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# taz.de -- Einsamkeit in der Gesellschaft: Bis es wehtut
> Mehr Community, weniger Gemeinschaft: Einsamkeit ist zum großen Thema
> unserer Zeit geworden. Aber wie verbreitet ist sie wirklich?
Bild: Zwischen zehn und fünfzehn Prozent der Menschen in Deutschland leiden ze…
Wenn die Einsamkeit sie überkommt, sitzt Mira* in ihrer Küche am Tisch und
grübelt. Sie denkt darüber nach, woher dieses Gefühl kommt, das ihr Leben
schon seit ihrer Kindheit dominiert. Mira fragt sich, wie viel ihrer
Einsamkeit aus ihr selbst kommt, wie viel gesellschaftlich bedingt ist.
Warum das Gefühl sie auch dann plagt, wenn sie von Menschen umgeben ist.
Sie beobachtet andere, fragt sich, wieso sie nicht so lachen, plaudern,
sein kann. Seit ein paar Jahren ist sie auf der Suche nach dem Warum. Eine
Antwort hat sie noch nicht. Also sucht sie weiter.
Mira ist eine junge, hübsche Frau mit langen Haaren, die sich an ihr
hellblaues Sommerkleid schmiegen. Wenn sie aufgeregt ist, wird sie heiser,
dann redet sie leiser und etwas gebrochen. Sie hat sich auf eine Annonce im
Internet gemeldet: „Suche Menschen, die sich einsam fühlen.“ „Ich habe
schon seit meiner Kindheit mit Einsamkeit zu tun/kämpfen. Ich würde gerne
mit dir darüber reden“, schrieb sie zurück.
Die Annonce ist Teil einer taz-Recherche zu Einsamkeit. Zwischen zehn und
fünfzehn Prozent der Menschen in Deutschland leiden zeitweise unter
Einsamkeit, ergab eine Studie der Uni Bochum von 2016. Bei Menschen über 85
sind es 20 Prozent. Das Thema wird auch aktuell wieder diskutiert.
[1][„Immer mehr Deutsche fühlen sich einsam“,] lauteten die Schlagzeilen
von Welt, Tagesschau und anderen Medien noch am Donnerstag. Von 2011 bis
2017 sei die Einsamkeitsquote bei 45- bis 84-Jährigen um 15 Prozent, in
einzelnen Altersklassen um knapp 60 Prozent gestiegen. Die Zahlen stammen
aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP.
Großbritanniens Premierministerin Theresa May hat das Thema vergangenes
Jahr zur Chefsache erklärt, um der „traurigen Realität des modernen Lebens�…
zu begegnen. In Deutschland ist die Debatte in dem Maße noch nicht in der
Bundespolitik angekommen, aber auch hier wird diskutiert, wie mehr gegen
die Vereinzelung von Menschen getan werden kann. Wer ist zuständig für die,
die sich einsam fühlen?
## Das Thema ist schambehaftet
Ausgangspunkt der Recherche war der Hashtag [2][#KeinerBleibtAllein] auf
Twitter. Das Projekt begann am 24. Dezember 2016 infolge eines Posts von
Christian Fein, der an Weihnachten mit dem Hashtag #KeinerTwittertAllein
einsame Menschen zusammenbringen wollte. 2018 wurde aus dem Hashtag der
Verein „Keine(r) Bleibt Allein“. Die Idee: Menschen, die sich einsam
fühlen, melden sich und werden an andere vermittelt. Eine Dating-Plattform
für Menschen, die nicht Sex oder Liebe suchen, sondern Gesellschaft.
Unter dem Hashtag finden sich zahlreiche Einträge. „Hallo, mir geht’s
beschissen“, schreibt die Nutzerin @GuteLaune10. „Ich würde so gerne
Menschen kennen lernen, habe aber teilweise unglaubliche Angst davor und
weiß nicht, wie ich das überhaupt anstellen soll“, der Nutzer
@justaparasite1. Viele Menschen hätten sich auf den Hashtag gemeldet und
„zueinander gefunden“, sagt Initiator Christian Fein. Aber kaum jemand will
darüber sprechen. „Weil ja niemand gern damit hausieren geht, dass er nicht
in der Lage ist, sich zu sozialisieren.“
Über den Hashtag findet sich niemand, der mit einer Journalistin reden
will. Auf die Annonce im Internet meldet sich Mira als Einzige. Aber auch
für sie ist das Thema schambehaftet, weshalb sie darum bittet, dass ihr
Name geändert wird.
