eingelebt. Es schien ihr besser zu gehen.
Auch wenn die Stimmung vor Weihnachten in der Klinik schlecht war, wurde
sie dann an Heiligabend friedlich. Ruhe senkte sich. Die Pfleger*innen
schmückten die Räume, steckten Lichter. Sie versuchten den Patient*innen
ein Zuhause zu geben.
Daran muss ich seitdem oft denken. Dass es viele Menschen gibt, in
Institutionen, auf der Straße, zu Hause, die zu denen steigen, die im
Dunkel sind. Das Licht ist kein fester Ort. Es wandert mit der Dunkelheit.
20 Dec 2019
## AUTOREN
Christa Pfafferott
## TAGS
Forensik
Psychiatrie
Dunkelheit
Weihnachten
Kolumne Zwischen Menschen
Schuld
Reiseland Finnland
Schwerpunkt Armut
Amnestie
Film
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