Mira wechselt im Gespräch oft zwischen kindlicher Begeisterung und
erwachsenem Pragmatismus. Ihre kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus ist
ihr Rückzugsort. Hier fühlt sie sich geborgen.
## Lange fühlte Mira sich stimmlos
Sie sammelt DVDs und alte Videokassetten, „Harry Potter“, „Sonnenallee“…
Filme, die die Jugend von Menschen in ihrem Alter geprägt haben. In der
Ecke ihres Schlafzimmers steht ein E-Piano. Wenn sie traurig ist, setzt sie
sich an das E-Piano und singt. „Ich habe mir immer gewünscht, singen zu
können, aber ich war lange stimmlos“, sagt sie. Stimmlos in dem Sinne, dass
sie sich nicht ausdrücken konnte. „Im Alltag wie musikalisch.“
Die meiste Zeit verbringt Mira allein. Täglich geht sie mit ihrem Hund
spazieren, manchmal in einen Park oder den Wald. Doch immer nur kurz, denn
der Hund ist alt. „Ich bin gern allein“, sagt Mira. Sie mag es, in eine
kleine Bäckerei um die Ecke zu gehen, Kaffee zu trinken und im Schatten zu
lesen. „Weil ich gerne indirekt unter Menschen bin.“
Sie mag eigentlich Partys, sagt Mira, vor allem Techno in dunklen Kellern,
in denen sie verschwinden kann. Doch sie geht selten aus. Ab und zu wird
sie auf Geburtstage eingeladen. Dann sitzt, trinkt, redet sie – wie andere
Frauen in ihrem Alter auch. Aber eine wirkliche Verbindung zu den Menschen
kann sie nicht aufbauen.
Zwei Jahre ist es her, dass Mira ihren Geburtstag zum ersten Mal groß
gefeiert hat. Sie hatte gerade ein neues Studium begonnen, viele ihrer
Kommiliton*innen waren gekommen. Sie einen Raum gemietet, „viel zu
gepflegt und langweilig“, sagt sie heute. Die Stimmung sei trotzdem gut
gewesen. Es habe eine kleine Bühne gegeben, auf der sie gesungen habe.
Danach sei Dub gelaufen, später Downbeat. Über 40 Leute waren da. Kurz
bevor sie nach Hause ging, habe sie mit Leuten ausgelassen getanzt.
Sie war nicht allein. Und doch sagt sie heute: „Das war der einsamste
Geburtstag, den ich je hatte.“ Denn auch, wenn die Feier von außen
betrachtet schön gewesen sein mag, fühlte sie sich innerlich verloren. „Ich
bin auf die Anzahl meiner Kontakte bezogen eigentlich nicht so einsam, wie
ich mich fühle.“ Aber es gebe keine Person, bei der sie einfach so sein
kann, wie sie ist. Die Menschen auf der Party waren ihre Bekannten – aber
keine echten Freund*innen.
Sie versucht, es symbolisch darzustellen: „Ein Kreis mit einem Punkt in der
Mitte. Der Punkt bin ich, die im Mittelpunkt steht. Um mich herum ganz
viele andere Punkte. Die Gäste. Und zwischen meinem Punkt und den anderen
eine unsichtbare, undurchdringbare Masse.“
Die Psychologin Susanne Bücker definiert Einsamkeit als das „subjektive
Gefühl, nicht genügend soziale Kontakte zu haben“. Bücker promoviert an der
Uni Bochum zu „kritischen Lebensereignissen, Persönlichkeit und
Entwicklungen der Einsamkeit“. Ihre Forschung stützt sich auf die Studien
des verstorbenen Sozialpsychologen John Cacioppo, der mit seinem Buch
„Loneliness“ eine oft zitierte Analyse präsentiert hat. Er betonte, dass
Einsamkeit nicht an die An- oder Abwesenheit von Menschen gebunden sei –
und auch nicht daran, wie viele Menschen man kenne.
## Keine Epidemien der Einsamkeit
Zahlen des statistischen Bundesamts zeigen, dass das Alleinleben in den
vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat: Single-Haushalte, zunehmende
Individualisierung, Abkehr von der Kleinfamilie. Doch bedeutet das auch
eine Zunahme der Einsamkeit? „Nein“, sagt Bücker. Die Einsamkeitsforschung
zeige, dass die Zahl der Einsamen eher stabil geblieben sei. „Epidemien der
Einsamkeit, wie sie gerne betitelt werden, gibt es nicht“, sagt Bücker.
Doch warum ist das Thema dann so präsent? Bücker erklärt das damit, dass
vermehrte Medienberichte eine größere Aufmerksamkeit schaffen würden. Zwar
beschäftige sich die Forschung bislang vor allem mit Einsamkeit im Alter,
zunehmend werde aber auch Einsamkeit in jungen Jahren untersucht. „Ich
glaube nicht, dass junge Menschen einsamer sind, als sie das noch vor
vielen Jahren waren“, sagt Bücker.
Ihre These: Es gibt verschiedene Punkte im Leben, an denen Menschen sich
besonders einsam fühlen, vor allem in Zeiten des Umbruchs.
Jugendliche in der Pubertät etwa, Menschen Mitte 30, die der Druck von
beruflicher Etablierung und gleichzeitiger Familienplanung lähmt und deren
soziales Netz etwa durch den Rückzug in die Kleinfamilie geschwächt wird –
oder alte Menschen, denen Gesundheitsprobleme und soziale Isolation zu
schaffen machen.
Maggie Jakob hat erlebt, wie man mit zunehmendem Alter immer einsamer
werden kann. Aber auch, dass das nicht unumkehrbar ist. Jakob ist eine
lebhafte Seniorin mit Hamburger Schnauze. An Gäste, die noch nie bei ihr
waren, schickt sie per WhatsApp detaillierte Wegbeschreibungen vom
Hamburger Hauptbahnhof bis zum U-Bahnhof Horner Rennbahn. Fotos,
Sprachnachrichten, Text.
Wenn die Besucher*innen dann ankommen, steht die 77-Jährige mit pinkem
Lippenstift und blauem Lidschatten, in Jeans und Hemd gekleidet, freudig
winkend am Gleis und führt sie schnellen Schrittes durch die Unterführung
bis zum Parkplatz um die Ecke, wo sie ihr kleines Auto geparkt hat. Etwa
zehn Minuten fährt man noch bis zu ihr nach Hause, in eine ruhige
Mehrfamilienhaus-Siedlung. Jakobs Routine, wenn sie abends in die Hamburger
Innenstadt fährt.
Sie wirkt selbstbewusst. Doch das war nicht immer so. Mit 57 ging sie in
Frührente, weil sie in ihrer Firma gemobbt wurde, wie sie erzählt. Schon
lang vorher war sie geschieden worden, ihr Sohn, den sie allein großgezogen
hatte, war auch ausgezogen.
Mit dem Verlust des Jobs fiel ihre Hauptbeschäftigung weg. Sie wurde
traurig, fühlte sich leer. Als die Einsamkeit sich in ihr Leben schlich,
entschied sie, dagegen anzukämpfen. „Ich habe gemerkt, dass ich etwas tun
muss, unter Leute gehen muss.“ Erst besuchte sie einen PC-Kurs für
Senior*innen, später auch Kartenspielgruppen im nahe gelegenen
Seniorentreff.
## Speed-Dating, Silent-Diskos
Die Einsamkeit aber blieb. Bis Jakob eines Tages, vor sechs Jahren, von
einer Bekannten eine E-Mail weitergeleitet bekam. „Einladung zum Flashmob.“
Absender war der Hamburger Verein „Wege aus der Einsamkeit“, der sich
bundesweit für die Verbesserungen der Lebensumstände älterer Menschen
einsetzt. Mit Flashmobs, Speed-Dating, Silent-Disko – mit modernen Ideen
abseits von Skattreffs.
Für Jakob war das der Wendepunkt. Wenn sie sich heute an ihren ersten
Flashmob erinnert, reißt sie noch immer ihre Arme zur Tanzbewegung in die
Luft. Tagelang schaute sie das Übungsvideo zum Song „Spark of Life“ auf
YouTube an, übte Tanzschritte. Dann, am 1. Oktober, dem Weltseniorentag,
ging sie zum Hamburger Hauptbahnhof. Dutzende Senior*innen fingen unter
strahlendem Sonnenschein auf Kommando mitten auf dem trubeligen
Bahnhofsvorplatz an, die Choreografie zu tanzen – mittendrin Maggie Jakob.
Videos auf YouTube zeigen sie auf vielen weiteren Flashmobs – immer gut
gelaunt vorne dabei.
Mit den Flashmobs begann ihr Weg aus der Einsamkeit: Mit den anderen
Senior*innen aus dem Verein ging sie auch in Restaurants und auf
Konzerte. An einen Abend erinnert sie sich gut. Die Gruppe war auf der
Reeperbahn unterwegs. „Wir waren anderthalb Stunden auf der Tanzfläche und
haben abgerockt“, erzählt sie und fängt an zu singen: „Mit 66 Jahren, da
fängt das Leben an.“
Sie scrollt durch die Bildergalerie auf ihrem Smartphone. Ein Foto mag sie
ganz besonders: Maggie Jakob in den Armen eines Drag-Duos, das sie an einem
ihrer Reeperbahn-Abende kennengelernt hat. Das Foto ziert ihr
Facebookprofil – mit dem Duo ist sie inzwischen befreundet.
## Helfen soziale Medien, oder verschlimmern sie Einsamkeit?
Älteren Menschen die digitalen Möglichkeiten näherzubringen, ist einer der
Schwerpunkte des Vereins „Wege aus der Einsamkeit“. „Mir bringt das Spaß…
sagt Jakob. „Man sieht die Leute ja nicht so oft, aber man hat immer das
Gefühl, dass man Kontakt mit ihnen hat.“
Soziale Medien als Vehikel, neue Kontakte zu knüpfen und alte
wiederzubeleben. Scrollen gegen die Einsamkeit. Instagram, Facebook,
Snapchat und all die anderen digitalen Netzwerke suggerieren, dass man
ständig Kontakt zu anderen Menschen habe. Sind die Likes, Chats und
Kommentare aber wirklich ein Mittel gegen Einsamkeit?
„Durch Social Media fühle ich mich erst einmal weniger einsam“, sagt Mira
in ihrer Küche. „Gleichzeitig fühle ich mich aber noch einsamer, wenn ich
sehe, was und wie viel andere erleben.“ Sie verbringt viel Zeit auf YouTube
oder Instagram. Oft sitzt sie abends allein am Küchentisch neben dem leise
brummenden Kühlschrank und dem schlafenden Hund und schaut einfach nur auf
ihr Smartphone.
Auf Instagram sieht sie dabei zu, wie andere Musiker*innen ankündigen,
wo sie als nächstes auftreten oder ihr neues Album präsentieren. Sie schaut
sich Videos von anderen an, von Bekannten und Fremden, wie sie mit
Freund*innen am See sitzen, während sie selbst zu Hause ist. „Das macht
schon was mit mir.“ Sie denkt dann: „Alle sind aktiv, nur ich sitze hier,
meine Augen tun schon weh, es ist Sommer und ich hänge zu Hause und gucke
mir Instagram-Storys an.“
## Das Gefühl, nicht dazu zu gehören
Woran liegt es, dass soziale Medien den einen aus der Einsamkeit helfen,
die anderen aber noch tiefer hineinziehen? Eine qualitative Studie der
University of Pennsylvania von 2018 zeigt, dass Menschen, die weniger Zeit
mit sozialen Medien verbringen, auch weniger Einsamkeits- und
Depressionsgefühle haben. Bei Menschen, die mehr als zwei Stunden am Tag
mit sozialen Medien verbringen, ist die Wahrscheinlichkeit, sich einsam zu
fühlen, etwa doppelt so groß wie bei Menschen, die nur maximal eine halbe
Stunde am Tag damit verbringen.
Betroffen sind vor allem Nutzer*innen, die sich bereits vorher einsam
fühlen. Sie neigen eher dazu, soziale Medien zu nutzen, um soziale Kontakte
herzustellen – meist ohne Erfolg. Darin steckt ein Paradox: Die Suche nach
Anerkennung und Kontakten in sozialen Netzwerken führt bei vielen Menschen
verstärkt zu dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Mira sagt: „Diese Kraft der
Likes, das Gefühl, dass mich jemand wahrnimmt, ist letztlich eine
Illusion.“
Doch es gibt auch die andere Seite. Positivbeispiele, wie Maggie Jakob oder
#KeinerBleibtAllein zeigen, dass soziale Meden gegen die Einsamkeit helfen
und tatsächlich sozial wirken können. Maggie Jakob konnte dank Social Media
Kontakte im realen Leben stärken.
Die Psychologin Bücker sagt, es lasse sich statistisch zwar ein
Zusammenhang zwischen Einsamkeit und sozialen Medien finden, es gebe aber
bisher kaum Forschung zum kausalen Wirkungszusammenhang. Es sei wie mit der
Frage nach der Henne und dem Ei. Viel stärker als digitale Netzwerke haben
persönliche Erlebnisse und die eigene Biografie Einfluss auf das
Einsamkeitsgefühl.
Miras Heimat ist ein Ort, den sie als „Stadtteil, durch den Leute
durchfahren und es ihnen dann auch schon reicht“ beschreibt. Ihre Mutter
war alleinerziehend und auf Hartz IV angewiesen.
„Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Depression“,
sagt Susanne Bücker. Ein wechselseitiger Prozess: Menschen, die einsam
sind, entwickeln depressive Symptome. Menschen, die Depressionen haben,
ziehen sich häufiger aus dem Alltag zurück und werden einsam. „Im Grunde
genommen ist es ein Teufelskreis. Eine Abwärtsspirale, die sich gegenseitig
bedingt“, sagt die Psychologin.
## Von niemandem gesehen
Mira sagt: „Ich war überwiegend die Stille, die Komische mit den hässlichen
Klamotten. Habe mich nie irgendwo zugehörig gefühlt.“ In der Schule wurde
sie gemobbt, fehlte oft. Von einer der Klassenbesten wandelte sie sich zu
derjenigen mit den meisten Fehlstunden. Ihre Lehrerin habe sich bei der
Zeugnisausgabe darüber lustig gemacht, sagt sie heute. „Es gab so viele
Hinweise darauf, dass bei mir etwas nicht stimmt. Aber ich war zu
unauffällig. Es wurde von niemandem gesehen.“
Neurologen haben herausgefunden, dass bei starken Einsamkeitsgefühlen das
gleiche Zentrum im Gehirn aktiviert wird, das auch körperlichen Schmerz
spürbar macht. Für unser Gehirn ist Einsamkeit ebenso schmerzhaft wie ein
Fall auf den harten Asphalt. Und das tut vor allem deshalb weh, weil man
den Schmerz nicht erwartet.
Mira zog sich mit zunehmendem Alter immer mehr in sich zurück, entwickelte
einen Selbsthass. Mit 17 zog sie von zuhause aus, geplagt von
Zwangsgedanken, Ängsten, Einsamkeit. Hilfe erhielt sie erst mit 24, als sie
aus eigenem Antrieb in eine Klinik ging. Heute hat sie die Vergangenheit
aufgearbeitet, an Selbstvertrauen gewonnen. Dennoch: Die Folgen der
Erlebnisse bleiben. „Es ist nicht so, dass ich aufgegeben habe. Ich
versuche viel und kümmere mich“, sagt Mira.
Zurzeit ist sie auf Hartz IV angewiesen. Sie kämpft mit den Sanktionen und
dem sozialen Stigma. „Da werden alle über einen Kamm geschert – ob
Langzeitarbeitslose, Kranke oder diejenigen, die wirklich nicht arbeiten
wollen“, sagt sie. „Es ist schwierig, da rauszukommen.“
## Armut führt häufiger zu Einsamkeit
Dass Einsamkeit besonders dort anzutreffen ist, wo Menschen arm sind, zeigt
auch eine 2017 veröffentlichte Studie der Universität Hamburg. Es wurde
untersucht, inwiefern Einkommen, Bildung und Erwerbstätigkeit einen
Einfluss auf soziale Beziehungen nehmen. Das Ergebnis: Armut führt häufig
zu sozialer Isolation.
Damit hat Einsamkeit auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Die
Forscher*innen kritisieren die Verlagerung sozialer Unterstützung vom
Staat hin zur Familie – und somit in das Private. „In unserer
individualistischen Gesellschaft beziehen wir unseren Selbstwert zwar
stärker über uns selbst und nicht so sehr über unsere Rolle im sozialen
Netzwerk, wie das in kollektivistischen Gesellschaften der Fall ist“, sagt
Bücker. „Aber das führt auch dazu, dass wir weniger kommunizieren, vermehrt
auf uns selbst schauen und nicht mehr auf unsere Mitmenschen.“
In Großbritannien soll der Regierungsposten mit Verantwortung unter anderem
für Einsamkeit genau dagegen vorgehen. Mit der „Campaign to end loneliness“
wird dazu aufgefordert, fremde Menschen anzusprechen und mit ihnen ins
Gespräch zu kommen. An der Supermarktkasse, in der U-Bahn, im Park.
Laut Premierministerin Theresa May sollen verstärkt ungenutzte Areale zu
Gemeinschaftsorten, wie Community-Cafés, Kunsträume oder öffentliche
Gärten, umgebaut werden. Rund 20 Millionen Britische Pfund werden
bereitgestellt, um ehrenamtliche Gruppen und Communitys zu fördern – vor
allem soziale Aktivitäten wie Kochklassen, Kunstgruppen, Sportkurse.
## „An Einsamkeit sterben Menschen“
Community Building gegen Einsamkeit als Regierungssache – braucht es das
auch in Deutschland? Die Große Koalition diskutiert seit einer Weile über
das Thema. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und auch Marcus
Weinberg, familienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, sind sich
einig, dass sie Einsamkeit zum politischen Regierungsthema machen wollen.
Marcus Weinberg will die traditionelle Kernfamilie wieder stärken, Karl
Lauterbach warnt vor gesundheitlichen Folgen der Einsamkeit: „An Einsamkeit
sterben Menschen.“
Zwar ist Einsamkeit keine Krankheit im eigentlichen Sinn – sie wirkt sich
als psychische Belastung aber auch auf die physische Gesundheit aus.
Insbesondere ein schwächeres Immunsystem, Kopfschmerzen und
Herz-Kreislauf-Probleme sind laut dem Neurologen und Psychologen John
Cacioppo die häufigsten körperliche Symptome der Einsamkeit.
„Es gibt sehr viele Schnittstellen beim Thema Einsamkeit, für die es schon
Ministerien gibt: Familie, Gesundheit, Arbeit“, sagt Einsamkeitsforscherin
Susanne Bücker. Sicher sei es notwendig, dass politisch mehr über
Einsamkeit gesprochen werde – aber auch schwierig. „Es ist ja ein
subjektives Gefühl.“
Statt eines Regierungspostens brauche es ein gutes Gesundheitssystem, das
Einsame auffängt, sagt Bücker. Psychotherapie helfe, aber auch der Kontakt
über Einsamkeitsinitiativen. Noch besser wäre es jedoch, möglichst viele
Menschen würden sich schon früh ein soziales Netz aufbauen, das einen in
Krisenzeiten hält. Ehrenamtliches Engagement oder andere Formen sozialer
Einbindung wirken da präventiv, so die Wissenschaftlerin. „Interventionen
wirken nur dann, wenn sie auf individuelle Bedürfnisse abgestimmt sind.“
## Mira ist pragmatischer geworden
Die Ursachen für Einsamkeit sind komplex – und bei jedem Menschen anders.
Maggie Jakob hat das Aktivwerden aus der Abwärtsspirale befreit.
Mira ist arbeitslos, aber sucht weiter. Zwar sei die Einsamkeit geblieben,
jedoch sei ihr Umgang damit pragmatischer geworden, sagt sie. Mira genießt
den herannahenden Sommer, geht spazieren, trinkt in der Sonne Kaffee und
liest oder besucht Konzerte. Selbst hat sie lange keines gegeben, aber
zuhause macht sie weiter Musik.
* Name geändert. Der echte Name der Protagonistin ist der Redaktion
bekannt.
1 Jun 2019
## LINKS
[1] https://www.tagesschau.de/inland/einsamkeit-103.html
[2] https://twitter.com/search?f=tweets&vertical=default&q=%23KeinerBle…
## AUTOREN
Sarah Ulrich
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